# taz.de -- Experte über Japans Mentalität: "An Naturkatastrophen gewöhnt" | |
> Florian Coulmas, Leiter des Instituts für Japanstudien, über den Umgang | |
> mit der Katastrophe und die Frage, warum es keine starke | |
> Anti-Atombewegung gibt. | |
Bild: An Unglücke gewöhnt: Zwei Japaner im zerstörten Minamisanriku. | |
taz: Herr Coulmas, wie nehmen Sie die Reaktionen der japanischen | |
Bevölkerung auf das dreifache Unglück wahr? | |
Florian Coulmas: In Japan sind die Menschen an Naturkatastrophen gewöhnt. | |
Erdbeben sind hier an der Tagesordnung und Katastrophen gehören zum | |
Lebensgefühl. Das Ausmaß jetzt ist zwar völlig unvergleichbar, aber der | |
Respekt vor den Kräften der Natur und das Bewusstsein, dass so was über | |
einen hereinbrechen kann, sind allgegenwärtig. Das ist meiner Meinung nach | |
die psychologische Folie, nach der die Menschen hier funktionieren. | |
Wie erklären Sie sich diese sehr disziplinierten Reaktionen? | |
In solchen Momenten zeigt sich, dass Japan eine extrem zivile Gesellschaft | |
ist, wo Rücksicht auf den anderen ein hohes Gut ist und als Norm | |
respektiert wird. | |
Was hat Sie bei den Reaktionen auf die Katastrophe am meisten beeindruckt? | |
Wir haben sofort unser Institut verlassen, dessen Haus hin und her wankte. | |
Sobald wir draußen auf der Straße waren, haben wir die Handys aufgeklappt, | |
und auf den dortigen Fernsehkanälen gab es schon die Tsunami-Warnung. In | |
Minutenfrist erfuhren wir, wo war das Beben, wie stark war es. Die | |
Warnsysteme sind unglaublich effizient. Sie haben sicherlich vielen das | |
Leben gerettet. Seitdem hat es praktisch nicht aufgehört zu beben, das | |
letzte Beben hatten wir vor etwa zwei Stunden. | |
Fühlen Sie sich von Regierung und Behörden ausreichend informiert? | |
Ich empfinde die Reaktion der Behörden als völlig angemessen. Die Regierung | |
ist fern vom Katastrophengebiet, in dem die Infrastruktur zusammengebrochen | |
ist. Trotzdem hat sie ohne Verzug gehandelt und alle erdenklichen | |
Hilfsmaßnahmen in Gang gesetzt. Bei einem Küstenstreifen, der über mehr als | |
500 Kilometer verwüstet ist, ist das eine gigantische Aufgabe. | |
Dennoch sind die Informationen der Regierung teilweise widersprüchlich. | |
Mit einem beschuldigenden Zeigefinger auf die Regierung zu zeigen, sehe ich | |
nicht den geringsten Anlass. Die Situation ist unübersichtlich und das | |
reflektiert zum Teil auch die Informationspolitik. Ich habe nicht den | |
Eindruck, dass etwas vertuscht wird. | |
Nach Tschernobyl gab es in Deutschland eine Bewegung für unabhängige | |
Messstellen, weil gegenüber den Angaben der Regierung großes Misstrauen | |
herrschte. Wieso ist das in Japan anders? | |
Die Kernkraft ist in Japan keinesfalls unumstritten, aber in den letzten | |
Jahren hat das Vertrauen in die zu beaufsichtigenden öffentlichen Stellen | |
eher zu- als abgenommen. | |
Japans Anti-AKW-Bewegung findet auf nationaler Ebene kaum statt. Warum | |
nicht? | |
In Deutschland ist die Antiatomkraftbewegung ja quasi der Nachfolger der | |
Apo, der dann später zur grünen Partei wurde. Eine solche Partei ist in | |
Japan nie entstanden, sondern die Bürgerinitiativen verblieben im Großen | |
und Ganzen auf lokaler Ebene, ganz unabhängig vom Thema. Atomkritiker in | |
Japan sind Unabhängige und Alternative, die andere Lebensformen wollen. | |
Wenn Sie in einer Stadt wie Tokio oder Osaka leben, wissen sie, dass diese | |
Lebensform nicht ohne Strom möglich ist. Wenn Sie den per Öl aus dem | |
Mittleren Osten bekommen, sind sie von politischen Schwankungen abhängig. | |
Etwas mehr Autarkie ist also für Japan wünschenswert und das sehen viele | |
so. Japan hat keine Rohstoffe, Windenergie ist schwierig, | |
Gezeitenkraftwerke wegen der vielen Taifune ebenfalls. Deshalb hat der | |
Normalbürger mit der Atomkraft ein Einsehen. | |
Wird die Katastrophe die Einstellung zur Technik negativ verändern? | |
Ich glaube nicht, dass es zu einer stärkeren Infragestellung von Technik | |
kommt. Dass die Stromerzeugung mit Nuklearenergie noch mal diskutiert wird, | |
kann ich mir jedoch vorstellen. Es wird wohl eine starke Fraktion geben, | |
welche die Risikovermeidungstechnologie noch nicht für gut genug hält und | |
Besserungen fordert. | |
15 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Sven Hansen | |
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