# taz.de -- Moral-Experte über korrekten Lebensstil: "Hähnchen für 3,50 sind… | |
> Rainer Erlinger berät in Fragen der Moral. Und sagt, man müsse sie neu | |
> denken. Denn für die, die mehr Mittel haben, ist Vieles einfach leichter. | |
Bild: Muss, wer kein Geld für artgerecht gezogenes Fleisch hat, den Fleischkon… | |
Hier oben auf dem Prenzlauer Berg in Berlin wohnen die Menschen, die sich | |
ihren moralisch korrekten Lebensstil etwas kosten lassen können und das | |
auch nicht verbergen. Biomärkte satt. Und passenderweise wohnt hier auch | |
der Mann - die Kirche um die Ecke -, der sich darauf spezialisiert hat, | |
moralische Fragen zu beantworten: Dr. Dr. Rainer Erlinger. | |
Der Arzt und Jurist hat gut zu tun. Werte sind wieder gefragt, Erlinger | |
benötigt für seine Moralarbeit mittlerweile die Unterstützung einer | |
Hilfskraft. Pro Woche beantwortet er eine Frage, pro Antwort - rund 2.300 | |
Zeichen - liest er etwa zwei bis drei Bücher. | |
taz: Herr Erlinger, darf man sich über den Tod eines Menschen freuen? | |
Rainer Erlinger: Sie meinen Osama bin Laden? Ich glaube, man kann einem | |
Menschen, der am 11. September einen Angehörigen verloren hat, kaum | |
vorwerfen, wenn er sich über den Tod dessen, der das zu verantworten hat, | |
freut. Man kann sich auch über die Folgen eines Todes freuen, wenn etwa die | |
Welt dadurch sicherer wird. Man kann meines Erachtens auch Genugtuung und | |
damit so etwas wie Freude empfinden, wenn ein Verbrecher nicht ungestraft | |
davonkommt. Aber über den Tod eines Menschen selbst sollte man sich streng | |
genommen aus moralphilosophischer Sicht nicht freuen. Auch wenn ich zugeben | |
muss, dass man mit dieser Auffassung spätestens bei der Frage, ob man sich | |
über den Tod Hitlers freuen durfte, an seine Grenzen stößt. | |
Und ist der Militäreinsatz zur Unterstützung der Aufständischen in Libyen | |
moralisch geboten? | |
Der Ausgangspunkt ist für mich das Selbstbestimmungsrecht der Menschen und | |
Völker. Und ich persönlich habe eine bestimmte Vorstellung davon, welche | |
Werte für mich wichtig sind: Demokratie und Selbstbestimmung | |
beispielsweise. Das kann man anderen aber nicht aufdrängen. | |
Wenn man das nun auf eine Person herunterbricht: Darf man jemanden mit | |
Macht davon abhalten, Macht über andere auszuüben? | |
Das ist die Frage der Nothilfe zugunsten Dritter. Die würde ich schon | |
sehen. Unter bestimmten Umständen darf man da eingreifen oder muss es | |
sogar. | |
Aber bei Staaten gilt das nicht? | |
Schon, aber da ist man dann schnell bei einer Weltpolizei. Wenn eine | |
übermächtige Allianz wie die Nato von außen entscheidet, was richtig ist, | |
und eingreift, dann ist das wieder eine Machtfrage. | |
Das heißt, im politischen Kontext ist es schwieriger, eine Institution zu | |
finden, die Regeln definiert? | |
Die haben wir mit der UNO und dem Weltsicherheitsrat. Natürlich wünscht man | |
sich das Weltparlament. Und wer die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte | |
liest, ist sehr überrascht, dass dieses tolle Dokument so weit anerkannt | |
wurde. Das würde man heute wahrscheinlich nicht mehr annähernd | |
durchkriegen. Keine Chance. | |
Weil die Welt unzivilisierter geworden ist? | |
Nein, das hängt vermutlich mit der Entstehungsgeschichte nach der | |
Katastrophe des Zweiten Weltkrieges zusammen. Ich meine, dass die Welt | |
heute deutlich zivilisierter geworden ist. Das sieht man gerade in | |
Nordafrika. Das sind alles Demokratiebewegungen. | |
Noch bis vor wenigen Monaten hätte das kaum ein zivilisierter Demokrat für | |
