# taz.de -- Warum Grüne den Richtungskampf pflegen: Links oder Realo? | |
> Ein Thema, zwei Meinungen. Die alten Richtungskämpfe sind überwunden, | |
> doch die Grünen halten an der Erzählung fest. Sie lässt sie | |
> prinzipienfest erscheinen. | |
Bild: Lachen dürfen sie gemeinsam, aber er muss "Realo" sein, sie "Links": Öz… | |
BERLIN taz | Ist das kleine Mädchen nicht süß? Im weißen Kleid huscht sie | |
zwischen den Beinen der Parteitagsdelegierten umher. Wenn einer der | |
Grünen-Redner Applaus erhält, klatscht die Kleine ebenfalls in die Hände. | |
Die Bildregie des Parteitags zeigt das Mädchen auf Großleinwänden, abends | |
ist es im Fernsehen zu sehen. | |
Denn das Bild passt nur zu gut zum Image von der Partei, die sich ihre | |
Andersartigkeit bewahrt hat. Dabei handelt es sich bei dem Mädchen gar | |
nicht um Grünen-Nachwuchs, sondern um die Tochter einer Frau, die an einem | |
der vielen Sponsorenstände in der Nebenhalle arbeitet. Wenige Tage zuvor | |
war das Kind schon einmal im Fernsehen: auf Bildern vom CDU-Parteitag in | |
Karlsruhe. | |
Diese Anekdote illustriert, wie wirkungsmächtig die Erzählung ist, die | |
Grüne bis heute von sich verbreiten: Die Grünen, das sind die, die | |
gesellschaftliche Konventionen aufbrechen; die, die auf mal nervige, mal | |
sympathische Art anders sind. Von dieser Erzählung möchten sich weder die | |
Funktionäre der Partei noch die wachsende Zahl ihrer Anhänger | |
verabschieden. Denn dieses Image ist nützlich. | |
"Die Positionen in der Partei sind heute nicht mehr so weit voneinander | |
entfernt wie einst", sagt der Parteienforscher Carsten Koschmieder von der | |
Freien Universität Berlin. Es gebe "zwar immer wieder ernsthaften Streit | |
bei bestimmten Themen, etwa beim Afghanistan-Einsatz oder bei der Haltung | |
zu Libyen". | |
Aber Streit gehe nie so weit, dass er den Machterhalt gefährde. Bestes | |
Beispiel dafür sei das Verhalten bei der Afghanistan-Abstimmung Ende 2001. | |
Damals waren acht grüne Abgeordnete, darunter der Vorzeigelinke | |
Hans-Christian Ströbele, gegen den Bundeswehreinsatz. Sie verständigten | |
sich jedoch untereinander, dass nur vier von ihnen gegen das Mandat | |
stimmten, die anderen vier dafür. Die rot-grüne Mehrheit stand. | |
## Mächtige ideologische Spannbreite | |
Das Image der zerrissenen Partei ist so alt wie die Partei selbst. Bei | |
ihrer Gründung 1980 trafen Vertreter der Neuen Sozialen Bewegungen, Leute | |
aus K-Gruppen, christlich oder anarchistisch beeinflusste Aktivisten, | |
vormalige Sozialdemokraten und Wertkonservative aufeinander. Die | |
ideologische Spannbreite reichte von konservativen Politikern wie dem | |
früheren CDU-Mann Herbert Gruhl und den rechtslastigen Landwirten um Baldur | |
Springmann bis zu den RadikalögologInnen um Jutta Ditfurth und den | |
Ökosozialisten um Rainer Trampert und Thomas Ebermann. | |
Zum zentralen Konflikt entwickelte sich bald die Auseinandersetzung | |
zwischen den "Realos" und den "Fundis". Während die Realos um Joschka | |
Fischer in Hessen an der ersten Regierung mit der SPD auf Länderebene | |
arbeiteten, wuchs parteiintern die Macht der Fundis, die auf einer | |
grundsätzlichen Opposition zum "System" beharrten und Regierungsbeteiligung | |
skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Ditfurth und Trampert übernahmen | |
zwei der drei Posten als Parteisprecher; die "Realo-Fundi-Kontroverse" | |
