# taz.de -- Holocaust in Polen: "Die Mörder blieben geschätzte Bürger" | |
> In dem Buch "Goldene Ernte" schreiben zwei polnische AutorInnen darüber, | |
> wie ihre Landsleute vom Holocaust profitiert haben. Sie sehen sich | |
> heftigen Anfeindungen ausgesetzt. | |
Bild: Dieses (berühmte) Bild "Goldene Ernte" inspirierte die Autoren zu ihrem … | |
taz: Frau Grudzinska-Gross, Herr Gross, Sie werfen den Polen in Ihrem Buch | |
"Goldene Ernte" vor, vom Holocaust materiell profitiert zu haben. Die | |
Reaktionen in Polen waren sehr heftig. In Gdansk klebten sogar Zettel an | |
den Schaufenstern der Buchhandlungen mit der Warnung: "Hier werden | |
antipolnische Bücher verkauft. Kauft nicht in diesem Laden!" Hatten Sie | |
solche Reaktionen erwartet? | |
Irena Grudzinska-Gross: Das stimmt. Es gab Boykottaufrufe. Fanatiker | |
starteten eine Cyber-Attacke gegen den Verlag Znak in Krakau, sodass dort | |
für kurze Zeit keine Bestellungen mehr eingehen konnten. Aber das war keine | |
Massenerscheinung. | |
Warum hat sich dann eine Abteilungsleiterin des Verlags öffentlich für das | |
Buch entschuldigt? | |
Jan Tomasz Gross: Schon vor Erscheinen des Buches gab es Streit im Verlag. | |
Dann allerdings ausgerechnet während der Präsentation des Buches | |
aufzustehen und sich für das Buch zu entschuldigen war äußerst illoyal | |
gegenüber dem Verlagschef. Andererseits ist dieses "mea culpa" natürlich | |
interessant. Es verleiht dem Thema eine religiöse Note. Viele Polen | |
begreifen das Buch in den Kategorien von Schuld und Sühne. | |
Steht die Schulddebatte nicht am Anfang jeder Vergangenheitsaufarbeitung? | |
IGG: Die Schuldfrage spielt eine ganz spezifische Rolle in dieser Debatte. | |
Sie blockiert die Akzeptanz historischer Fakten. Die Leute glauben, sie | |
selbst würden beschuldigt, müssten sich rechtfertigen und verteidigen. | |
Dabei geht es um eine historische Selbstverständigung. Wir hatten bei | |
unseren Gesprächen in Polen oft den Eindruck, als wollten die Leute uns | |
sagen: "Du klagst mich an. Wenn ich die Fakten anerkenne, muss ich mich | |
schuldig fühlen. Das kann ich nicht zulassen." So wirft man uns auch vor, | |
dass es uns in Wirklichkeit um eine Entschädigung für die einst beraubten | |
Juden gehe. | |
JTG: Wenn wir uns die ernst zu nehmenden Reaktionen ansehen, so ist im | |
historischen Mainstream Polens längst als Tatsache akzeptiert, dass auch | |
Polen während des Zweiten Weltkriegs Juden töteten und beraubten. Die | |
Diskussion dreht sich nur noch darum, wie man am besten darüber schreiben | |
sollte, um das breite Publikum zu erreichen. | |
Ein Vorwurf lautet, Sie würden zu sehr verallgemeinern. Kann sich dadurch | |
wirklich in der Welt die Meinung herausbilden, die Polen seien genauso | |
schuld am Holocaust wie die Deutschen? | |
JTG: Diesen Vorwurf gibt es. Aber er stimmt nicht. Wir schreiben nicht, | |
dass "die Polen" sich an Mordaktionen oder Raubzügen gegen Juden | |
beteiligten. Wir schreiben, dass es in der Okkupationszeit Morde von Polen | |
an Juden gab, dass Polen normalerweise das Eigentum von Juden übernahmen, | |
wenn diese von den Nazis in ein Ghetto oder ein KZ abtransportiert wurden. | |
Es war auch eher die Regel denn die Ausnahme, dass Polen Juden an die | |
Deutschen verrieten oder sogar auslieferten, statt sie zu schützen. | |
Anders als dies im polnischen Bewusstsein verankert ist, war der Verrat an | |
Juden eben nicht die Domäne des Pöbels oder einer gesellschaftlichen | |
Randgruppe, sondern zählte zum üblichen Verhalten. Nur so ist auch zu | |
erklären, dass Polen, die Juden retteten, dies auch vor anderen Polen | |
geheim halten mussten, während Polen, die Juden an die Deutschen | |
auslieferten, damit öffentlich hausieren gingen. | |