möglich gehalten. | |
Ja, viele schreiben, dass das alles gar nicht in diese Kulturen passt. Aber | |
Demokratie ist die Selbstbestimmung über das Gemeinwesen und damit ein sehr | |
hoher moralischer Standard. Deswegen bin ich trotz aller Gewalt positiv | |
angetan. | |
Barack Obamas Vorgänger, George W. Bush, ist mit seinem missionarischen | |
Eifer gescheitert. Ist Demokratie dennoch allgemein gültig erstrebenswert? | |
Ich glaube schon, denn die Demokratie leitet sich von der Freiheit, | |
Gleichwertigkeit und der Gleichwürdigkeit des Menschen ab. Welche Form die | |
Demokratie hat - vielleicht auch eine Stammesdemokratie -, das ist eine | |
andere Frage. Es muss nicht immer die parlamentarische Demokratie sein, sie | |
muss nur die Grundwerte gewährleisten. | |
Für Politik gibt es nur Macht oder keine Macht. Moral ist da nur Lametta, | |
oder? | |
Ich vertrete eher die These, dass Politik Moral ist. Moral definiere ich | |
als die Grundsätze, die unser Zusammenleben bestimmen. Und Politik ist die | |
praktische Umsetzung dieser Grundsätze. Eine gute Politik ist moralisch, | |
und eine schlechte Politik ist unmoralisch. Es gibt fast keine dritte | |
Möglichkeit. Aber es geht auch um Macht, und das beinhaltet immer die | |
Gefahr der Korruption. | |
Moral führt dann mitunter zu Unmoralischem? | |
Die Frage ist immer: Was darf man bestimmen, und was ist der Bestimmung | |
durch Einzelne enthoben? | |
Gibt es eine Moral, die von Kultur und Zeit unabhängig gelten kann? | |
Das Wort Moral kommt von mores: die Sitten und Gebräuche, das | |
Althergebrachte und Übliche. In dieser Sichtweise - die nicht meine ist - | |
gibt es nicht nur eine Moral. Es gibt aber Grundsätze, an erster Stelle | |
etwa die Würde des Menschen, die nicht verhandelbar sind. | |
Der GAU von Fukushima hat deutlich gemacht, dass Japaner bereit sind, ihr | |
Leben für die Gemeinschaft zu opfern. Hier ist die Moral Körperverletzung. | |
Es handelt sich um sogenannte "supererogative Handlungen". Das sind | |
Handlungen, die zu gut sind, als dass man sie von anderen verlangen könnte. | |
Sein Leben zu opfern, um den Reaktor zu bändigen und eine noch größere | |
Katastrophe vom Land abzuwehren, ist eine Handlung, die gut ist, aber eben | |
so gut, dass man sie nicht verlangen kann. Man kann die Selbstaufopferung | |
nicht einfordern. Abgesehen von der Frage, inwiefern das wirklich | |
freiwillig ist. | |
Hängt das jetzt von der besonderen Kultur der Japaner ab? | |
Moral ist ja abhängig von den Regeln, die in einer Gemeinschaft anerkannt | |
sind. Andererseits geht man heute davon aus, dass ein bestimmter Grundsatz | |
von richtig und falsch auch ererbt ist. Das hat sich in der | |
Säuglingsforschung gezeigt, wo bestimmte Formen des Helfens so früh | |
auftreten, dass sie nicht erlernt sein können. | |
Wieso beschäftigen Sie sich eigentlich so intensiv mit Moral? | |
Mein Interesse kommt unter anderem aus der Rechtsphilosophie: Was sind | |
Gesetze, und wann sind Gesetze berechtigt? Man merkt es mir wohl an, dass | |
ich aus der Ecke komme? | |
Sie nehmen Fragen auseinander, erklären die einzelnen Elemente und | |
verbinden das zu einem Ganzen. Sehr strukturiert. | |
Ja, da kommt auch der Anatom durch. Das Sezieren. Aber ich glaube, dass ich | |
prinzipiell zu einer Anerkennung von Gesetzen neige. Man braucht einfach | |
bestimmte Regeln für das Zusammenleben. | |
Verhalten sie sich moralischer als andere? | |
Nicht unbedingt, auch wenn meine Grundhaltung wohl schon immer eine | |
grundsätzlich moralische war. Mich hat zum Beispiel schon immer wahnsinnig | |
