# taz.de -- Montagsinterview Flüchtlingsratssprecherin Traudl Vorbrodt: "Ich h… | |
> Traudl Vorbrodt (72) hat jahrelang Asylsuchende beraten. Parallel saß sie | |
> seit 1990 in der Berliner Härtefallkommission. Jetzt zieht sich die | |
> Sprecherin des Berliner Flüchtlingsrates zurück - auch wenn ihr das nicht | |
> leicht fällt. | |
Bild: Traudl Vorbrodt in der Berliner Ausländerbehörde | |
taz: Frau Vorbrodt, kaum jemand hat länger in Berlin Flüchtlingsarbeit | |
geleistet als Sie, allein 20 Jahre saßen Sie in der Härtefallkommission - | |
jetzt hören Sie auf. Allerdings haben Sie Ihren Abschied schon öfter | |
angekündigt … | |
Traudl Vorbrodt: Stimmt nicht! Nur einmal. | |
Sie sind nach der Abschiedsfeier schnurstracks zurück an den Schreibtisch. | |
Warum ist es Ihnen diesmal ernst? | |
Weil es höchste Zeit ist, jungen Leuten und Ideen Platz zu machen. Und weil | |
ich lebensälter geworden bin - nicht nur biologisch, auch seelisch wird die | |
Haut dünner. Ich hab die Arbeit einfach nicht mehr ertragen. Ich konnte mir | |
nicht mehr die schweren Schicksale der Leute anhören und sagen: Tut mir | |
leid, ist nichts für die Härtefallkommission. Auf Wiedersehen, gehen Sie | |
zurück. Oder mich monatelang für ein Aufenthaltsrecht abkämpfen, und dann | |
lehnt die oberste Landesbehörde ab. Und das darf ich dann den | |
Schutzsuchenden mitteilen. | |
Vielen Flüchtlingen haben Sie geholfen. | |
Trotzdem kam zunehmend das Gefühl: Vielleicht hab ich was vergessen | |
vorzutragen? Oder ich habs nicht überzeugend darlegen können, damit es die | |
Behörde glaubt. Vielleicht war schon zu viel Routine drin, so dass meine | |
Gesprächspartner abgegessen waren? Ich bin nachts aufgewacht und hab | |
überlegt: Was hast du beigetragen, dass der oder die jetzt abgeschoben | |
wird? Ich konnte mich nicht mehr lösen. Es waren keine Fälle mehr, ich war | |
zu dicht dran an den Leuten. | |
Wie haben Sie diese Distanz in den Jahren zuvor gewahrt? | |
Weiß ich nicht, es ging eben halbwegs. Ich konnte abschalten, nach einer | |
Beratung relativ problemlos ins Theater gehen. Aber in den letzten zwei, | |
drei Jahren kam schleichend ein schlechtes Gewissen. Wie kannst du jetzt in | |
den Urlaub fahren, während die Leute in Abschiebehaft sitzen? Mit diesen | |
Zweifeln wirst du keinem mehr gerecht. | |
Aber Sie haben sich doch engagiert, jahrelang - andere tun das nicht. | |
Das habe ich mir auch eingeredet, bis es nicht mehr klappte. Hab mir | |
gesagt: Du engagierst dich ja - zeitmäßig, emotional, finanziell. Aber das | |
geht an der Sache vorbei: Nämlich, dass hier über ein Menschenleben | |
fremdentschieden wird. Davon kann ich mich nicht losmachen. | |
Sie haben sich persönlich verantwortlich gefühlt? | |
Das ist wie ein seelischer Schaden. Oder wie man heute so schön sagen | |
würde: Burn-out. | |
In der Härtefallkommission haben Sie mit entschieden, welcher Flüchtling | |
dort angehört wird für eine letzte Chance auf ein Aufenthaltsrecht - und | |
wer nicht. Wie ist das, über andere Menschen zu bestimmen? | |
Eine maßlose Belastung. Sitzen Sie mal hier im Raum und hören sich eine | |
Stunde lang diese tragischen Schicksale an. Und sagen Sie dann, mit | |
deutschem Pass und dickem Portmonee: "Ist nischt, ich kann nichts machen, | |
keine Chance." Wissen Sie, wie sich das anfühlt? | |
