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# taz.de -- Bildungsstreit in Baden-Württemberg: Der Kampf um die Kleinstschul…
> Drei Gemeinden streiten sich um 24 Schulkinder. Die Regierung möchte die
> Kleinstschulen schließen, die Schüler in den nächsten Ort schicken. Doch
> die Bürgermeister kämpfen.
Bild: Die Gemeinde Kusterdingen hat vor dem Verwaltungsgericht recht bekommen: …
KUSTERDINGEN/WANNWEIL/KIRCHENTELLINSFURT taz | "Revolutionen verändern die
Welt" steht über den Wandzeitungen der Neuntklässler. "Der Fall der
Berliner Mauer war ein hystorischer Moment", schreibt einer. Auf ein
zweites Blatt ist ein Zeitstrahl gezeichnet, neben dem Balken 2011 hat
jemand mit Tinte vermerkt: "Tunesien, Ägypten". Ein Lehrer kommt und
ergänzt: Libyen.
Auf den Härten von Kusterdingen steht die Grund-, Haupt- und
Werkrealschule. Ruhig, friedlich, freundlich geht es zu.
Nirgendwo, so scheint es, ist man weiter von Umbrüchen und Revolutionen
entfernt als hier im Südwesten der Republik. Die Baden-Württemberger sind
die Klassenstreber der Nation, sie schneiden in jedem Bildungsvergleich
glänzend ab, die Jobsuche ist unproblematisch bei 5 Prozent
Arbeitslosigkeit.
Doch der Schein trügt. Hier im Tübinger Regierungsbezirk streiten drei
Gemeinden wechselseitig und mit dem Land um ihre Schüler. Die 38
Kusterdinger Werkrealschüler verteilen sich auf fünf Klassenzimmer, jedes
einzelne von ihnen für über 30 Schüler bestuhlt. Die Zeiten als die Stühle
alle besetzt waren, sind längst vorbei.
## Landesregierung: Kleinstschulen nicht überlebensfähig
Kleinstschulen wie die in Kusterdingen sollen nach Vorstellung der
Landesregierung auf Dauer nicht mehr überlebensfähig sein. Die Schüler
sollen spätestens ab Klasse 8 ins benachbarte Kirchentellinsfurt zum
Unterricht fahren. Die Gemeinde Kusterdingen will ihre Schüler aber
behalten. Sie hat gegen das baden-württembergische Regierungspräsidium
geklagt und im Dezember vor dem Verwaltungsgericht recht bekommen; seitdem
ist die Stimmung gereizt zwischen Kusterdingen und dem Land, aber auch
zwischen Kusterdingen und den Nachbargemeinden Kirchentellinsfurt und
Wannweil.
Die schwarz-gelbe Regierung hat gegen das Urteil umgehend Berufung
eingelegt - die Lokalzeitungen nennen die drei Gemeindeoberhäupter seitdem
Werkrealschulrebellen. Weil und ein obrigkeitsstaatliches Durchgreifen vor
der Landtagswahl negativ bei den Wählern ankäme, sucht man nach
Kompromissen.
Die Frage, die es zu lösen gilt, ist höchst kompliziert: Wie sollen zwei
Dutzend Schüler, die pro Jahr für die Werkrealschule bestimmt sind, also
für das "Basismodell" im dreigliedrigen Schulsystem Baden-Württembergs, auf
drei Gemeinden so verteilt werden, dass jede Gemeinde ihre Oberschule
behält?
Modelle, die anmuten wie Rätsel für Hobbymathematiker, haben die Gemeinden
und das Land ersonnen und verworfen. Wer sie kapieren will, muss wissen,
dass a) das dreigliedrige Schulsystem in Baden-Württemberg heilig ist, b)
die Werkrealschule zur Rettung der Hauptschule vor einem Jahr neu erfunden
wurde und c) das Regierungspräsidium die Schulpolitik direkt lenkt.