geärgert, wenn sich Leute damit brüsten, dass sie bei einer Versicherung | |
etwas falsch eingereicht haben. | |
Was ist nach so langer Beschäftigung Ihre Essenz von Moral? | |
Die gegenseitige Achtung und Anerkennung als Mensch. Pathetisch formuliert: | |
Du bist Mensch, so wie ich Mensch bin. Wir gehen gemeinsam unter - oder | |
keiner. | |
Wann haben Sie das bemerkt? | |
Das zeigt sich an vielen Stellen, auch im Alltag. Etwa bei der Frage, ob | |
man jemand das Grüßen verweigert, den man verachtet. | |
Beim Grüßen? | |
Indem man wortlos an jemandem vorübergeht, den man kennt. Ja, das ist eine | |
Kleinigkeit. Aber durch das Nichtgrüßen erkenne ich denjenigen nicht mehr | |
als meinesgleichen, also als Mitmensch an. Das geht nicht. Man kann | |
jemanden unterkühlt grüßen, aber man kann nicht sagen: "Du bist nicht mehr | |
da." Die Achtung vor jemandem als Mensch muss bleiben, auch wenn man ihn | |
verachtet. | |
Sie beantworten seit neun Jahren Leserfragen zum Gewissen. Was treibt die | |
Leute um? | |
In letzter Zeit tatsächlich immer stärker die Umweltfrage. | |
Ist Atomkraft unmoralisch? | |
Ja. Die Risiken sind bereits schwer zu vertreten. Und bei einer | |
Technologie, die die nächsten zigtausend Generationen mit radioaktivem Müll | |
belastet, fällt mir nicht ein, wie man die vertreten könnte. Das geht | |
einfach nicht. Ganz kalt, ohne jegliche Empörung. Das gilt aber | |
entsprechend auch für den Verbrauch der fossilen Rohstoffe. | |
Funktioniert Moral bei Menschen nur im persönlichen Umfeld? | |
Der Mensch war lange in seiner Entwicklungsgeschichte in kleinen | |
Stammesverbänden unterwegs, deswegen haben wir eine Nähemoral. Wir tun uns | |
schwerer, jemand zu verletzen, dem wir in die Augen schauen. Wir haben aber | |
weniger Probleme, wenn wir den anderen nicht mehr sehen. Uns fehlt auch das | |
Gefühl für eine intergenerationelle Moral, eine Moral, die auch auf die | |
Zukunft ausgerichtet ist. | |
In modernen Gesellschaften gibt es für alle Bedürfnisse Systeme, die auf | |
diese spezialisiert sind. Man muss nicht mehr selbst Tiere erlegen oder | |
einen Draht zum Jäger haben, um an ein Steak zu kommen. Ein gutes | |
persönliches Verhältnis ist zum Überleben nicht nötig. Das sind miese | |
Bedingungen für Moral nach Ihrem Verständnis. | |
Das Problem ist, dass wir dafür eben kein Gefühl entwickelt haben. Wir | |
importieren unsere Waren und exportieren unseren Müll, das heißt, wir sehen | |
beides nicht mehr, und da beginnt das moralische Empfinden zu versagen. Man | |
ist also darauf angewiesen, das alles auf die moralische Verstandesebene zu | |
bringen. | |
Fortschritt ist moralfeindlich? | |
Nein, empfindungsfeindlich. Wir müssen unsere Moral neu reflektieren, wir | |
müssen sie mit diesen neuen Bedingungen in Einklang bringen. | |
Moral ist demnach eine Frage der Bildung? | |
In dem Sinne, dass man sich nicht mehr auf die Empfindungen verlassen kann, | |
sondern Wissen über Fakten und Zusammenhänge braucht, muss man das so | |
sagen, ja. | |
Eine korrekte Ernährung kostet Geld. Sind Hartz-IV-Empfänger gezwungen, | |
sich unmoralisch zu verhalten? | |
Lohas können es sich leichter machen, mit entsprechend viel Geld richtig zu | |
leben. Das aber widerspricht dem zentralen Grundsatz von Kant, dass nur | |
richtig ist, was man sich widerspruchsfrei als allgemeines Gesetz denken | |
kann. Wenn ich aber genau weiß, dass sich mein Verhalten nicht | |
verallgemeinern lässt, weil es sich viele schlicht nicht leisten können, | |
dient es in erster Linie meinem Wohlbefinden. | |
