# taz.de -- 40 Jahre Synanon: Drinbleiben heißt clean bleiben | |
> Zu Synanon kommen Süchtige, wenn gar nichts mehr geht. Die Regeln sind | |
> streng, völlige Abstinenz ist die ultimative Bedingung fürs Bleiben. | |
Bild: Weg von der Droge: Bei Synanon gibt es nur den Weg der absoluten Abstinen… | |
„Da dürfen Sie sich nicht draufsetzen!“ Die Holzbank im Eingangsbereich des | |
Synanon-Hauses ist eine besondere Bank. „Wer sich da hinsetzt, wird | |
entweder aufgenommen oder entlassen“, sagt Jürgen vom Empfang. Er ist | |
Alkoholiker, um die 50. Vor zwei Jahren hat er bei Synanon seinen 1. | |
„Clean-Geburtstag“ gefeiert. | |
Hundert Süchtige leben im Haus in der Bernburger Straße, unweit des | |
Anhalter Bahnhofs. Fast alle sind Männer. Junkies, Säufer, Kiffer, Kokser. | |
Schulabbrecher, Mechaniker, Rechtsanwälte, Professoren. Raue Typen mit | |
Armen voller Knast-Tattoos und stille Jungs, die die Einsamkeit am Computer | |
mit Drogen füllten. Die meisten kommen, wenn nichts mehr geht. Synanon gilt | |
als harter Entzug. Es kursieren Gerüchte über sektenartige Strukturen und | |
Gehirnwäsche. | |
Tatsächlich träumten sieben Studenten, allesamt drogenfreie Fixer, in den | |
Siebzigern von einer Lebensgemeinschaft außerhalb der Konsumgesellschaft. | |
Die Idee, sich selbst aus der Sucht zu befreien, kam aus den USA. In der | |
Synanon-Welt der Siebziger und Achtziger trugen die Bewohner kurz | |
geschorenes Haar, auf eigenen Feldern in Westdeutschland wuchs | |
biodynamisches Gemüse. Es gab Hochzeiten, ein Kinderhaus und | |
Gruppensitzungen, die „Spiele“ hießen. | |
Als Frank Schmidt 1992 zu Synanon kam, hatte er zwei Knastaufenthalte, zwei | |
erfolglose Langzeittherapien und 15 Jahre an der Nadel hinter sich. Die | |
Krankenkasse wollte dem Heroinabhängigen keine weitere Therapie bezahlen – | |
mangels Erfolgsaussichten. Zu Synanon wollte Schmidt erst nicht: „ | |
,Lebensgemeinschaft' klang für mich zu sehr nach Sekte.“ Aber er hatte | |
nichts mehr zu verlieren. Er setzte sich auf die Holzbank und blieb fünf | |
Jahre im Haus. „Draußen“ starb seine Exfrau an einer Überdosis. Schmidt | |
blieb clean, heiratete wieder, lief Halbmarathon, legte sich einen | |
Kleingarten zu. Seit 2000 ist der 50-Jährige stellvertretender Vorsitzender | |
und Hausleiter bei Synanon. | |
## „Methadon stellt ruhig. Wir wollen richtig leben“ | |
„Synanon ist nicht hart und hat auch nichts mit einer Sekte zu tun“, sagt | |
Schmidt heute. „Es gibt nur klare Regeln.“ Wer sich auf die Bank setzt, um | |
zu bleiben, muss die drei Hausregeln akzeptieren: keine Drogen, keine | |
Gewalt, kein Tabak. Das Rauchverbot schrecke vor allem Jugendliche ab, sagt | |
Schmidt. Aber absolute Abstinenz sei die Grundidee von Synanon – und der | |
große Unterschied zu den meisten anderen Drogenprojekten der Stadt. | |
Substitutionsprodukte gibt es bei Synanon nicht. „Methadon stellt ruhig. | |
Wir wollen richtig leben“, sagt Schmidt. | |
Auf die Holzbank setzen sich gläubige Muslime, Linksautonome, | |
Rechtsradikale, Menschen aller sozialen Schichten. Im Aufnahmebereich | |
müssen sie sich ausziehen, duschen, bekommen neue Sachen. Weder Handy noch | |
Geld dürfen mit ins Haus. Nächste Station ist ein helles Zimmer mit sechs | |
Betten. Auf den Matratzen sind Gummibezüge, die Bettwäsche ist chemisch | |
gereinigt. Es riecht streng. „Hier findet der Entzug statt“, erklärt | |
Schmidt. | |
Manche kommen nur für eine Nacht – für ein warmes Bett, eine Mahlzeit, eine | |
Dusche. Wer bleibt, trägt die ersten vier Wochen den Synanon-Blaumann und | |
