# taz.de -- Pflege von Demenzkranken auf dem Land: Herr Doktor ist jedes Mal en… | |
> Die Zahl der Demenzkranken steigt. Ihre Familien sind oft überfordert. | |
> Die Diakonie will die Nachbarschaftshilfe stärken. Doch Scham steht dem | |
> oft im Weg. | |
Bild: Hilfe wird selten angenommen. Ein Pfleger hält einer Demenzkranken die H… | |
NEUSTADT AN DER ORLA taz |Der ehemalige Bürgermeister in Windeln, dieses | |
Bild mochten die Angehörigen nicht einmal ihrem Pfarrer offenbaren. Und so | |
verrammelten sie flugs seine Zimmertür im Obergeschoss des geräumigen | |
Gehöfts, in der Hoffnung, der alte Herr, verwirrt und verwahrlost, möge | |
zumindest nicht randalieren, solange der evangelische Superintendent | |
Ralf-Peter Fuchs in der Stube im Erdgeschoss zu Besuch war. | |
Um die Demenz ihrer Mutter zu verbergen, schnallte im Nachbardorf eine Frau | |
die 90-jährige Dame ans Bett, wenn der Geistliche zum Hausbesuch kam. Die | |
Mutter, entschuldigte sie sich, erkenne nicht einmal mehr die eigene | |
Familie, sie leide unter Angstzuständen, sie schlage um sich. Sie laufe | |
weg. Die Tochter weinte. | |
Etwas tun gegen die Scham. Hat Ralf-Peter Fuchs gedacht damals, zwei Jahre | |
ist das her. Nicht länger [1][warten auf die Politik] oder sonst wen. | |
Sondern selbst anpacken. Bewusstsein schaffen. Hilfe organisieren, Nachbarn | |
mobilisieren, die Familien entlasten, und sei es nur stundenweise. | |
Wegsperren daheim ist keine Option, zusätzliche Pflegeheime oder -dienste | |
aber wird keiner finanzieren, die Sozialkassen sind leer, und es gibt ja | |
nicht einmal mehr junge Leute im Saale-Orla-Kreis, Ostthüringen, die sich | |
überhaupt interessieren würden für eine Ausbildung als Pfleger. Die sind | |
nämlich alle abgewandert oder auf Montage in Bayern oder Baden-Württemberg. | |
Nur die Alten werden immer mehr. Und müssen sich folglich gegenseitig | |
helfen. Von allein wird sich das Problem nicht lösen, das hat Ralf-Peter | |
Fuchs sofort gewusst, damals vor zwei Jahren. Und heute? | |
## Stress tut nicht gut | |
Neustadt an der Orla, ein strahlend klarer Tag an der Schwelle zum | |
Frühling. Schiefer und Fachwerk, Hügel und Talsperren, es sieht aus wie im | |
Freiluftmuseum, eine menschenleere Landschaft 30 Kilometer südöstlich von | |
Jena, dazwischen DDR-Gewerbebrachen, auf denen Zwergziegen grasen, und am | |
Ortsausgang, direkt neben dem Friedhof, die "Seniorenpflege am Gries" der | |
örtlichen Diakonie. | |
Ralf-Peter Fuchs, 50, sitzt im Besprechungszimmer, neben ihm der Leiter des | |
Pflegeheims, die Geschäftsführerin des Diakonievereins und die Beauftragte | |
für Sozialpolitik der Diakonie Mitteldeutschland. Die vier sind so etwas | |
wie das Herzstück des "Netzwerks Nachbarschaftshilfe Demenz", das Fuchs | |
2009 ins Leben gerufen hat, als dritte, ehrenamtliche Säule neben | |
stationärer und ambulanter Profipflege. "Wir gehen sehr kleine Schritte", | |
sagt der Pfarrer. Es klingt nicht nach Entschuldigung, eher nach Erklärung. | |
Sechs Abendveranstaltungen haben die vier in den umliegenden Gemeinden in | |
den vergangenen 24 Monaten durchgeführt, um den Menschen die Angst vor dem | |
Umgang mit Dementen zu nehmen. Und natürlich, um Ehrenamtliche für die | |
stundenweise Betreuung demenzkranker Nachbarn zu werben. Um zu verstehen, | |