Demnach wären Hähnchen im Plastiksarg auch okay? | |
Bei Tieren ist es anders, weil es Individuen sind. Wenn ich ein Hähnchen | |
für 3,50 Euro aus der Tiefkühltruhe nehme, dann weiß ich, dass dieses | |
spezielle Hähnchen meinetwegen ein miserables Leben hatte. Und weil es ein | |
leidensfähiges Wesen ist, kann ich das nicht vertreten. | |
In der Konsequenz müssen Hartz-IV-Bezieher beim Fleisch in die Röhre | |
schauen? | |
Die Frage ist: Lässt sich Tierquälerei - und das ist die industrielle | |
Massentierhaltung - rechtfertigen, um billiges Fleisch zu produzieren? | |
Meiner Ansicht nach: nein. Deshalb kommt man nicht darum herum: Wenn man | |
kein Geld für artgerecht gezogenes Fleisch hat, muss man den Fleischkonsum | |
entsprechend reduzieren. | |
Wohlhabende haben es auch bei der Moral leichter? | |
Vieles ist für die, die mehr Mittel haben, leichter, das muss man zugeben. | |
Das findet man schon bei Aristoteles. | |
Ist denn Profitmaximierung moralisch verwerflich? | |
Die Maximierung schon. Das beinhaltet ja, etwas auf die Spitze zu treiben - | |
und dann muss man anderes vernachlässigen. Eine Gewinnsteigerung würde ich | |
nicht als moralisch problematisch einstufen. Das Verfolgen eigener Zwecke | |
ist legitim und sogar positiv. Das ist zum Überleben notwendig und auch für | |
eine gesunde Persönlichkeit wichtig. Erst wenn es zulasten anderer geht, | |
indem ich ihnen schade oder sie vernachlässige, wird es negativ. | |
Warum verstärkt sich in einer modernen Welt etwas so Antiquiertes wie der | |
Wunsch nach Moral? | |
Weil die vorgegebenen Regeln schwächer werden. Während es früher berufene | |
Definitionsinstanzen gab - die Kirche etwa oder die Nachbarschaft -, gibt | |
es solche Kontrolle heute kaum noch. Weil wir aber keinen Zustand ohne | |
Moral wollen, benötigen wir etwas anderes, und das ist die Reflexion über | |
Moral. Das ersetzt, was früher in unhinterfragbaren Regeln vorgegeben | |
worden ist. | |
Dann wären Sie ein Pfarrer. Erteilen Sie Ihren Lesern die Absolution? | |
Das kann und will ich natürlich nicht. Aber es gibt gelegentlich diesen | |
Wunsch nach Absolution: Manchmal stellen mir Leute Fragen, die etwas getan | |
haben, von dem sie genau wissen, dass es falsch war. Durch die | |
Argumentation ihrer Frage wollen sie erreichen, dass ich sage: Das geht | |
schon in Ordnung. Ansonsten geht es oft einfach darum, dass die Menschen | |
die Außensicht brauchen. Ein guter Anwalt vertritt sich auch nie selbst, | |
weil man zu sehr in der eigenen Sicht verhaftet ist. | |
Gruselt Sie diese Sehnsucht nach festen Maßstäben, an denen die Menschen | |
ihr Leben ausgerichtet haben wollen? | |
Im Gegenteil, aber mich gruselt, wenn man die Entscheidung einem anderen | |
Menschen überantworten möchte. Die Sehnsucht nach der Instanz finde ich | |
komisch. Diese Sehnsucht etwa nach den alten Politikern, die teilweise nur | |
orakelhaft irgendwelche Brocken hinwerfen - und das wird wie eine | |
Erleuchtung angesehen. | |
Was sind die wichtigsten moralischen Grundsätze, die Kultur und Zeit | |
überdauern? | |
Die Achtung, das Verständnis und die Rücksicht. Die Achtung ist der Kern, | |
ich muss jeden Menschen als ebenbürtig achten. Dann lösen sich viele Fragen | |
etwa zur Toleranz und zur Lüge und zum Sozialen. Die zweite Stufe ist das | |
Verständnis, indem ich sage, ich achte nicht nur jeden Menschen, sondern | |
auch seine Individualität. Bis zu dem Punkt, wo er über seine | |
Individualität die anderer missachtet. Individualität kann nicht heißen, | |
ich unterdrücke andere Leute. Und als drittes die Rücksicht, sie | |