"Wir werden das differenzierte Schulsystem nicht aufgeben, es hat sich
bestens bewährt", sagt Stefan Mappus, CDU-Ministerpräsident
Baden-Württembergs. "Die Weiterentwicklung der Hauptschule war ein voller
Erfolg. Sie findet die Akzeptanz der Eltern und der Wirtschaft." Mappus
redet auf der Bildungskonferenz der kommunalen Landesverbände. Seine
Herausforderer, SPD Fraktionschef Claus Schmiedel und
Grünen-Spitzenkandidat Winfried Kretschmann nehmen die Bälle nicht auf, die
Mappus ihnen zuwirft. Wenn auch in ihren Wahlprogrammen das gemeinsame
Lernen bis Klasse 9 und Gemeinschaftsschulen stehe, hier wollen sie die
Reaktion darauf nicht testen. Knapp 1.000 Gemeindevertreter sind
zusammengekommen und hören Mappus respektvoll zu. Die Botschaft ist
angekommen.
Draußen vor der Tür sind sie weniger folgsam: "Wir verfolgen diesen
Rechtsstreit", sagt ein Gemeindevertreter. "Wenn die damit durchkommen,
dann hängen wir uns mit dran." Das heißt: Dann bleibt die Schule im Dorf.
## Schulsterben steht bevor
Es gibt nämlich einen Haken bei der Fortschreibung der Hauptschule zur
Werkrealschule: Die neuen Werkrealschulen sollen pro Jahr zwei neue Klassen
aufnehmen. Nach Auskunft des Regierungspräsidiums gibt es derzeit noch 370
einzügige Hauptschulen. Ein großes Schulsterben steht bevor.
Als die Werkrealschule eingeführt wurde, waren die besagten drei
Gemeindeoberhäupter noch optimistisch, aus ihren drei Hauptschulen zwei
Werkrealschulklassen machen zu können. Das "Bürgermeistermodell" war
geboren: Wannweil und Kirchentellingsfurt teilen sich eine der beiden
Werkrealschulklassen, Kusterdingen bekommt die andere Klasse. Aber der
Exodus der alten Hauptschule geht auch unter einem neuen Label weiter. Aus
Kirchentellinsfurt (5.600 Einwohner) sind acht Schüler in diesem Schuljahr
für die Werkrealschule angemeldet, aus Wannweil (5.000 Einwohner) kommen
zwölf, und in der Gemeinde Kusterdingen (8.000 Einwohner) bilden sechs
Schüler die Klasse 5.
"Es gibt eigentlich nicht mal mehr genug Schüler für eine Klasse", stellt
der Kirchentellinsfurter Bürgermeister Bernhard Knauss nicht ohne
Bitterkeit fest. Knauss ist auf Bitte von Kollegin Anette Rösch in
Wannweil. "Bernhard, ich nehm deinen Mantel." Sie kennen sich, sie können
gut miteinander.
Rösch leitet seit 17 Jahren die Geschicke von Wannweil, Knauss ist fast
doppelt so lange in Kirchentellinsfurt im Amt. "Wer sich als Bürgermeister
ordentlich aufführt und seine Pflicht tut, wird immer wiedergewählt", sagt
er und nickt dazu.
Hier im Neckar-Tal sichert das Gewerbegebiet im Tal die Einnahmen, und die
Professorenvillen auf den Hügeln heben das Bildungsniveau. Mehr als die
Hälfte der Oberschüler fährt jeden Morgen mit Bus oder Bahn nach Tübingen
oder Reutlingen und in eines der dortigen Gymnasien.
Die Realschule von Kirchentellinsfurt schluckt noch einmal einen Schwung,
die Werkrealschule ist eigentlich überflüssig. "Es funktioniert nur, wenn
sich die Schulen aller drei Gemeinden zusammenschließen", sagt Anette
Rösch. Sie presst die Lippen entschlossen aufeinander. Aber der
Kusterdinger Bürgermeister, der Dr. Soltau, wie sie ihn im Wannweiler
Rathaus distanziert nennen, beharrt weiter auf zwei getrennten Standorten -
und das vor Gericht. Wannweil/Kirchentellinsfurt und der Dr. Soltau sind
seither über Kreuz.
