# taz.de -- Das Bildungssystem Russlands: Akademikertitel vom Schwarzmarkt | |
> Russlands Bildungssystem war einst ein Vorbild, besonders in den | |
> Naturwissenschaften. Nun werden akademische Grade für ein bisschen | |
> Prestige gefälscht. | |
Bild: Jubel auf dem Roten Platz in Moskau: Schulabsolventen feiern ihren letzte… | |
MOSKAU taz | Der Flugzeughersteller Suchoi ist ein Vorzeigeunternehmen der | |
russischen Rüstungsindustrie. Vor allem Kampfjets stellt der Staatsbetrieb | |
her, der im August 2010 Schlagzeilen machte: Siebzig Mitarbeiter hatten | |
gefälschte Ingenieurdiplome. Die Unternehmensleitung hielt dies für keinen | |
Entlassungsgrund. Die Angestellten seien langjährige Betriebsangehörige und | |
Abschlüsse nur eine Formalität, teilte der Betrieb mit. | |
Die falschen Ingenieure, beruhigte die Betriebsleitung, seien auch an | |
sensibler Produktion nicht beteiligt gewesen. Später stellte sich heraus, | |
dass der Betrieb die Diplome selbst organisiert hatte, um Anforderungen der | |
Moskauer Zentrale zu genügen, die auf eine Aufstockung qualifizierter Kader | |
gedrängt hatte. | |
Der unlautere Erwerb akademischer Grade hat in Russland ein bedrohliches | |
Ausmaß angenommen. Experten schätzen, dass je nach Fachrichtung der Anteil | |
gekaufter Doktortitel zwischen 30 und 50 Prozent beträgt. Besonders hoch im | |
Kurs stehen Abschlüsse in Medizin und Jura. | |
## 5,5 Mrd Dollar Bestechungsgelder | |
Aber auch Russlands "Beste Lehrerin des Jahres" wurde 2007 als Betrügerin | |
enttarnt. Das Rote Prädikatsdiplom hatte auch sie auf kurzem Dienstweg | |
erworben. Langfristig dürfte dies hohen wirtschaftlichen Schaden anrichten. | |
Die Abteilung für Wirtschaftssicherheit im Innenministerium bezifferte den | |
Umfang der Bestechungsgelder im Bildungssektor 2009 auf 5,5 Milliarden | |
Dollar. Allein 1,5 Milliarden zahlten angehende Studenten, um sich den | |
Zugang zur Hochschule zu erschleichen. | |
So wächst ein Heer von Pseudo-Experten heran, mit dem das anspruchsvolle | |
Ziel, den Rohstofflieferanten Russland bis 2030 in einen | |
Hochtechnologieexporteur zu verwandeln, kaum zu meistern sein wird. Noch | |
zehrt der Bildungssektor von den Vorleistungen des sowjetischen Systems, | |
das in der Vermittlung der Naturwissenschaften einen hervorragenden Ruf | |
genoss. "Wir haben das beste Bildungssystem der Welt", rühmte sich die | |
Sowjetunion. | |
Die Mehrheit der Pädagogen ist von der Überlegenheit der alten Schule | |
weiterhin überzeugt und sträubt sich gegen Reformen. Experten sprechen in | |
Anspielung an den Raumfahrttriumph der UdSSR in den 1950er Jahren von einer | |
"Sputnikmentalität", die die Neuorientierung behindere. | |
## Der Bildungsauftrag Lenins | |
Die Statistik gibt den konservativeren Pädagogen zunächst recht. Im | |
Vergleich zu den hoch entwickelten Industrieländern verfügt Russland über | |
einen überdurchschnittlich hohen Bildungsstand. 88 Prozent der Bürger | |
zwischen 25 und 64 können einen dem Abitur vergleichbaren Schulabschluss | |
vorweisen. Nur 4 Prozent haben keinen Schulabschluss. Mehr als die Hälfte | |
der Erwachsenen hat eine Hochschule absolviert. In einigen Bereichen liegt | |
der Anteil der Akademiker an der arbeitsfähigen Bevölkerung höher als in | |
jedem anderen Land der OECD. | |
Erstaunlich ist auch: "Lernen, lernen, nochmals lernen", der | |
Bildungsauftrag des Revolutionsführers Lenin, hat die Zeit des Kommunismus | |
nicht nur überlebt: Die Zahl der jährlichen Hochschulabsolventen hat sich | |
zwischen 1989 und 2009 sogar mehr als verdreifacht. 2009 waren 7,5 | |
Millionen Studenten an Hochschulen eingeschrieben. | |
Russland müsste also bestens gewappnet sein für den Wettlauf moderner | |
Wissensgesellschaften. In absoluten Zahlen besitzt es den größten | |
Akademikerpool der Welt - nach den USA, China, Indien und Japan. Von 350 | |
Millionen Menschen mit Hochschulabschluss leben 20 Millionen in Russland, | |
das mit 2 Prozent der Weltbevölkerung 6 Prozent aller Akademiker stellt. | |
## Bildung und Wirtschaft sind ein Paradoxon | |
Die Leistungsfähigkeit des akademischen Sektors bleibt aber weit hinter den | |
Erwartungen zurück. Zwischen 1995 und 2008 registrierte das US-Patent-Amt | |
(USPTO) weltweit 2,3 Millionen Patente. Nur 0,1 Prozent stammten aus | |
Russland. Ohne den überdurchschnittlichen Bildungsstand mitzurechnen, hätte | |
es allein schon mit 2 Prozent der Weltbevölkerung das Zwanzigfache an | |
Patenten vorlegen müssen. Japan meldete im selben Zeitraum 200-mal, | |
Deutschland 60-mal mehr Patente an. | |
Auch bei Zitierindizes enttäuscht Russland. 2008 veröffentlichten russische | |
