# taz.de -- Kolumne Knapp überm Boulevard: Die sexuelle Ausnahme | |
> Der Popstar darf ungeniert genießen. Einzig Zwang und Gewalt gehören | |
> nicht dazu. Nicht aus moralischen Gründen, sondern weil wahres Genießen | |
> nur jenes ist, das dem Star zufällt. | |
Bild: Pate? Popstar? Perp-Walk: Ob schuldig oder nicht - DSK ist entauratisiert. | |
Wir sind zurzeit über die Maßen mit der ausufernden Libido älterer Herren | |
mit Macht konfrontiert. An Berlusconis Bunga-Bunga mit sehr jungen | |
Prostituierten war man fast schon gewöhnt, aber nun auch noch DSK mit dem | |
Zimmermädchen und Arnie mit der Haushaltshilfe! Wobei einzig der Fall | |
Strauss-Kahn und dessen Verhaftung wirklich Empörung auslöste. Aber geht es | |
bei dieser Erregung um Moral? Sogar um unterschiedliche Moralvorstellungen? | |
Frankreich - das sei die "sexuelle Ausnahme", ausschweifend und frivol im | |
Gegensatz zu den prüden USA, wie uns derzeit ständig versichert wird. | |
Vielleicht geht es aber um einen ganz anderen Unterschied und die "sexuelle | |
Ausnahme" ist nichts Nationales, nichts, was manche Nationen kennen und | |
andere nicht. Denn jede dieser Gesellschaften sondert Individuen aus, die | |
dürfen, was anderen nicht zusteht. Die sexuelle Ausnahme ist nicht an | |
Ländern festzumachen, sondern an Figuren. | |
Damit sind nicht die Männer im Allgemeinen gemeint, wie der neu belebte | |
feministische Diskurs behauptet. Auch nicht einfach Politiker. Ein | |
Kommentator schrieb, die lustvolle Spaßgesellschaft sei prüde bei ihren | |
politischen Repräsentanten. Aber das ist eine überholte Vorstellung. Bis in | |
die 60er Jahre sollten Politiker moralische Autoritäten sein - sie sollten | |
moralischen Ansprüchen genügen und taten es nicht immer. Der entscheidende | |
Unterschied: Heute sollen sie das nicht einmal mehr. Denn das Bedürfnis, | |
das Politiker früher befriedigen mussten, war das nach Sicherheit, Schutz | |
und Versorgung. Das erforderte einen moralischen Typus. | |
Das Bedürfnis, um das es heute vorwiegend auch in der Politik geht, ist ein | |
anderes. Dieses wird von Politikern nur dann gestillt, wenn sie auch | |
Prominente sind. Wobei "prominent" nicht ganz das richtige Wort ist. Die | |
heutigen Ausnahmefiguren sind die Popstars. Der Status Popstar beschränkt | |
sich ja längst nicht mehr auf erfolgreiche Musiker. Popstar ist vielmehr | |
das, was aus dem früheren Charisma geworden ist. War Charisma das | |
Versprechen von etwas Außeralltäglichem, so ist der Popstar jener, dem man | |
zuspricht, das pralle, volle, echte Leben zu leben. Jenes Leben, nach dem | |
wir uns alle sehnen. Der Popstar lebt es an unserer Stelle. Er genießt für | |
uns. Popstars dürfen nicht nur, was anderen verboten ist, sie sind dazu | |
geradezu verpflichtet. Etwa zur Promiskuität. Das ist Teil ihrer Aura. Das, | |
was dem Durchschnittsbürger bestenfalls verziehen wird, muss der Popstar - | |
auch der Popstar unter den Politikern - erfüllen: unsere Imagination von | |
ganzem Genießen. Nun gibt es diesen Status in unterschiedlichen | |
Dosierungen, ja selbst Frauen können ihn erlangen (wenn auch meist nicht | |
durch Macht). Das beste Beispiel dafür ist pikanterweise Carla Bruni, die | |
Frau von DSKs Gegenspieler, die der Inbegriff des sich selbst | |
ermächtigenden Groupies war. | |
Der Popstar darf voll und ungeniert genießen. Einzig Zwang und Gewalt | |
gehören da nicht dazu. Nicht aus moralischen Gründen, sondern weil wahres | |
Genießen nur jenes ist, das dem Star zufällt. Vergewaltigung bedeutet das | |
Ende des Popstar-Status, weil damit das Genießen nicht mehr glaubhaft | |
verkörpert werden kann. Dann entzieht das Publikum die sexuelle Ausnahme | |
und wendet sich ab. Das ist keine Frage der Sittlichkeit, sondern der | |
Entzauberung. Und weil die Empörung keine moralische ist, gilt unser | |
Interesse meist nicht dem Opfer, sondern dem Täter. Das Zimmermädchen mag | |
engagierte Feministinnen interessieren, dem großen Publikum geht es um DSK. | |
Daher rührt auch die Aufregung über dessen "perp walk": Der öffentliche | |
Gang zum Haftrichter lieferte das Bild seiner "Kastration", das sichtbare | |
Ende seines Sonderstatus. Ob schuldig oder nicht - DSK ist entauratisiert. | |
Danach kann er nichts mehr werden. Wir sollten diese Abwendung nicht mit | |
Moral verwechseln. | |
Und dann ist da noch eines: Strauss-Kahn gelingt es, in unglaublicher Weise | |
sämtliche antisemitischen Klischees zu erfüllen: Sozialist und Geldmacht, | |
Machenschaften und Überzeugungen und dann auch noch die hemmungslose, | |
unersättliche Libido. Ich hoffe wirklich, dass er unschuldig ist. | |
23 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Isolde Charim | |
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