ordnet sich dem strengen Tagesablauf unter: Um sechs Uhr aufstehen, | |
duschen, rasieren, Frühstück, Arbeit im Haus oder in einem der | |
Synanon-Betriebe, duschen, Abendbrot, etwas Freizeit. Montags geht es „auf | |
die Gruppe“, wie die Sitzungen heute heißen. Die ersten drei Monate | |
verbringen die Neuankömmlinge in Mehrbettzimmern, ohne Handy, Fernseher und | |
Internet, mit 15 Euro Taschengeld im Monat. Es herrscht Kontaktsperre zur | |
Außenwelt, verlassen wird das Haus nur in Begleitung. Wer gegen eine der | |
Hausregeln verstößt, fliegt raus. Sofort. | |
Thomas hat sich am 31. Dezember 2009 auf die Synanon-Bank gesetzt. „Noch | |
einmal Silvester ging nicht.“ Der blasse 27-Jährige vegetierte vor dem | |
Computer dahin, mit Unmengen Alkohol und Marihuana. Er hatte seine Wohnung | |
verloren, versank in Schulden. „Als mein Vater sagte, er habe keine Kraft | |
mehr, zu helfen, bin ich hergekommen.“ Inzwischen arbeitet er in der Küche. | |
Für die 40-Jahr-Feier müssen der menschenscheue Thomas und sein Team für | |
hunderte Gäste kochen. „Ich lerne hier auszuhalten“, sagt er und meint die | |
Situationen, in denen er früher zum Alkohol griff. | |
## Schule des Lebens | |
Nach den ersten Monaten kommen die Synanon-Bewohner in einen der Betriebe | |
des Vereins. Es gibt ein Reinigungsunternehmen, die Wäscherei, einen | |
Cateringbetrieb, die Reitschule. Bekannt sind vor allem die Synanon-Umzüge | |
mit ihren weißen Lastern. So fing in den Siebzigern auch alles an. | |
Damals hatte die Polizei „Bärchen“ vorbeigebracht: einen ausrangierten | |
Transporter, mit dem die Synanon-Gründer ihre Lebensgemeinschaft | |
finanzierten. Rund acht Personen lebten im Haus, damals noch in der | |
Oranienstraße. Im Lauf der Jahre kamen mehr und mehr Abhängige, Häuser auf | |
dem Land und anthroposophische Ideen dazu. Vom amerikanischen Vorbild mit | |
zunehmend sektiererischen Auswüchsen distanzierte man sich Ende der | |
Siebziger. | |
Nach der Wende brach ein Ansturm auf Synanon los, dem das selbst verwaltete | |
Projekt kaum gewachsen war. Bis zu 500 Abhängige lebten zeitweilig in der | |
Gemeinschaft. Mitte der Neunziger prallte der einstige Idealismus auf einen | |
Berg von Schulden. Synanon stand vor dem Aus und konnte nur durch radikale | |
Umstrukturierung gerettet werden. Die Lebensgemeinschaft wurde, was sie | |
heute ist: „Eine Lebensschule, die auf ein normales Leben ohne Drogen | |
vorbereitet“, sagt Frank Schmidt. | |
Normalität hat Matthias, ein bulliger Typ mit selbst gestochenen Tattoos, | |
nie gehabt. Seit seinem 12. Lebensjahr hat er „durchgesoffen“ – immer | |
Schnaps. Matthias hat seine Familie verloren, seinen Job, alle Freunde. | |
Nach der 50. Entgiftung hat er aufgehört zu zählen. 2006, mit 37 Jahren, | |
war er fertig, hatte unkontrollierbare Krampfanfälle, lag nur noch im | |
Krankenhaus. | |
Bei Synanon habe er die enge Struktur gefunden, die er allein nicht | |
hinbekam, sagt Matthias. Inzwischen liegen drei Jahre Ausbildung hinter | |
ihm. In zwei Wochen macht der 42-Jährige seine Gesellenprüfung zum Glas- | |
und Gebäudereiniger. In seinem Zimmer im Synanon-Haus hat er Dutzende | |
Bilder von den Beatles aufgehängt. „Ich werde noch eine Weile hierbleiben“, | |
sagt Matthias. Die Angst vor einem Rückfall in der Welt da draußen sei zu | |
groß. Zu viele habe er gesehen, die wieder Platz nehmen mussten. Auf der | |
Holzbank am Eingang zum Synanon-Haus. | |
26 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
## TAGS | |
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte | |
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