Forscher in internationalen Fachzeitschriften nicht mehr Beiträge als 1990, | |
obwohl sich der Akademikeranteil verdreifacht hat und die politische | |
Systembarriere entfiel. | |
Setzt Moskau seine schlummernden Humanressourcen nicht rationell ein? Ein | |
Blick auf die Handelsstatistik verrät, dass sich auch die | |
Arbeitsproduktivität, berechnet nach den Einnahmen aus dem Export von | |
Fertiggütern, auf einer Stufe mit Marokko und den Fidschi-Inseln bewegt. | |
Zwar wuchsen BIP und Bildungsstand in den letzten Jahren stetig. Dadurch | |
stieg aber weder die Produktivität noch die Qualität des Humankapitals. | |
Russland stellt damit international ein Paradox dar: Wo und wie versickert | |
die breite Bildung? Monokausale Erklärungen greifen nicht, die Ursachen | |
sind in einem Bündel struktureller Unzulänglichkeiten zu suchen: Ein | |
Hochschulabschluss ist heute nicht mehr mit einer klaren Berufsperspektive | |
verknüpft. Mit dem Diplom weist der Absolvent lediglich nach, dass er "kein | |
Dummkopf" ist. Er sichert sich Prestige und die Zugehörigkeit zu einer | |
sozialen Gruppe. | |
Häufig suchen junge Männer in der Uni auch nur Zuflucht vor der Armee, da | |
Studenten vom Wehrdienst freigestellt sind. Um auch nach dem Diplom der | |
Armee zu entkommen, entscheiden sich viele für eine Promotion. Nur ein | |
Viertel der Stipendien werden aber sinnvoll genutzt. | |
Auch nicht zu unterschätzen ist das intellektuelle Inseldenken im | |
akademischen Kreis. Die ideologische Ausrichtung des Kreml auf | |
Isolationismus und russischen Ethnozentrismus hat auch vor der Universität | |
nicht haltgemacht. Westliche Doktoranden forschen nur selten an russischen | |
Hochschulen. Dem wissenschaftlichen Nachwuchs wird damit der Zugang zu | |
westlicher Spitzenforschung erschwert, die längst im globalen Maßstab | |
stattfindet. | |
Zwar nehmen einige Unis am europäischen Bologna-Prozess teil, die | |
Professorenschaft leistet jedoch Widerstand. Eine Öffnung, so fürchtet sie, | |
würde den Konkurrenzdruck erhöhen und ihr mehr Mobilität abverlangen. Denn | |
die meisten Dozenten unterrichten dort, wo sie studiert haben. Nur Einzelne | |
wagen den Wechsel an andere Hochschulen im In-oder Ausland. | |
## Bildung ist nichts wert | |
## | |
Der Lehrkörper zählt zu den konservativsten gesellschaftlichen | |
Gruppierungen, die sich an die Fiktion eines zivilisatorischen "Sonderwegs" | |
für Russland klammern. Dieser Mythos der Einzigartigkeit beherrscht | |
besonders in der Provinz den Kanon der Sozial- und Geisteswissenschaften. | |
Wer glaubt, ein ausländischer Studienabschluss würde die Karrierechancen | |
verbessern, sieht sich getäuscht. Auch darin unterscheidet sich Russland | |
von China, das Diplomanden mit Auslandsexamina hofiert. | |
2005 erhob Moskau Bildung zu einem "nationalen Projekt". Hochschulen sollen | |
nach internationalen Kriterien bewertet und die Flaggschiffe als "Nationale | |
Forschungsuniversitäten" besonders gefördert werden. Die Planer gingen | |
davon aus, dass eine leistungsabhängige Finanzierung auch die übrigen | |
Institute anspornen würde. | |
Bislang sind die Ergebnisse nicht ermutigend. Von 3.000 Einrichtungen seien | |
höchstens 100 bis 150 konkurrenzfähig, klagte Bildungsminister Andrei | |
Fursenko. Im Ranking des "Times Higher Education Index", der die 200 | |
weltweit führenden Universitäten ermittelt, fand sich 2010 kein einziger | |
russischer Name. | |
Nachholbedarf hat auch das Schulwesen, wie die jüngsten internationalen | |
Pisa-Studien zeigten. Russische Schüler schnitten in allen Testfeldern weit | |
unterdurchschnittlich ab. Im einstigen Vorzeigefach Mathematik landete | |
Russland von 32 Teilnehmern gar nur auf Rang 22. Und das, obwohl russische | |
Pennäler mehr Lernstoff bewältigen müssen als Schüler im Westen. | |
Neben schlecht qualifiziertem und überaltertem Lehrpersonal lässt sich dies | |
auch mit überholten Lehrplänen und Methoden erklären. Noch immer besteht | |
das Lernziel vor allem im Wiederholen des auswendig Gelernten. | |
Eigenständiges Denken und Arbeiten fördert die Schule nicht. Die Pädagogik | |
neigt dazu, Selbständigkeit und Unabhängigkeit eher zu ahnden. Wenn der | |
Abiturient die Schule verlässt, hat er lernen nicht gelernt. Ausbildung und | |
Lehre spiegeln somit wider, was Politik und Gesellschaft zur Norm erheben. | |
Die Lehrerschaft lässt sich von Misserfolgen nicht beirren: "Wir sind ein | |
Siegervolk", begrüßte sie die Erstklässler bei der Einschulung 2010 in | |
Moskau. | |
20 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Klaus Helge Donath | |
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