Im Rathaus von Kusterdingen hängen die Amtsvorgänger. Man fragt sich, ob
der Dr. Soltau auch pflichtbewusst guckt und zu welcher Seite der Scheitel
gekämmt ist. Jürgen Soltau, so stellt sich heraus, hat kurze Haare und
Dreitagebart. Er macht Witze über die Schwaben. "Wer hat den Kupferdraht
erfunden? - Zwei Schwaben, die sich beide nach einem Kupferpfennig
bückten."
Er legt den Vertrag, mit dem die Bürgermeister Anfang 2010 ihren Pakt
besiegelt haben, auf den Tisch - drei Unterschriften für das
Bürgermeistermodell. "Ich hatte wirklich gedacht, wir fechten das zusammen
aus." Er lächelt nun nicht mehr.
Soltau ist dennoch entschlossen, dem Land weiter vor Gericht zu trotzen.
Sein Gemeinderat steht geschlossen hinter ihm: "Bildung ist ein wichtiger
Standortfaktor."
Im Werkrealschulstreit geht es weder um Pädagogik noch um Bildungschancen,
es geht um Strukturpolitik.
Ein Rebell ist Soltau nicht. Er käme nie auf die Idee, die Hauptschule ganz
abzuschaffen und die Grundschüler nach Klasse 4 gemeinsam weiter zu
unterrichten, wie es 2007 ein Trupp von Hauptschulrektoren, die
"oberschwäbischen Rebellen", forderten. "Das wäre ja eine Gesamtschule, das
dürfen Sie nur in negativem Zusammenhang schreiben, sonst spitzen die in
Stuttgart gleich die Ohren."
Um die Werkrealschulen in Kirchentellinsfurt und Kusterdingen zu besuchen,
bedarf es einer Genehmigung des Regierungspräsidiums. Da es sich um ein
schwebendes Verfahren handele, dürfen Lehrer und Schüler auch nicht
interviewt werden. Aber Brunhilde Georges, Schulleiterin des Schulverbundes
in Kirchentellinsfurt und der Werkrealschulaußenstelle in Kusterdingen,
darf sprechen.
## Ende der Hauptschule unwahrscheinlich
Ob die Werkrealschule eine Zukunft hat? Sie überlegt nicht lange: "Die
Eltern meiden alles, was nach Hauptschule riecht. Das Fernziel aller Eltern
sind das Abitur und der Hochschulabschluss für ihre Kinder", sagt die
Rektorin, während sie ihren Wagen zum Kusterdinger Außenposten steuert. Das
gelte auch für ihre Werkrealschüler, die meisten von ihnen türkischer
Herkunft. "Die sind oft sehr ehrgeizig, der einzige Nachteil, den sie
haben, ist, dass ihre Eltern ihnen nicht so viel helfen können wie unsere
Eltern."
Dass sie das Ende der Hauptschule bis zur Pensionierung noch erleben wird,
bezweifelt sie allerdings: "Wir sind hier in Baden-Württemberg, da ist die
Dreigliedrigkeit Gesetz." Rösch könnte sich schon vorstellen, dass aus
Werkreal- und Realschule in nicht allzu ferner Zukunft eine Schule wird.
"Natürlich wird sich unter der jetzigen Regierung nichts ändern", sagt die
Wannweiler Bürgermeisterin schnell. Aber das sei doch schon ein echter
Fortschritt, dass die Werkrealschüler nun unter dem Dach der
Kirchentellinsfurter Realschule lernten. Und sagt mehr zu sich selbst:
"Wenn sich mal was ändert, dann sind wir gerüstet.
Am Sonntag wird in Baden-Württemberg gewählt. Manchmal ist die Revolution
ja schneller da, als man ahnt.
23 Mar 2011
## AUTOREN
Anna Lehmann
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