Ich kanns mir vorstellen. | |
Schlecht, ganz schlecht. | |
Was sind Ihre Kriterien, sich nicht für einen Flüchtling einzusetzen? | |
Wenn Leute hier auf Dauer bleiben wollen, aber sich nicht | |
eigenverantwortlich organisieren. Eben nischt machen. Das sind meist junge | |
Männer. Ich ärgere mich wie sonstewas, wenn so ein junger Mensch kommt, | |
seit zehn Jahren hier ist und sagt, er habe noch nichts gemacht, weil er ja | |
nicht arbeiten dürfe. Da krieg ich Grieben. | |
Was sagen Sie dem? | |
Ich werde richtig sauer und pädagogisch. Man kann in Berlin für ganz wenig | |
Geld Sprach- und Bildungsprogramme machen, in Museen und Bibliotheken | |
gehen. Das sage ich dem Betroffenen direkt: "Alles nachvollziehbar, was Sie | |
mir erzählen, aber ich kann ihnen nicht helfen, wenn Sie selbst nichts | |
beitragen!" | |
Vielen Flüchtlingen haben Sie einen Aufenthaltstitel beschafft. Können Sie | |
die Fälle noch zählen? | |
Über die Zeit waren das bestimmt ein paar hundert. | |
Macht so was stolz? | |
Es gibt zumindest das Gefühl, etwas in dieser Gesellschaft erreichen zu | |
können. Vielen Flüchtlingen hat die verhinderte Abschiebung das Leben | |
gerettet. | |
Wie sehr haben Sie persönlich die Berliner Flüchtlingspolitik verändert? | |
Ich habe beharrlich darauf hingewiesen, dass die bestehenden | |
Ausländergesetze Einzelfällen nicht gerecht werden. Das war aber nicht nur | |
ich. Zehn Jahre haben wir für die Härtefallkommission gekämpft, für dieses | |
Gnadenrecht. Oder gegen die Abschiebehaft, die es ja leider Gottes immer | |
noch gibt. Und wie lange haben wir darauf gedrungen, dass Flüchtlinge | |
leichter in eigene Wohnungen kommen und sich nicht mehr nur von Sachkosten | |
ernähren müssen. Das sind alles kleine Dinge, aber die sind wesentlich für | |
eine Lebensqualität. | |
Hat sich der Einsatz gelohnt? | |
Vieles hat sich zum Positiven gewandelt. Früher durften Flüchtlingskinder | |
nicht zur Schule gehen, heute gibts eine Schulpflicht. Wir haben für | |
Altfallregelungen gekämpft, jetzt gibt es Bleiberecht. Und in der | |
Bevölkerung hat sich die Stimmung gegenüber Flüchtlingen geändert. Viele | |
sind sensibler geworden, weniger egoistisch. Obwohl man nie vergessen darf, | |
wie wenige Flüchtlinge wir in Berlin haben. | |
Zuletzt sind die Flüchtlingszahlen in Berlin stetig gestiegen … | |
Das ist aber doch alles nichts im Vergleich zu den Neunzigern, wo wir | |
Zeltstädte in der Stadt hatten. Die komplette Deutschlandhalle war voll mit | |
Flüchtlingen! Ich weiß nicht, wie die Bevölkerung reagieren würde, wenn | |
plötzlich wie in Lampedusa 5.000 Flüchtlinge nach Berlin kommen würden. | |
Aber trotzdem: Gerade die jungen Leute sind heute mehr ansprechbar, es gibt | |
eine breite Unterstützerszene in Berlin. | |
Vor zwei Jahren haben Sie für Ihre Arbeit das Bundesverdienstkreuz | |
bekommen. Ihre Dankesrede war eigen: Sie bezeichneten die Verleihung als | |
"einfach unangenehm". | |
Das wars ja auch. Aber ich hab den Preis angenommen, weil ich Mut machen | |
wollte. Weil ich zeigen wollte, dass es sich lohnt, sich auch für | |
Unerwünschte einzusetzen, für Menschen, die Deutschland nicht erträgt. Und | |
das im Interesse des deutschen Volkes, wie es so schön hieß. | |
Teile der Unterstützerszene haben Sie damals kritisiert: Wie kann man eine | |