drohte die Partei zu zerreißen. | |
Ein halbes Jahrzehnt wogte der Konflikt, und er wurde so erbittert und vor | |
aller Augen geführt, dass die Erinnerung daran bis heute prägend ist für | |
Bild und Selbstbild der Partei. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung | |
schrieben Fischer, sein Vertrauter Hubert Kleinert und andere in einem | |
Entwurf eines Realo-Manifests: Ansprechpartner der Grünen sei der | |
"städtisch liberale, an seinen individuellen Lebensentwürfen zuerst | |
orientierte, konsumfreudige Citoyen, der zugleich gegen Atomkraft und | |
ökologischen Wahnsinn nicht nur protestiert, ebenso wie er den | |
ausgegrenzten und von neuer Armut betroffenen Minderheiten sich | |
verpflichtet weiß". Das klingt wie eine Beschreibung der | |
Grünen-Sympathisanten von heute, stammt aber aus dem Jahr 1988. | |
## Seit 20 Jahren Geschichte | |
Bald darauf verloren die Linken ihren Einfluss. Im Frühjahr 1990 verließen | |
die Ökosozialisten um Ebermann und Trampert die Partei. Hinzu kam die | |
Verschmelzung der Partei mit der eher wertkonservativen ostdeutschen | |
Bürgerrechtspartei Bündnis 90, die die Macht der verbliebenen Fundis weiter | |
schwinden ließ. Auf der Bundesversammlung in Neumünster schließlich hielt | |
Jutta Ditfurth am 28. April 1991 ihre Abschiedsrede. Die Grünen seien eine | |
"autoritäre, dogmatische, hierarchische Partei" geworden, rief Ditfurth. | |
"Sie sind kein basisdemokratisches Projekt mehr, nicht einmal mehr | |
radikaldemokratisch." Ditfurth und rund 300 Radikalökologen verließen | |
wenige Tage darauf die Partei. Seitdem, seit gut 20 Jahren also, ist die | |
Auseinandersetzung zwischen Realos und Fundis Geschichte. | |
Trotzdem geistert das Wort "Fundi" bis heute durch Medienberichte über | |
linke Grüne. Dabei sind die heutigen Auseinandersetzungen nur ein leiser | |
Nachhall der ideologischen Konflikte von einst. Doch etwas Wichtiges aus | |
jener Zeit ist geblieben: die offizielle Unterscheidung in einen linken und | |
einen rechten Parteiflügel, in "Linke" und "Realos". Nach dieser Logik | |
werden bis heute wichtige Posten besetzt: je ein Parteivorsitzender gilt | |
als links (Claudia Roth), einer als rechts (Cem Özdemir). Dasselbe gilt | |
beim Vorsitz der Bundestagsfraktion. Jürgen Trittin, der Linke, und Renate | |
Künast, die Reala. Grüne berichten, Neumitglieder würden bereits kurz nach | |
Parteieintritt eingeordnet in das eine oder andere Lager. So pflanzt sich | |
eine Unterscheidung fort, die immer weniger mit der wahren Zusammensetzung | |
der Partei zu tun hat. | |
Doch diese erweist sich als machtpolitisch praktisch: Inhaltliche | |
Kontroversen führen nicht mehr zu offenen Machtkämpfen, wenn die Führung | |
zwei unterschiedliche Meinungen vertreten kann. Die lange umstrittene | |
Doppelspitze machts möglich. Diese leiste "einen wichtigen Beitrag zur | |
Geschlossenheit in den letzten Jahren", urteilt Koparteichefin Roth. Das | |
Führungsduo schmiede "aus Flügelkontroversen gemeinsame Positionen", | |
repräsentiere zugleich "die Partei in ihrer Vielfalt und auch | |
Unterschiedlichkeit". | |
## Die Pluralität lässt prinzipienfest wirken | |
Ein Thema, zwei Meinungen. Was anderen Parteien als Beliebigkeit | |
vorgehalten würde, scheint den Grünen gar zu nutzen. Die Partei gilt als | |
besonders prinzipienfest. Die Forschungsgruppe Wahlen erklärte Anfang | |
