# taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Das Trauma von Fukushima | |
> Fukushima ist zu einer Chiffre für einen existenziellen Schrecken | |
> geworden. Abgesehen von der aktuellen Berichterstattung wird Japan selten | |
> von sich aus Thema. | |
Bild: Fukushima: Demütiges Verbeugen des Atomkraftwerk-Betreibers Tepco. | |
Drei Tage Japan. Allein dass man den Namen dieses Landes bereits als | |
Chiffre verwenden kann, ist bemerkenswert. "Wie ging es dir so in den | |
letzten Wochen?" "Ach, ganz gut eigentlich. Aber halt Japan." Die meisten | |
Menschen, die ich seit dem 11. März direkt gefragt habe, wie sie zu "Japan" | |
stünden, platzten gleichsam heraus mit Gefühlen der Beklemmung, des | |
Mitleids und des Schreckens. Trotzdem wird "Japan" selten von sich aus | |
Gesprächsthema - vermutlich gerade wegen des Ausmaßes der Beklemmung. | |
Über Atomkraft reden, das geht, da gibt es Für und noch mehr Wider. Aber | |
diese Bilder von Schiffen, die zwischen schwankenden Häusern von einer | |
zähen dunklen Welle durch die Gegend geschoben werden? Der Anblick | |
vereinzelter Hinterbliebener vor meterhohen Trümmerschichten, von denen es | |
heißt, dass sie bald "aufgeräumt" werden sollen? Wie soll man sich darüber | |
unterhalten? | |
Es gab einst ein ähnlich schockierendes Ereignis im neuzeitlichen Europa: | |
das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755, dem übrigens ebenfalls eine | |
zerstörerische Flutwelle folgte. Kant, Lessing, Rousseau, Voltaire - sie | |
alle reagierten. Damals allerdings war das Gesprächsthema klar: inwiefern | |
sich die Grausamkeit der Natur mit der Auffassung, dass man in einer | |
wohlgeordneten Schöpfung lebe, vertrügen. Die Beliebigkeit des Todes und | |
der Gewalt von Erde und Wasser erschütterten die damaligen Zeitgenossen - | |
allen heutigen Allgemeinplätzen über die angebliche religionslose | |
Aufklärung zum Trotz - in ihrem Weltbild. | |
Zwar lehren Erd- und Seebeben nichts, was die Menschheit prinzipiell nicht | |
schon vorher über Tod, Leid, Schrecken wusste. Doch erst das Ausmaß der | |
Katastrophe von Lissabon führte damals zu einer intensiven, aufklärerischen | |
Debatte zur Theodizee, der Frage also, ob und wie man die Idee eines | |
gütigen und allmächtigen Gottes angesichts des Leidens Unschuldiger | |
rechtfertigen kann. | |
## Erschüttertes Urvertrauen | |
Was ist nun, vom Ausmaß des Leides abgesehen, das irritierendste Moment, | |
der schmerzhafteste Stachel von "Japan"? Die religiöse Überzeugung, in der | |
besten aller denkbaren Welten zu leben, teilen heute wohl noch die | |
wenigsten Menschen in Deutschland. Gewiss, auch zum säkularen Alltag gehört | |
eine Art Grundvertrauen; trotz allen Wissens, dass das Schlimmste jederzeit | |
geschehen kann und auch geschieht, erleben wird die Welt nicht primär als | |
bedrohlich, sondern als grossi modi freundlich und bewohnbar. Aber dies | |
eben zum Teil auch, weil wir uns in der Hoffnung wiegen, einen Großteil der | |
natürlichen Schrecken mit Wissenschaft und Technik zu bannen. | |
Diese beiden jedoch - Wissenschaft und Technik - haben nicht nur vor der | |
Natur nicht schützen können, sondern den Gewalten von Erde und Wasser noch | |
eine weitere hinzugefügt. Gebannt schaut die Welt auf den menschengemachten | |
GAU von Fukushima, der sich so unaufhaltsam wie eine dritte | |