Auszeichnung von einem Staat annehmen, der so mit Flüchtlingen umgeht? | |
Das hat mich enttäuscht und es enttäuscht mich auch heute noch hin und | |
wieder. Weil ich dachte, die Leute, mit denen ich so lange | |
zusammengearbeitet habe, kennen mich doch. Dass die meckerten, war ein | |
Schnitt. Denn ich bin doch der Meinung, dass wir in einem relativ gut | |
funktionierenden Staat leben. Es stimmt vieles nicht. Aber selbst ich als | |
alte Großmutter kann mich einmischen, ohne dass mir irgendwas passiert. | |
Also Allianz mit den Herrschenden statt Konfrontation? | |
Dialog! Wenn ich etwas ändern will, muss ich mit denen reden, die etwas | |
verändern können. Und das sind die Politiker da oben, die die Gesetze | |
machen. Da kann ich nicht hingehen und sagen: Du vom Schweinesystem, ich | |
verlange dies und das. Dann werde ich nicht mehr gehört und würde ja auch | |
ausgrenzen. | |
In den Siebzigern waren Sie Teil der außerparlamentarischen Opposition, | |
standen neben Rudi Dutschke auf der Straße: Haben Sie die Seiten | |
gewechselt? | |
Das sind doch zwei ganz andere Ebenen. Die APO-Zeit, das Dagegensein, das | |
war der große Rahmen. Bei der Härtefallkommission gehts um individuelle | |
Einzelschicksale. Da ist Gesprächsbereitschaft unabdingbar. | |
Dann bliebe es aber trotzdem die richtige Arbeit im falschen System. | |
Eine bessere Alternative hab ich einfach nicht. Vor 50 Jahren hätte ich ja | |
vielleicht noch gesagt: Lasst uns einen Bauernhof besetzen und dort mit | |
Abschiebebedrohten alternativ leben. Aber das kann ich heute nicht mehr. | |
Sie sind APO-Rebellin, gläubige Katholikin und stammen aus einer sozial | |
stark engagierten Familie. Was hat Ihr Engagement am meisten beeinflusst? | |
Wahrscheinlich ist es ein Konglomerat all dessen. Ich kann einfach nicht | |
stillhalten, wenn ich das Gefühl habe, es werden bestimmten Menschen Rechte | |
vorenthalten, grundlegende Rechte. Es darf einfach keinen Unterschied geben | |
in der Anerkennung des Menschseins. Und da ich Staatsbürgerin bin des | |
Landes, das Gesetze erlassen hat, die das nicht immer respektieren, muss | |
ich mich einmischen. | |
Rührt daher Ihr Lebensmotto: "Nimm nichts einfach so hin"? | |
Das kommt von meiner Großmutter. Ich hatte als Kind Respekt vor Lehrern und | |
hohen Persönlichkeiten. Da hat sie immer gesagt: "Stell dir doch den armen | |
Tor / mal nackich auf dem Töpfchen vor." Das hat geholfen. | |
Interessant. | |
Das war damals die kindliche Ebene, klar. Aber es gilt doch: Wir alle haben | |
irgendwo die gleichen Wünsche, Bedürfnisse, Hoffnungen, auch wenn sie jeder | |
etwas anders entwickelt. Niemand hat das Recht zu sagen, mit dir rede ich | |
nicht, du stehst unter mir. Ich glaube fest an diese Gleichwertigkeit. | |
Weder Sie noch ich sind aus eigener Entscheidung irgendwo freiwillig | |
geboren. | |
Sie haben zudem noch den Krieg selbst erlebt. | |
Das war sicher prägend. Ich weiß noch, was es heißt, wenn Bomben über einem | |
fallen. Ich weiß, was es heißt, im Luftschutzkeller zu sitzen und Angst vor | |
Soldaten zu haben. Ich bin in einem Ort groß geworden, da haben | |
Zwangsarbeiter auf dem Feld gearbeitet. Aber ich hatte eine tolle Familie, | |
die diese armen Menschen ins Haus geholt und sich um sie gekümmert hat. | |
Und da wollen Sie es Ihren Eltern gleichtun? | |
Na ja, ich bin auch unheimlich neugierig. Ich will wissen, was ein anderer | |
