# taz.de -- Risikoberuf Linienrichter: In der militarisierten Zone | |
> Der ehemalige Referee Urs Meier im Gespräch über die Zumutungen an der | |
> Seitenlinie, den Spielabbruch von St. Pauli und die guten Manieren | |
> englischer Fußballfans. | |
Bild: Ständig unter Druck: Linienrichter im Bundesligalltag. | |
BERLIN taz | Dass Linienrichter besonderen Belastungen unterliegen, das | |
weiß Urs Meier. Der ehemalige Referee aus der Schweiz, der Dutzende Partien | |
in der Champions League geleitet hat und als Experte im deutschen Fernsehen | |
aufgetreten ist, erinnert sich mit Grausen an ein Spiel zwischen dem AC | |
Mailand und KV Mechelen im Europapokal der Landesmeister in der Saison | |
1989/1990. Meier stand an der Linie. Sein Laufpensum war überschaubar, es | |
passierte nichts Schlimmes, "aber trotzdem war ich sowas von fertig | |
hinterher", erinnert er sich im Gespräch mit der taz, "ich hatte Kopfweh, | |
psychisch war ich total ausgelaugt. Wenn man den Job einmal selber gemacht | |
hat, dann weiß man, was die leisten." | |
Meiers Kollege Thorsten Schiffner, der am Freitag in der Bundesliga beim | |
Skandalspiel zwischen St. Pauli und dem FC Schalke 04 als Assistent des | |
Schiedsrichters im Einsatz war, klagte nach der Partie auch über | |
Kopfschmerzen. Allerdings hatten sie eine andere Ursache. Schiffner hatte | |
zwei Minuten vor dem Ende der Partie einen Bierbecher in den Nacken | |
bekommen. Er war offensichtlich von einem Pauli-Fan geschleudert worden. | |
Das Opfer der Wurfattacke ging zu Boden. Schiedsrichter Deniz Aytekin brach | |
das Spiel beim Stand von 2:0 für Schalke ab. "Er hatte keine andere | |
Möglichkeit", sagt Meier, "Schiedsrichter-Assistenten dürfen kein Freiwild | |
sein, sie müssen unter allen Umständen geschützt werden." Dabei spielte es | |
auch keine Rolle, dass nur noch 120 Sekunden in Hamburg zu spielen waren. | |
Als Meier noch nicht zur europäischen Elite der Unparteiischen zählte, da | |
musste auch er den eher ungeliebten Posten an der Seitenlinie beziehen und | |
ab und an mit dem Fähnchen winken. In dieser Zeit sei er bespuckt und mit | |
Bier überschüttet worden – "das alles habe ich auch erlebt". Fast jeder | |
Schiedsrichter kann diese Geschichten erzählen: wie er Schmähungen und | |
wüste Beschimpfungen wegstecken muss, wie er zur Zielscheibe wird, wie man | |
Feuerzeuge und Münzen nach ihm wirft. | |
"Der Linienrichter ist ein leichtes Ziel. Er bewegt sich nicht groß und | |
steht nah an den Rängen", sagt Meier. An ihm reagieren sich die Fans ab, | |
wenn eine Abseitsentscheidung nicht nach ihrem Gusto ausfällt. In den | |
modernen Arenen wird es den Aggressoren auch denkbar leicht gemacht: Eine | |
Pufferzone gibt es nicht mehr. Mit dem Wegfall der Tartanbahn in reinen | |
Fußballstadien haben es aufgebrachte Fans leicht, den Linienrichter zu | |
bewerfen. Aber liegt es nur an der günstigen Gelegenheit? "Nein", sagt | |
Meier, in England sei man dem Linienrichter ja schon immer auf die Pelle | |
gerückt. "Dort gibt es aber auch eine besondere Fankultur, wo jeder den | |
anderen kontrolliert", glaubt Meier. | |
Als Linienrichter Kai Voss vor gut vier Jahren in einem DFB-Pokalspiel | |
einen Bierbecher abbekam, sagte er danach in einem Interview: "Ich habe | |
einen Schlag, einen Stoß gespürt. Die Intensität war wie ein Faustschlag in | |
den Wirbelsäulenbereich. Ich war bewusstlos. Wie lange ich bewusstlos war, | |
kann ich nicht bestimmen." Das Spiel zwischen den Stuttgarter Kickers und | |
Hertha BSC Berlin (0:2) wurde in der 81. Minute abgebrochen. Die Parallelen | |
zum Fall vom Freitag sind deutlich. | |
Urs Meier findet, es habe in der letzten Zeit eine Häufung dieser Vorfälle | |
gegeben, auch in der Schweiz, dem Heimatland des Ex-Schiris. Er ist für | |
eine harte Bestrafung des Vereins und der Täter. Der Kontrollausschuss des | |
Deutschen Fußball-Bundes (DFB) hat bereits die Ermittlungen aufgenommen; | |
St. Pauli muss mit einer hohen Geldstrafe und weiteren Sanktionen rechnen. | |
Als Tatverdächtiger gilt ein 43-Jähriger, der im Stadion gestellt und | |
vorübergehend festgenommen wurde. | |
Wie dem Treiben beizukommen wäre, weiß Urs Meier nicht so recht. Verbal | |
attackierten Linienrichtern empfiehlt er, auf Durchzug zu schalten. Er habe | |
das damals jedenfalls so gehalten. Man glaubt ihm gern, dass er heilfroh | |
gewesen ist, von der Linie wegzukommen. Einsätze als Hauptschiedsrichter | |
gefielen ihm besser. "Mir war es schon recht, dass ich auf dem Feld | |
gestanden bin", sagt Meier, sozusagen in der entmilitarisierten Zone. Im | |
Mittelkreis schlagen nun mal keine Wurfgeschosse ein. So weit schaffen es | |
selbst die erregtesten Fans nicht. | |
4 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Markus Völker | |
## TAGS | |
Fußball-Bundesliga | |
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