was Erfolg bedeutet, wenn man ein solches Projekt auf dem Land anschiebt, | |
"wo verschwiegen, weggeschaut, tabuisiert und einander misstraut wird", wie | |
Ralf-Peter Fuchs sagt, muss man sich den Pfarrer vorstellen wie einen | |
euphorisierten Redner auf einer Großdemonstration, wenn er jetzt ruft: "Da | |
waren zum Teil 20, 30 Leute!" | |
## Unbeschäftigte Helfer | |
Leute wie Hannelore Risch, 62 Jahre, eine Frau, die zupackt, zu DDR-Zeiten | |
als Werktätige der Agrochemie, später in den Verkaufsabteilungen diverser | |
Unternehmen tätig, und dann, Anfang 2010: arbeitslos. "Ich kann doch nicht | |
einfach zu Hause herumsitzen." | |
Kinder hüten wollte sie, aber weil Tagesmütter gerade nicht in die | |
ostthüringische demografische Bedarfsplanung passten, begeisterte sich | |
Hannelore Risch eben für Demenzkranke. Lernte, dass die [2][Krankheit in | |
drei Phasen verlaufe], zunächst innerer Stress aufgrund der wachsenden | |
Vergesslichkeit, dann, in Phase zwei, zunehmende Verwahrlosung, | |
Weglauftendenzen, manchmal Aggressionen und schließlich, weil Demenz nichts | |
anderes bedeutet, als dass das Gehirn sich zersetzt: der Verlust sämtlicher | |
Körperfunktionen. | |
Sie erfuhr, dass Demente aus ihrer Welt nicht mehr hinauskönnten, sie als | |
Gesunde aber in ihre Welt eintauchen könne. Und dass Stress, beispielsweise | |
bedingt durch einen Wohnortwechsel oder permanentes Anschreien durch | |
überforderte Betreuer, den Krankheitsverlauf beschleunige. Also zu | |
vermeiden sei. "Ich bin kein ängstlicher Typ", sagt Hannelore Risch. | |
Spazieren gehen, Volkslieder singen, basteln, Mensch ärgere dich nicht | |
spielen, Geschichten vorlesen - Hannelore Risch hatte viele Ideen, wie sie | |
mit den alten Menschen ein paar nette Stunden verbringen könnte. Stunden, | |
die die Angehörigen für sich nutzen könnten. Dachte sie. | |
Allein: Gebucht hat sie niemand bisher, ein ganzes Jahr lang nicht. Sobald | |
es darum ging, Hannelore Risch, die Fremde, in die eigenen vier Wände zu | |
lassen, machten die potenziell Interessierten einen Rückzieher. Diese | |
Reaktion erlebten übrigens alle freiwilligen Helfer aus Neustadt und | |
Umgebung bislang. Also unterstützt Hannelore Risch jetzt erstmal | |
ehrenamtlich das Team im Pflegeheim Am Gries, einen Nachmittag pro Woche, | |
wenn sie es einrichten kann. | |
Der "Herr Doktor" ist jedes Mal aufs Neue entzückt, Hannelore Risch | |
kennenzulernen, sein Titel gehört zu den wenigen Dingen aus seinem Leben | |
vor der Demenz, an die er sich erinnern kann. Er irrt immer öfter durch die | |
Gänge des Pflegeheims, und wenn Hannelore Risch ihm dabei begegnet wie | |
jetzt, dann sagt sie zuvorkommend: "Herr Doktor, möchten Sie in Ihr Zimmer? | |
Kommen Sie, ich mache Ihnen die Tür auf." Darauf der Doktor, charmant | |
lächelnd: "Ach, da wissen Sie mehr als ich!" | |
Diese Gesprächsführung, sagt Hannelore Risch, habe sie lernen müssen. "Wenn | |
ich stattdessen fragen würde: ,Hallo, Herr Doktor, wo wollen Sie denn hin', | |
würde ihm das bloß die eigene Desorientierung vor Augen führen und ihn | |
unnötig kränken", sagt sie. "Demente sind sensible Menschen." | |
Und so gerät der Umgang mit ihnen oft zum Drahtseilakt. Zwang, das hat | |
Hannelore Risch festgestellt, führt selten zum Erfolg. Jetzt gerade zum | |
Beispiel ist Kaffeezeit, Tagesabläufe in Pflegeheimen sind starr von jeher, | |