denkt und gerne möchte, welche Hoffnungen er hat. Ich bewundere diese | |
Leute, die einfach losziehen mit nischt außer einer Tasche und sagen: Okay, | |
ich guck mal, ob ich in Deutschland einen Aufenthalt kriege. Das würde ich | |
nie schaffen. Ich plane ja schon ewig, wenn ich nur nach Frankreich in den | |
Urlaub fahre. | |
Diese Neugierde könnten Sie auch weniger aufwendig stillen. | |
Das ist ja nicht alles nur reinste Aufopferung. Die Arbeit gibt mir doch | |
auch viel zurück. Viel mehr, als ich einsetze. | |
Das klang vorhin noch anders. | |
Ja, weil ich nach all den Jahren nicht mehr kann. Gleichzeitig aber habe | |
ich unglaublich viel Erfahrung, Menschlichkeit und Zuneigung erhalten. Ich | |
habe überall Freunde, auch wenn einige schon längst wieder in Äthiopien, | |
Togo oder bei den Tamilen sind. Das gibt mir das Gefühl, dass ich wohl nie | |
einsam werde. Dass ich überall Menschen mit einer ganz anderen Kindheit und | |
einer ganz anderen Sprache habe, zu denen ich jederzeit gehen könnte, wenn | |
ich traurig bin oder Hilfe brauche, das empfinde ich als unheimlich toll. | |
Haben Sie nach all den Jahren eigentlich noch Utopien? | |
Es gab Wochen, da hatte ich keine mehr. Da dachte ich, was soll der | |
Quatsch, bringt alles nischt. So langsam entwickele ich sie wieder. Ich | |
habe immer noch die Utopie, dass es mal keine Nationalgrenzen mehr gibt. | |
Dass wir uns alle, bei aller Unterschiedlichkeit, gegenseitig so | |
respektieren, dass niemand mehr erschlagen wird. Dass wir uns Rückzugsorte | |
zugestehen, aber dennoch füreinander öffnen. | |
Klingt nicht nach kurzfristiger Umsetzung. | |
Ein paar weniger Grenzen gibt es heute doch. Ist doch schon was. | |
Haben Sie auch die Vision, dass alle Flüchtlinge einmal in Deutschland | |
bleiben dürfen? | |
Nein. Vielleicht wird es mal die Möglichkeit geben, dass eine offenere | |
Wanderbewegung durch Europa möglich ist. Dass man sich das Land, in dem man | |
leben möchte, selbst aussuchen kann. Ich weiß, vernünftige Leute sagen | |
dann, ja aber das kostet und die sozialen Folgen und was weiß ich. Aber | |
viele der Flüchtlinge wollen gar nicht für immer in Deutschland bleiben, | |
sondern nur eine Zeitlang zur Ruhe kommen und dann weiterziehen. Auf der | |
anderen Seite habe ich die Hoffnung, dass sich die Herkunftsländer so | |
ändern, dass die Leute nicht mehr wegwollen. | |
Machen Ihnen da die Umwälzungen in Nordafrika und den arabischen Staaten | |
Mut? | |
Man muss ja nicht nur dorthin gucken. Aber ich freue mich über jeden | |
Fortschritt dort. | |
Was machen Sie im Ruhestand? | |
Erst mal muss ich zur Ruhe kommen. Wieder Abstand finden von diesem | |
Zwanghaften: Ich muss noch diesen Brief schreiben oder diesen Text | |
nachlesen. Dann werde ich entrümpeln, was sich alles zuhause angesammelt | |
hat. Und ein bisschen arbeite ich ja auch noch, in der Jugendhilfe. | |
Moment, wollten Sie nicht aufhören? | |
Das geht doch nicht von heute auf morgen. Ich kenne ja noch die ganzen | |
Leute, und als Neugierige, die ich nun mal bin, höre ich auch weiter zu. | |
Aber ich bin dabei, mich zurückzuziehen. Ich muss jetzt einsehen, dass es | |
nicht mehr nur auf mich ankommt. | |
21 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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