erleichtert das tägliche Leben . | |
Wie abgehoben ist es, sich beruflich mit Fragen der Alltagsmoral zu | |
beschäftigen? | |
Angesichts des Elends in der Welt ist die Frage teilweise zutreffend. Man | |
darf aber die großen Probleme nicht als Ausrede dafür verwenden, dass man | |
sich in den kleineren Dingen falsch verhalten darf. Einerseits die | |
Weltarmut bekämpfen und dann seine Frau oder seinen Mann mies behandeln. | |
Nach dem Recht der Scharia kann es geboten erscheinen, seine Frau zu | |
züchtigen. Darf man das moralisch verurteilen? | |
Darüber habe ich lange nachgedacht - ob man nicht seine eigenen Maßstäbe | |
anderen überstülpt - und bin letztlich zu dem Schluss gekommen: ja. | |
Menschen sind ungeachtet ihres Geschlechts gleichwertig, und das Geschlecht | |
ist kein moralisch vertretbarer Diskriminationsfaktor. Auch wenn das | |
vielleicht anders im Koran oder in der Bibel steht. | |
Stehen Moral und Freiheit in einem zwiespältigen Verhältnis? | |
Ich glaube, Moral und Willkür stehen so zueinander: Mein Recht, meine Faust | |
zu schwingen, endet - frei nach Oliver Wendel Holmes jr. - vor der Nase des | |
Nächsten. | |
Auf welche Frage haben Sie keine Antwort? | |
Auf viele Fragen. Zum Beispiel das Verhältnis von persönlichem Lebensglück | |
und sozialer Verantwortung. Gauguin hat seine Familie verlassen und ist in | |
die Südsee gefahren, um zu malen. Er hat sich selbst verwirklicht, | |
großartige Kunst geschaffen, aber dafür seine Familie im Stich gelassen. | |
Egoismus versus Moral? | |
Das Verhältnis der Individualethik zur Sozialethik. Ich bin ja auch ein | |
Mensch. Ich habe die gleichen Rechte zu fordern wie alle anderen. Es wäre | |
nach Kant eine in sich widerstreitende Maxime, wenn ich meine | |
Glückseligkeit aufgebe, um die der anderen zu fördern. | |
Wie wichtig sind die unmoralischen Menschen für die Moral? | |
Die sind zur Abgrenzung wohl notwendig. Das schlechte Verhalten ist der | |
intellektuelle Grund für die Beschäftigung mit der Moral, also dafür, sich | |
zu überlegen, was richtig ist und was falsch. | |
Eine Gesellschaft, in der sich alle an die geltenden Regeln halten würden, | |
wäre wenig innovativ und stinklangweilig. | |
Mit dem Wunsch, moralisch die Sau rauszulassen, habe ich ein Problem. Das | |
kann man nur wollen, wenn man eine überholte Vorstellung von Moral hat. | |
Nach meiner Definition dient Moral dazu, das Zusammenleben zu ermöglichen, | |
dagegen kann man kaum verstoßen wollen. | |
Welche moralische Frage beschäftigt Sie derzeit am dringlichsten? | |
Die der falschen Gefühle. | |
Hört sich irgendwie schlüpfrig an. Was sind das denn für Gefühle? | |
Es geht um Dinge wie Schadenfreude, die man empfindet, obwohl man weiß, | |
dass sie falsch ist und man sie nicht empfinden will. Oder noch | |
schwieriger: Jemand wartet auf ein Organ zur Transplantation und weiß, er | |
kann nur ein neues Herz bekommen, wenn ein anderer stirbt. Wenn er aus dem | |
Fenster schaut, und draußen ist schönes Motorradfahrer-Sommerwetter, dann | |
weiß er: Ich habe jetzt mehr Chancen als im November. Er wünscht niemandem | |
den Tod, aber er hofft für sich. Wie das moralisch einzuordnen ist, da weiß | |
ich keine rechte Antwort. | |
Was war das Unmoralischste, was Sie bisher in Ihrem Leben getan haben? | |
Das fällt mir jetzt aus dem Stegreif nicht ein. Und wenn es mir einfällt, | |
gehört es per definitionem zu den Dingen, die man wohl besser nicht | |
öffentlich äußert. | |
21 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Kai Schlieter | |
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