# taz.de -- Die Entdeckung des Internets: Meine elektronischen Weltkontakte | |
> Als das Neue wirklich noch neu, toll und auch anstrengend war. Der erste | |
> Computer, die erste Mail, das erste Blog – ein subjektiver Rückblick auf | |
> die digitale Medienrevolution. | |
Bild: Krasse neue Medienwelt. | |
Meinen ersten Computer hatte ich mir Ende der achtziger Jahre gekauft. Mit | |
Drucker kostete er in etwa 2.000 Mark und war für mich eine verbesserte | |
Schreibmaschine. Dass man als Student und Schreiber nun unbedingt meinte, | |
einen Computer haben zu müssen, hatte viele Nachteile. Selbst mit einem Job | |
auf dem Bau verdiente man höchstens 12,50 Mark in der Stunde. Um einen | |
Computer zu kaufen, musste man also an die 200 Stunden arbeiten. Außerdem – | |
so kam es mir jedenfalls vor – versaute das Schreiben mit dem Computer den | |
Stil und das Denken. Paul Virilio schrieb zu dieser Zeit, der Computer | |
würde das Schreibverhalten "synthetisieren". | |
Das Neue war aber toll. Und die Produktionsbedingungen waren für freie | |
Autoren eigentlich auch noch ganz gut, denn man musste die beschriebenen | |
Floppy-Discs ja noch zur Zeitung bringen, was die Gefahr der Vereinsamung | |
milderte. Und weil alles noch nicht so durchcomputerisiert war, blieb viel | |
Zeit für menschliche Kontakte. | |
1992 ging der Computer kaputt und ich besorgte mir in Berlin-Moabit, beim | |
Exfreund meiner damaligen Freundin, einen gebrauchten Apfellaptop. Zuvor | |
hatte ich nicht gewusst, dass es verdienstvoll war, einen Apple zu | |
besitzen, und verächtlich, mit einer "Dose" zu arbeiten, genoss es aber | |
sehr und fand es auch schön, tolle Programme zu haben – der Vorbesitzer war | |
Filmregisseur –, mit denen ich nichts anfangen konnte. | |
Mitte der neunziger Jahre gab dieser schöne, anthrazitfarbene Laptop seinen | |
Geist auf. Der Datenverlust – vor allem Tagebuchaufzeichnungen der | |
Wendezeit – war beträchtlich. Ich war komplett verzweifelt, knallte mich | |
ein paar Tage weg, und alles war ganz schrecklich. | |
Mit dem nächsten Computer, einem eleganten, anthrazitfarbenen Macbook, | |
begann mein Internetzeitalter. Was zuvor nur eine stark verbesserte | |
Schreibmaschine gewesen war, war plötzlich mit der Welt verbunden. | |
Im Grunde genommen hatte mein elektronischer Weltkontakt aber schon zwei | |
Wochen früher begonnen. Eine Leserin – sie hieß Mi – hatte der taz einen | |
elektronischen Leserbrief geschickt, in dem sie sich beklagte, dass ich zu | |
wenig schriebe, und sich besorgt nach meinem Befinden erkundigt. | |
## Wir trafen uns IRL | |
Ich hatte ihre Mail aufgeregt am Computer meines Nachbarn, eines scheuen, | |
hochgebildeten Slawisten, beantwortet. A. war dann ein paar Wochen | |
sozusagen ein Liebesbote, der mir Mis Mails brachte und von dessen Computer | |
ich meine Antworten absandte. | |
Schreibend verstanden wir uns gut und überlegten dann lange hin und her, ob | |
wir uns auch "IRL" treffen wollten. Was wir dann auch taten. | |
Mi stand auf HipHop, hatte ein entspanntes Verhältnis zu Drogen, war | |
humorvoll mit Hang zu Helge Schneider, ein bisschen nerdisch mit | |
feministischen Tendenzen. Sie las Emma und die taz auch deshalb, weil sie | |
beides so schrullig fand. Sie erklärte mir jedenfalls das Internet, zeigte | |
mir Avantgardistisches und auch ein paar Hinterhöfe. | |
Damals bestand das Internet vor allem aus Pornobildern, Drogen, | |
Kunstprojekten, Chats, Napster und abweichenden Meinungen. Weil sie mir | |
alles erklärt hatte, tat ich ihr Kürzel mit in meine Mailadresse. Als | |
Provider wählte ich Snafu, weil das progressiv war und zum Macbook passte. | |
Kurz nachdem ich mir meinen Laptop gekauft hatte, kaufte sie einen | |
ähnlichen, der nur zwei Nummern besser und in Farbe war. Und dessen | |
Oberfläche sie voller Begeisterung sehr schick und individuell gestaltete. | |
Mit diesem Laptop lernte ich jedenfalls das Internet kennen. Das taz-Archiv | |
und ein paar Freunde versorgten mich mit interessanten Adressen. Ich guckte | |
mit schlechtem Gewissen Pornobilder, chattete unter unterschiedlichen | |
Nicks, machte mich mit mehr oder minder durchgeknallten amerikanischen | |
Verschwörungstheorien vertraut, las Rainald Goetz' "Abfall" und lud ein | |
paar Lieder bei Napster herunter, was oft tagelang dauerte. Ich ging nicht | |
mehr so oft zur taz, weil man ja nun alles mailen konnte. Außerdem wollte | |
