# taz.de -- Bewusstseinswandel in der Wachstumsfrage: Weltuntergang vor dem Abe… | |
> Dauerwachstum, Ressourcenverbrauch, Lärm. Nichts ist falscher als die | |
> Annahme, Familien oder gar Kinder seien die Garanten für eine | |
> zukunftsfähige Gesellschaft. | |
Bild: Wenn wir die Erde tatsächlich von unseren Kindern geliehen haben, müsse… | |
BERLIN taz | Der weiße Fußballschuh Größe 31 fliegt durch den Flur unserer | |
Wohnung. "Die sind zu eng, ich brauch neue", mault unser Siebenjähriger. | |
"Guckt mal, ich bin jetzt 1,40 Meter!", strahlt unsere Tochter, die mit | |
Bleistift am Türrahmen ihre neuen Maße einträgt. | |
Und ihr großer Bruder sieht nicht ein, warum in seinem Zimmer nicht Licht | |
brennen soll, wenn er unterwegs ist: "Was denn? Ich denke, wir haben | |
Ökostrom!" | |
So sieht die Debatte über Wachstum und Ressourcenverbrauch bei uns zu Hause | |
aus. Drei von fünf Familienmitgliedern haben die Grenzen ihres Wachstums | |
noch lange nicht erreicht. Sie legen zu wie sonst nur asiatische | |
Tigerstaaten oder Rüstungsunternehmen. Die Eltern bemühen sich, mit dem | |
Wachstum der kindlichen Grenzen Schritt zu halten. Und der ökologische | |
Fußabdruck einer Familie mit drei Kindern – Mittelschicht, Innenstadt, | |
eineinhalb Vegetarier – hat etwa Schuhgröße 67. | |
## Konsumterror, räuberische Erpressung, Ressourcenverschwendung | |
Denn nichts ist falscher als die Annahme, Familien oder gar Kinder seien | |
die Garanten für eine zukunftsfähige Gesellschaft. Wer wie Herbert | |
Grönemeyer "Kinder an die Macht!" fordert, der nimmt den Weltuntergang noch | |
vor dem Abendessen in Kauf: Konsumterror, räuberische Erpressung und | |
Ressourcenverschwendung wären an der Tagesordnung. Wahr ist: Kinder sind | |
Umweltbengel. Unter "Postwachstum" verstehen sie, dass es immer mehr | |
Briefträger gibt. An einer der schlimmsten Umweltgefahren - Lärm - wirken | |
sie voller Begeisterung mit. Und ganz unbewusst bringen sie allein durch | |
ihr Erscheinen die Eltern von Pfad der Ökotugend ab. | |
Denn kaum ist der Schwangerschaftstest positiv, werden wir zwar | |
hypersensibel, was die abstrakten Fragen von Zukunftssicherheit und | |
Verantwortung angeht – aber im praktischen Leben tauschen wir schnell das | |
"Gut leben" gegen das "Viel haben": Ein neues Auto muss her, ein Kombi oder | |
Schlimmeres; die neue Wohnung hat zwei Zimmer mehr; für die Biomöhren | |
fahren die frischgebackenen Eltern ans andere Ende der Stadt; und der | |
Krempel, der einem ab sofort in Form von Strampelanzügen, Kuscheltieren | |
oder Plastiktelefonen ins Haus kriecht, versaut noch die vorbildlichste | |
Bilanz beim Mülltrennen. | |
Die ökologischen Schäden, die wir aufgeklärten Postmaterialisten anrichten, | |
sind deutlich größer als das, was unsere ökomäßig ignoranten Eltern in der | |
letzten Generation veranstaltet haben: Wir fahren mehr in dickeren Autos, | |
wir essen exquisiter, unsere Fernreisen gehen weiter als bis nach | |
Österreich. | |
## Die Kinder sollen es nicht besser haben | |
Nur eines machen wir besser: Wir sagen nicht mehr: "Ihr sollt es mal besser | |
haben als wir." Das ist ein echter Fortschritt. Denn diese Erwartung, die | |
wir als Kinder von allen Seiten zu hören bekamen, ist inzwischen so | |
ausgestorben wie der chinesische Flussdelfin. Der Gedanke ist offenbar aus | |
der Mittelschicht ausgewandert. | |
Und das zeugt erst einmal von einer realistischen Weltsicht. Denn | |
tatsächlich ist Deutschland heute im Weltmaßstab reich, sicher und grün wie | |
