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# taz.de -- Kolumne Geräusche: Nomaden mit grellbunten Sonnenbrillen
> Wo für Musik noch bezahlt werden darf.
Jetzt im Frühling suchen sie in Schwärmen unseren Kiez heim wie besonders
exotische Fische ein sehr altes Korallenriff: Globalisierungsnomaden, von
denen es zwei Varianten gibt bei uns im Viertel. Die erste Gruppe kommt aus
den USA, wie ich als Alteingesessener mit muränenhafter Griesgrämigkeit
feststellen musste. Womöglich hat sie der Golfstrom nach Berlin gespült. Es
herrscht auf den Straßen ein gar nicht babylonisches Geschnatter: "I was
like …", "She was like …" und "We were like …", gerade so, als wäre dies
East River und nicht der Landwehrkanal.
Man könnte hier inzwischen an jeder Ecke schon "hipster traps" aufstellen,
wie sie neuerdings in New York gesichtet werden: eine Packung American
Spirit, eine Idiotensonnenbrille aus grellbuntem Plastik, eine chinesische
Mittelformatkamera vom Typ Holga 120 S und eine Flasche Tannzäpfle, schön
arrangiert als Köder im rostigen Rachen einer aufgespannten Bärenfalle -
der Hipster würde einfach nicht widerstehen können und läge bald "SCHNAPP!"
in seinem Blute.
Erkennbar sind diese Hipster weniger an ihren Accessoires als vielmehr an
der sie umgebenden Blase aus leicht anblasierter Selbstsicherheit, deren
ideale Oberflächenspannung aus der Tatsache resultiert, dass diese Leute in
aller Regel nicht ihr eigenes Geld ausgeben - sondern das ihrer Eltern.
Manche noch nicht erlegten Exemplare tragen stürmische Frisuren wie aus der
Vogue, impotenzfördernde Enghosen, Menjou-Oberlippenbärte und onkelige
Hütchen.
Am Rande des Wochenmarktes am Maybachufer lässt sich beobachten, wie diese
"Jeunesse dorée" zweckfrei beisammensitzt und geckenhaft barfüßigen
Vollbartmusikanten lauscht, die polyrhythmisch ihre Bongos bearbeiten.
Einmal legte ich einen Euro in den Onkelhut - und erntete einen sehr
gereizten Blick.
Nomaden der zweiten Gruppe und ganz anderen Schlags, das sind die Zigeuner
der Straßenkapelle, die auch jeden Frühling erneut durch die Straßen zieht.
Wahrscheinlich gibt es ebenso wenig "Zigeunermusik" wie es "Negermusik"
gibt. Nur kann ich vom Balkon aus nicht erkennen, ob es sich bei dem
Sextett dort unten nun um Roma, Sinti, Jenische, Kalderasch, Luri oder
Manusch handelt. Ihre Musik ist da auch keine Hilfe. Was sie auch spielen,
es klingt immer nach schläfrigen Los Lobos.
Das Geschäftsmodell ist genial, handelt es sich doch sozusagen um ein nach
außen gestülptes Konzert. Man muss nicht einmal mehr U-Bahn fahren, um
ungefragt bemusiziert zu werden - die Klänge kommen einfach durchs offene
Fenster rein. Wer, angelockt, raus- und runterguckt, der hat schon
verloren: Dort lauert der Chef und hält mir den Hut auf, während seine
Kollegen um ihr Leben spielen. Einmal habe ich mit zwei Euro aus dem
zweiten Stock mitten in den Borsalino getroffen. Und bekam dafür einen
Extratusch.
Text: "And you snatch your rattling last breaths / With deep-sea-diver
sounds / And the flowers bloom like madness in the spring" (Jethro Tull,
"Aqualung").
Musik: Das weiche Plopp, wenn der Schnuller gegen den Willen des
Schnullernutzers entfernt wird.
14 Apr 2011
## AUTOREN
Arno Frank
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
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