ich einen Roman schreiben, was leider nicht klappte. | |
Meine Telefonrechnungen in dieser Zeit waren gigantisch. Meine | |
Lieblingsadressen waren paranoia.com, klubradio.de, jordi.org, deleuze.net. | |
Am meisten Spaß machte es aber, 1998 im Winter war es wohl, sich im | |
Thinktank von Chance 2000 mit verschiedenen Intellektuellen über Fragen von | |
Politik, Kunst und Repräsentation, glaube ich, zu unterhalten. | |
## Mein erster Farbcomputer | |
Den nächsten Computer, einen blauen iMac, meinen ersten Farbcomputer, hatte | |
ich mir Anfang 2000 vor allem angeschafft, um die erste "Big | |
Brother"-Staffel im Netz zu beobachten. Bekanntermaßen gab es jeden Tag im | |
Fernsehen ja nur eine einstündige Zusammenfassung zu sehen, während man im | |
Internet 23 Stunden hintereinander beobachten konnte, wie Zlatko, Jürgen, | |
Manu, John, Andrea, Sabrina, die kleine Jona und die anderen so miteinander | |
interagierten. Es gab auch ein paar kluge Blogs, die das alles wie ich | |
analysierten. Wir waren jung, sahen gut aus und guckten "Big Brother". Die | |
Bilder waren verpixelt und froren manchmal auch ein – und am | |
interessantesten war es, "Big Brother" in den Momenten zu gucken, in denen | |
eigentlich nichts, also das Normale geschah. | |
Mit Hilfe meines tollen Computers gehörte ich für ein halbes Jahr zu den | |
oberen Top-Ten-Experten der "Big Brother"-Hermeneutik. Später ging die | |
Sendung dann ja leider falsche Wege. | |
Außerdem spielte ich monatelang Nanosaur, Bugdom, Schach und Mahjong, fuhr | |
Nascar-Rennen, war oft Gast in amerikanischen Chats, guckte umsonst | |
Amateurpornobilder in Farbe, verfolgte die linksfeministischen | |
"Netporn"-Diskurse (das war eine Weile ein kulturwissenschaftliches | |
Modethema mit tollen, u. a. bei b-books veröffentlichten Aufsätzen), | |
testete diverse Schreibprogramme (z-write!, pony-notebook!), hörte | |
Radioprogramme aus Finnland und Thailand, las den Guardian, die Bangkok | |
Post und die Dope-am-Sonntag und schrieb natürlich auch noch. | |
Oft war ich internetsüchtig und ganz verzweifelt. Das Seltsame am Internet | |
ist ja, dass es gleichzeitig das Stubenhockertum und den Weltkontakt | |
fördert. Und gleichzeitig – das fiel mir in den ersten Monaten von YouTube | |
auf – hat es so viele nostalgische Aspekte: wenn man stundenlang | |
irgendwelche Rockpalastauftritte von Grateful Dead zu Ende guckt, bei denen | |
man als Jugendlicher betrunken eingeschlafen war, oder mit aus dem Netz | |
heruntergeladenen Flipperautomaten (mit Originalgeräuschen) spielt, mit | |
denen man schon große Teile seiner Jugend verdaddelt hatte. | |
Vermutlich weil ich viel zu viel Zeit an diesem Computer verlor, mochte ich | |
ihn nicht richtig. Eigentlich sah er auch bescheuert aus, wie ein | |
Spielzeug. Laptops waren mir sowieso lieber. | |
Meine Schwester lieh mir Geld, und ich kaufte mir ein neues Macbook. Es sah | |
gut aus, ich fand es super, auch wenn die erste Festplatte schon nach einem | |
halben Jahr – wie immer mit Datenverlust – Schrott war. | |
## Plötzlich konnte man auch fernsehen | |
Medientechnisch war es eine Revolution. Es war geheimnisvoll und großartig, | |
sich die "Twin Peaks"-DVD auf dem Laptop anzuschauen, "Southpark", "Herr | |
Rossi sucht das Glück" oder Fußball im Internet zu gucken; die | |
Onlinemusikhändler waren inzwischen so gut bestückt, dass man nun Sachen | |
wiederfand, nach denen man jahrelang gesucht hatte. Plötzlich konnte man | |
auch fernsehen. | |
Ich startete einen Blog und las selber viele; den von Rainald Goetz und | |
meinen Lieblingsblog [1][Beton & Garten]. Ich begann den Laptop als | |
normales Multimediamedium zu nutzen. Die Computersucht nahm ab mit dem | |
Alter. Die Gegenwart wurde – über soziale Netzwerke und YouTube – | |
schmerzlich gegenwärtig, wenn man sich Videos aus Libyen oder Japan | |
anschaute oder auf ständig aktualisierten Nachrichtenseiten hängen blieb. | |
Gespenstisch kommt einem immer noch vieles vor. Als ich zum ersten Mal mit | |
der Playstation im Internet Autorennen fuhr, kamen plötzlich Stimmen aus | |
dem Fernseher raus, die sich auf Arabisch miteinander unterhielten. Als ich | |
sah, dass einer der Mitspieler HTLR95 hieß, verließ ich sofort den Kanal. | |
8 Apr 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://balkon-garten.blogspot.com/ | |
## AUTOREN | |
Detlef Kuhlbrodt | |
## TAGS | |
Technik | |
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