noch nie, ein angenehmer Ort zum Leben mit Trinkwasser aus dem Wasserhahn. | |
Dieses Niveau zu halten, stellt die nächsten Generationen schon mal vor | |
eine echte Herausforderung. Denn wir wissen auch: Der Staat ist pleite, so | |
viel Geld für soziale Programme wie in unserer Jugend wird es nie wieder | |
geben. Und wir ahnen: Unseren Reichtum haben wir und unsere Eltern mit | |
einer Art des Lebens und Wirtschaftens erkauft, für die jetzt langsam die | |
Rechnung fällig wird: Staatsschulden, Artenschwund, Atommüll. | |
Denn so sehr wir über die heutigen Zustände jammern – das ist alles noch in | |
Butter, wenn wir es mit den Aussichten für unsere Kinder vergleichen: ein | |
Sozialsystem, dessen Finanzierung schwieriger wird, eine Umweltkrise, die | |
sich beschleunigt, eine Wirtschaftsordnung, die sich und uns gegen die Wand | |
fährt. | |
## Das Ende des "Ihr sollt es einmal besser haben" | |
Deshalb ist das Ende von "Ihr sollt es einmal besser haben" auch eine große | |
Chance. Der Wachstumsbefehl aus den Wirtschaftswunderjahren ist Geschichte. | |
Der Glaube daran, dass ein fossil befeuertes großes Rad von Technologie, | |
massivem Kapitaleinsatz und täglicher Hetze weitergedreht werden muss, wird | |
zunehmend säkularisiert zur Frage: Bringt uns das wirklich weiter? Die | |
Idee, große Probleme mit großen Antworten zu lösen, ist von gestern und | |
wird bei der Atomkraft oder der Gentechnik ad absurdum geführt. | |
Meine Kinder brauchen eher weniger als mehr Wirtschaftswachstum der | |
herkömmlichen Art, bei dem sich auch die Aufräumarbeiten nach dem Super-GAU | |
positiv niederschlagen. Nur so sollte die Rückzahlung des Darlehens | |
aussehen, das wir bei der kommenden Generation aufgenommen haben. Denn wenn | |
wir die Erde tatsächlich nur von unseren Kindern geliehen haben, müssen wir | |
sie ja irgendwann zurückgeben. Und zwar nicht nur funktionsfähig – sondern | |
in besserem Zustand als vorher. Sagte jedenfalls schon Karl Marx (ja, genau | |
der!). | |
## Basisdemokratie ist auch keine Lösung | |
Aber die Brutpflege macht uns nicht nur deutlich, wo unsere Grenzen liegen | |
sollten. Sie zeigt auch, dass Basisdemokratie nicht immer die Antwort ist. | |
Denn trotz aller Diskussionskultur um Stuttgart 21 oder Wachbleiben bis 22 | |
Uhr muss irgendwann mal Schluss der Debatte sein. Einen Familienrat mit | |
gewissen diktatorischen Vollmachten, die bei mir liegen, wäre zum Beispiel | |
auch ein gutes Vorbild für die 193 Staaten in den UN-Klimaverhandlungen. | |
Am Bewusstseinswandel in der Wachstumsfrage haben Kinder einen großen | |
Anteil. Denn nichts wirkt so entschleunigend wie ein paar Jahre mit ein | |
paar Kleinkindern zu Hause. Ich spreche da aus Erfahrung: Sicher, weite | |
Teile des Großhirns sterben langsam ab, wenn man sich permanent zwischen | |
Wachkoma und Windelwechseln bewegt. Aber der heilsame Abstand, den man | |
dadurch zum Rattenrennen der Arbeitswelt bekommt, schließt sich auch später | |
nie wieder ganz. Die Chefin ist sauer? Na, so schlimm wie Tinas Wutanfälle | |
kann es nicht sein. | |
Unser Familienleben oszilliert also zwischen Konsumwahnsinn und | |
Konsumkritik. Und auch das Wachstum und seine Kritik verlaufen in Schüben. | |
Geben Sie uns noch 15 Jahre. Dann ist unser Jüngster 22 Jahre alt und | |
erreicht gerade die Phase des Postwachstums. Ich bin dann 60. Dann können | |
wir meinetwegen auch mal über Schrumpfungsprozesse reden. | |
11 Jun 2011 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
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