den Herrn Doktor aber interessieren Uhrzeiten längst nicht mehr, | |
Pünktlichkeit hat für ihn jede Bedeutung verloren, es drängt ihn hinaus, | |
laufen will er, jetzt, gleich, sofort! Er findet eine Tür, er öffnet sie, | |
gleich ist er weg. Hilfe, was tun? | |
Anfangs hat Hannelore Risch in solchen Situationen Heimbewohner, denen sie | |
körperlich gewachsen war, energisch an die Hand genommen, in den Speisesaal | |
geführt, auf den Stuhl gesetzt und an den Kaffeetisch geschoben. Gekniffen | |
wurde sie dafür, mitunter als "blöde Sau" beschimpft. Inzwischen weiß sie, | |
wie sie es schlauer anstellen kann: "Mensch, Herr Doktor, gut, dass ich Sie | |
gerade sehe, Sie hätten ja sonst beinahe den Kaffee verpasst, alle anderen | |
sind schon da." Das zieht. Der Doktor macht kehrt und - folgt ihr fröhlich | |
zu Tisch. Umgekehrt weiß Hannelore Risch aber auch: "Die große Dankbarkeit, | |
so wie bei Kindern, die kriegen Sie nie von einem Dementen." | |
## Angst vor Fremden | |
Dankbarkeit. Pffhhhh macht Brunhild Patzer und schließt ihre Haustür auf, | |
nur wenige hundert Meter sind es von hier zum Pflegeheim, wo die 52-Jährige | |
als Ergotherapeutin arbeitet. Jetzt hat sie Feierabend. "Dankbarkeit", sie | |
dehnt das Wort wie einen Kaugummi. "Solange Sie bloß mit normalen Patienten | |
zu tun haben, ist es leicht, die Erwartungshaltung auf null | |
herunterzuschrauben." Was aber, wenn man wie Brunhild Patzer hautnah | |
miterlebt, wie plötzlich die eigene Mutter Stück für Stück den Verstand | |
verliert? "Da können Sie noch so sehr Profi sein, es ist hart, diesen | |
Rollenwechsel zu ertragen." | |
Sie führt durch den Flur zu einem Anbau im Erdgeschoss, zwei Zimmer, Küche, | |
Bad, alles rollstuhlgerecht, alles frisch renoviert, in Eigenleistung und | |
nach Dienstschluss. Ihr Mann hatte sich Mühe gegeben, damit die alte Dame | |
so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung leben könnte. Schon immer | |
hatte Brunhild Patzers Mutter bei ihnen im Haus mitgelebt, allerdings in | |
einem Zimmer unterm Dach, 20 Stufen bis zum Badezimmer, für eine | |
gebrechliche und dazu demente Frau ein vorhersehbarer GAU. | |
Also bauten die Patzers um. Die alte Mutter aber hielt nichts davon. | |
Weigerte sich, nach unten zu ziehen. "So klar im Kopf war sie damals noch", | |
sagt die Tochter. Bis sie eines Tages wirklich stürzte. Das gebrochene Bein | |
wird jetzt im Pflegeheim gesund gepflegt. Was danach kommt? Brunhild Patzer | |
weiß es nicht. Mittlerweile ist der Anbau an die Enkeltocher und deren | |
Verlobten vermietet. Und die wollen bleiben. | |
Die alte Dame aber bekundet täglich, schnellstmöglich wieder nach Hause zu | |
wollen. Also muss nicht nur die Raumfrage geklärt werden, sondern auch die | |
Betreuung. Hannelore Risch und Brunhild Patzer kennen sich. Sie schätzen | |
sich. Sie können sich vorstellen, zu helfen und sich helfen zu lassen. Wäre | |
da nicht die alte Mutter. Eine Fremde im Haus, die beklaue sie nur! Wofür | |
habe sie denn eine Tochter? "Manchmal", sagt Brunhild Patzer, "haben Sie | |
die besten Ideen und könnten trotzdem verzweifeln." | |
12 Apr 2011 | |
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## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
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