Naturkatastrophe dahinzieht. Nur geht diese nicht auf Gottes, sondern auf | |
unser Konto. | |
## Den Stromanbieter wechseln? | |
Folgerichtig wurden in Politik und Feuilletons Diskussionen über Atomkraft | |
und Umwelt neu aufgenommen; und so lange man sich nicht einbildet, das | |
manifeste Leid in Japan damit neutralisieren oder gar wiedergutmachen zu | |
können ("Immerhin haben wir daraus gelernt"), ist dies auch richtig. | |
Zu bezweifeln ist allerdings, ob die Diskussion, wie sie derzeit geführt | |
wird - besonnen, maßvoll, die Politik der nächsten machbaren Kompromisse | |
erwägend -, dem Beben, dessen Zeuge wir wurden, auch nur annähernd gerecht | |
wird. Überall hört man neuerdings diese Floskel von den "kleinen | |
Schritten". Jeder leistet "einen noch so geringen Beitrag", tut "das | |
bisschen, was er kann". Es soll Leute geben, die einen fleischfreien Tag | |
die Woche einlegen, manche fahren mehr Fahrrad; und ich kenne einige, die | |
den Stromanbieter gewechselt haben. All das ist prima. Aber so werden wir | |
die Welt nicht retten. | |
Und seien wir ehrlich, um nichts weniger geht es. Natürlich, die Welt als | |
solche wird uns sowieso überleben; die Frage ist, ob man sie kommenden | |
Generationen in dieser Form zumuten will. In den Siebzigerjahren wurde der | |
Menschheit erstmals bewusst, dass Wachstum kein endloser Prozess sein kann | |
- weder das Wachstum der Wirtschaft noch möglicherweise das der Menschheit. | |
Heute aber ist der heimliche Schrecken hinter "Japan" der, dass wir es | |
eventuell bereits verbockt haben. Womöglich haben wir die Erde in einen | |
Zustand und uns in eine Lebensweise bugsiert, von wo aus es kein Zurück | |
mehr geben wird. | |
## "Verzicht" klingt nicht sexy | |
Japan hat uns daran erinnert, dass es zwar schwer genug ist, mit der Gewalt | |
der Natur leben zu müssen - dass wir Menschen es aber es doch tatsächlich | |
geschafft haben, die größtmöglichen natürlichen Grausamkeiten noch zu | |
überbieten. Als ob Ertrinken, Ersticken und Zermalmtwerden nicht schlimm | |
genug wären, haben wir doch tatsächlich eine völlig neue Todesart erfunden | |
und technisch realisiert. | |
Jetzt glauben wir, die Sache wieder hinbiegen zu können, wenn wir jeder | |
einen kleinen Schritt tun und uns artig Mühe geben. Belohnung folgt? Das | |
ist selbst simpelstes, quasireligiöses Denken, das ist die Logik des | |
Ablasshandels. Tatsächlich funktioniert, wie sollte es im Kapitalismus | |
anders sein, viel "gefühlte" Umweltschonung übers Kaufen. Mit ein paar | |
Hemden aus Biobaumwolle oder einem energiesparenden Kühlschrank will man | |
die "richtige" Wirtschaft ankurbeln. | |
Das Wort "Nullwachstum" dagegen traut sich keiner in den Mund zu nehmen. | |
"Verzicht" gilt als nicht sexy; lieber bucht man einen Kurzstreckenflug, um | |
die nächste Konferenz über Zwei-Grad-Erwärmung komfortabel zu erreichen. | |
Vielleicht schweigen wir auch deshalb so viel über Japan, weil wir ahnen, | |
dass wir sonst über den gewaltigen Umbau unserer Gesellschaft, unserer | |
Politik und unseres Alltags sprechen müssten, die nötig wären. Damit diese | |
Welt, trotz all ihrer wiederkehrenden und bisweilen geballt zutage | |
tretenden Schrecken, überhaupt lebenswerte Heimat bleibt. | |
13 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Hilal Sezgin | |
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