April, 62 Prozent der von ihr Befragten bezeichneten die Grünen als | |
glaubwürdig. Abgeschlagen auf Platz zwei: die SPD mit 45 Prozent. | |
Selbst die Frage, die vor einigen Jahren noch Realos und Linke spaltete, | |
ist inzwischen keine Glaubensfrage mehr: "Wir schließen eine Koalition mit | |
der CDU nicht unter allen Umständen aus", sagt etwa der Haushaltspolitiker | |
Sven-Christian Kindler, ein aufstrebender Parteilinker aus der | |
Bundestagsfraktion. Wenngleich er hinzufügt, mit der der SPD "deutlich mehr | |
Gemeinsamkeiten" in der Sozial-, Bildungs- oder der Steuerpolitik | |
bestünden. | |
Dass auch Parteilinke Schwarz-Grün nicht mehr grundsätzlich ablehnen, hat | |
seine Gründe. Die Realos sind heute so dominant, dass die Linke ihre Felle | |
davonschwimmen sieht. "Einige Teile der Partei scheinen zu denken, dass die | |
Grünen in Baden-Württemberg wegen eines Kurses der Mitte gewonnen haben", | |
sagt die Vorsitzende der Grünen Jugend, Gesine Agena. Diese Interpretation | |
liegt nahe, liebäugelte der Spitzenkandidat Winfried Kretschmann doch schon | |
in den Achtzigerjahren, als einer der Wortführer des ökolibertären | |
Parteiflügels, mit Schwarz-Grün. Agena hält dagegen: "Dabei liegt es daran, | |
dass es eine klare Polarisierung gab: Rot-Grün gegen Schwarz-Gelb." | |
Kindler assistiert, die Grünen seien so erfolgreich, weil sie eine | |
"profilierte linke Partei" seien. "Wer meint, dass die Grünen jetzt schnell | |
in die schwammige Mitte müssen, gefährdet unseren Markenkern. Wollen wir | |
wirklich eine Wischiwaschi-Volkspartei werden?" | |
## Die unerschütterliche Erzählung der Grünen | |
Solche Forderungen nach einer Festlegung der Grünen auf ein Lager links der | |
Mitte beeindrucken die Schwarz-Grün-Befürworter wenig. Massenhafte | |
Austritte wegen Koalitionen mit der Union fürchten sie nicht mehr. Die | |
Kritiker des Mittekurses wollen schließlich selbst Karriere machen. Zudem | |
fällt die Linkspartei durch Intrigen und ungeklärte Richtungsdebatten als | |
Koalitionspartner aus. Wer will schon darauf vertrauen, dass die derzeitige | |
Umfragemehrheit für Rot-Grün auch im Herbst 2013 bestehen wird? | |
Nichts bringt das Bild von der prinzipienfesten Partei ins Wanken: Im | |
nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf 2010 machte sie einen | |
Rot-Grün-Wahlkampf - schlossen aber eine Koalition mit der CDU nie aus. In | |
Baden-Württemberg bildet ein Grünen-Spitzenkandidat, der über Jahrzehnte | |
für Schwarz-Grün geworben hat, eine grün-rote Landesregierung. | |
Im Wahlkampf ums Berliner Abgeordnetenhaus setzt der vermeintlich linke | |
Landesverband auf eine mögliche Regierungsmehrheit mit der Union. Anfang | |
November 2010 erklärte Renate Künast bei einer mediengerecht inszenierten | |
Veranstaltung: "Ich bin bereit, ich kandidiere für das Amt der Regierenden | |
Bürgermeisterin von Berlin." Tosender Applaus im Museum für Kommunikation. | |
Parteimitglieder klagten später intern, sie hätten Künast ja noch gar nicht | |
gewählt, sie würden vor vollendete Tatsachen gestellt. Wenige Tage später | |
folgte Künasts offizielle Wahl. Einstimmig. | |
21 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Matthias Lohre | |
Matthias Lohre | |
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Grüne | |
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