Woher wissen Sie das? | |
JTG: Die Quellen - Gerichtsakten, Briefe, Memoiren - zeigen dies deutlich: | |
Die Nachbarn waren eine Bedrohung für jede Familie, die Juden versteckt | |
hielt. Sie durften auf keinen Fall davon erfahren. Umgekehrt kam es oft zu | |
Morden an Juden, von denen alle im Dorf wussten. Niemand schämte sich | |
dafür. Die Menschen nahmen an den Mordaktionen teil, lebten ganz normal | |
weiter und waren geschätzte Mitglieder der Dorfgemeinschaft. | |
Es handelte sich also nicht um Einzeltaten? | |
JTG: Man muss sich überlegen, was es bedeutet, wenn ein Mensch öffentlich | |
morden kann und sich danach die Zeugen, oft die ganze Dorfgemeinschaft, | |
nicht vom Mörder abwenden. Die Mörder waren weiterhin geschätzte Bürger. | |
Darauf machen wir in unserem Buch aufmerksam. Zu Recht, wie wir meinen. | |
Die konservative Tageszeitung Rzeczpospolita fordert Sie auf, sich zu | |
entschuldigen. | |
JTG: Wir? Bei den Plünderern jüdischen Eigentums? Das ist völlig undenkbar. | |
Aber es zeigt, mit welchen Bandagen hier gekämpft wird. Am Ende bleibt den | |
Leuten meist nur im Gedächtnis, dass mit dem Buch und den Autoren etwas | |
nicht stimmt. | |
Andere werfen Ihnen vor, nur Altbekanntes aufzuwärmen. | |
JTG: Mit dem Satz "Das ist doch alles längst bekannt", wird insinuiert: | |
"Dieser Gross, das ist doch gar kein Historiker. Der macht gar keine eigene | |
Forschungen, sondern wiederholt nur das, was andere vor ihm herausgefunden | |
haben." Konsequent heißt es dann meist: "Lasst uns von etwas anderem | |
sprechen!" Und genau darum geht es. Man will über die Arisierung jüdischen | |
Eigentums nicht sprechen. Bekannt sind diese Dinge vielleicht den | |
Fachleuten, aber mit Sicherheit nicht dem breiteren Publikum. | |
IGG: Außerdem reicht es nicht, sich einmal mit den Fakten vertraut zu | |
machen. Letztlich geht es um die große Revision des Bildes, das die Polen | |
von sich selbst im Zweiten Weltkrieg haben. Die Helden und Opfer gab es. | |
Aber es gab eben auch die Täter und Nutznießer. Wir sind mit den heftigen | |
Reaktionen auf unser Buch eigentlich ganz zufrieden, zeigt es uns doch, | |
dass das Thema den Menschen unter die Haut geht. | |
Das ganze intellektuelle Europa reagiert positiv auf die selbstkritische | |
Geschichtsdebatte in Polen. Warum meinen dennoch viele Publizisten und | |
Historiker in Polen, dass man besser nicht die ganze historische Wahrheit | |
sagen sollte, weil dies dem Ansehen Polens im Ausland schaden würde? | |
JTG: Das ist ein seltsames Phänomen. Denn wir machen dieselbe Erfahrung. In | |
den USA und auch in Israel reagiert man überaus positiv auf die | |
selbstkritische Debatte in Polen. Man findet diese Offenheit geradezu | |
fantastisch. | |
Woher rührt dann die Überzeugung, dass das Ausland negativ reagieren | |
könnte? | |
JTG: Den meisten Polen dürfte klar sein, dass hier etwas ans Tageslicht | |
befördert wird, was über Jahrzehnte bewusst verborgen wurde. | |
IGG: Polen haben bis heute das deutsche Trauma nicht überwunden. Wenn wir | |
über den Zweiten Weltkrieg und die Okkupationszeit diskutieren, sagen uns | |
viele Polen, man müsse zuerst daran erinnern, dass die Deutschen in Polen | |
einmarschierten und sechs Millionen polnische Staatsbürger ermordeten. Sie | |
fürchten, dass sie für Verbrechen verantwortlich gemacht werden könnten, | |
die die Deutschen begangen haben. | |
JTG: Wir schreiben in unserem Buch aber ganz klar, wer die Hauptschuld am | |
Holocaust trägt. Sogar der Titel heißt ja: "Goldene Ernte. Was sich am | |
Rande des Holocaust ereignete". | |
5 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
## TAGS | |
Polen | |
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