# taz.de -- Schwule und Lesben zum CSD: Schluss mit Hedonismus. Und dann? | |
> Jedes Jahr feiern Schwule und Lesben weltweit den CSD. Auch wenn sie an | |
> diesem Tag gemeinsam für ihre Rechte demonstrieren - die Communities sind | |
> ansonsten gern unter sich. 3 Meinungen. | |
Bild: Spaßgesellschaft und so: "Schwule werden als übersexuelle Wesen wahrgen… | |
Politisiert statt lustvoll | |
Der schwule CSD-Hedonismus passt nicht mehr in den asketischen Zeitgeist. | |
Bedeutet das einen Aufschwung für Lesben? | |
Beim CSD marschieren sie Seite an Seite: Schwule und Lesben. Doch | |
ansonsten, so hört man immer wieder von Angehörigen der sogenannten | |
Community, hat man sich nicht viel zu sagen. Schwule interessieren sich für | |
Männer. Lesben interessieren sich für Frauen. Das sagt eigentlich schon | |
alles. | |
Im letzten Jahr gab es beim Hauptstadt-CSD dann auch noch richtig Krach. | |
Judith Butler, lesbisch, obwohl sie dies als identitäre Kategorie ablehnt, | |
hatte ihren "Preis für Zivilcourage" nicht angenommen. Der ganze CSD, also | |
der Rahmen der Verleihung, missfiel ihr: kommerziell, rassistisch, von | |
gestern. Ein CSD, der in weiten Teilen von Schwulen organisiert wurde und | |
womöglich entsprechende Charakterzüge trägt: Die Stimmung ist sexualisiert, | |
hedonistisch. Vielen politisierten Frauen, die Frauen lieben, gefällt es | |
dort nicht so gut. | |
Der Zeitgeist der Republik ist aktuell nicht gerade von Hedonismus und | |
spaßorientierter Sexualität geprägt: Man besinnt sich auf Moralisches. | |
Bezieht Ökostrom, isst vegetarisch, engagiert sich für die Rettung des | |
Planeten. Kippe aus, Porno aus, Bierflasche zu. Das neue deutsche Bürgertum | |
will nachhaltig leben, nicht bloß für den Augenblick gedacht. | |
Aber wo sind da eigentlich Schwule vorgesehen? Eher nicht. Lesbische Frauen | |
womöglich eher? Schwule waren bis in die nuller Jahre cool - galten als | |
Role-Models für eine Gesellschaft, die auf Individualismus und Freiheit | |
setzte. Jetzt sind Lesben cool - auch weil sie Frauen sind. Frauen nämlich, | |
so der Konsens, sollen endlich ans Ruder. | |
Was wäre, wenn der Butler-Eklat Auftakt zu einer neuen lesbischen Präsenz | |
in der "Community" wäre? Geben nun Lesben den Ton an, während sich die | |
Schwulen mit dem Gegebenen zufriedengeben? Und wenn das stimmte: Bedeutet | |
das für die LGBT-Sparte eine Re-Politisierung? Oder den Niedergang der | |
Bewegungsinfrastruktur, inklusive CSD in Loveparade-Optik? | |
Den Lesben gelingt es gerade, aus ihrem im Vergleich zu den schwulen | |
Männern etwas verschatteten Dasein herauszutreten, in die Mitte der | |
Gesellschaft. In einer von Männern dominierten Gesellschaft wird Schwulen | |
stets mehr (homophobe) Aufmerksamkeit geschenkt. In einer eher weiblich | |
geprägten Gesellschaft würden Lesben eine selbstverständliche Größe. Bliebe | |
zu hoffen, dass sie dann ihre kleinen schwulen Brüder nicht vergessen, | |
Verantwortung für sie übernehmen. | |
MARTIN REICHERT | |
Lesbische Askese? Blödsinn! | |
Es wäre schön, wenn Lesben im Kommen wären. Es ist aber nicht so. | |
Was für eine These: Nicht nur Frauen seien im Kommen, Lesben auch. Der | |
homosexuelle Mann, der für Individualismus und Selbstverwirklichung, für | |
Party und den CSD stehe, sei out. Nun sei Innerlichkeit, Öko und mehr | |
Gemüseeigenanbau gefragt - alles Dinge, die eher weiblich seien. Wow. | |
Interessanterweise weckt dieser Gedanke beim Schreiber Ängste - und zwar | |
jene, verlassen zu werden. | |
Die These indes ist falsch und die Sachlage anders. Auf Dauer ist Party | |
langweilig, und die dem Hedonismus zugeneigten Schwulen, die die | |
Partykultur stark mitgeprägt haben, sind irritiert. Denn Party hat was mit | |
Kontrollverlust, mit Ich-Obsession, mit Amnesie zu tun und es wird immer | |
deutlicher: Amnesie als Lebenskonzept funktioniert nicht. Kontrollverlust | |
und Ich-Obsession ebenso wenig. | |
Fukushima ist ein Beweis dafür, denn es kam nicht aus dem Nichts. Es kam | |
nach Tschernobyl. Wer wissen wollte, wusste, dass Atomkraft nicht | |
beherrschbar ist. Aber gerne wurde das im Laufe der letzten 25 Jahre | |
vergessen. | |
Auch der Aufruhr in der arabischen Welt ist ein Beispiel: Nur wenige hier | |
waren entsetzt, dass das Leben dort war, wie es war. Am ehesten wurde bei | |
der Unterdrückung der Schwulen noch protestiert. Und stets gut: die | |
Unterdrückung der Frau. Aber dass jetzt eine ganze Generation aufsteht und | |
sagt, so nicht, darauf kann man nicht mit Vergessen, mit Ich-Obsession oder | |
Party antworten. Stattdessen gilt nun: Teilen. Die dort, die wollen das | |
Gleiche wie wir hier. Auch Klimawandel, Wirtschaftsdesaster, HIV - versuche | |
sie zu vergessen, sie holen dich wieder ein. | |
Ganz klar: Die Party ist vorbei. Nach dem schwulen Hedonismus kommt jedoch | |
nicht die lesbische Askese. Das ist Blödsinn. Fakt ist vielmehr: Lesben | |
sind im Vergleich zu Schwulen oft schlechter materiell versorgt - alles | |
bekannt. Wer aber materiell schlechter dasteht, setzt andere Prioritäten. | |
Vielleicht auch andere als den CSD. | |
Schön wäre es, wenn die Frauen - und Lesben - im Kommen wären. Was jedoch | |
die Angst soll, dass sie dann, wenn sie da sind, keine Verantwortung | |
übernehmen für ihre "kleinen schwulen Brüder", die die Wucht der großen | |
Themen - Gewalt, Anfeindung, Marginalisierung - abkriegen, verstehe, wer | |
will. Wird ein Mann, egal ob schwul oder nicht, von einer starken Frau | |
immer verlassen, bloß weil eine starke Frau automatisch - selbst als große | |
Schwester - eine böse Mutter ist? | |
WALTRAUD SCHWAB | |
Für Schwule ist es schwerer | |
Schwule haben viel gekämpft, nicht nur gefeiert. Kritik am CSD steht den | |
Lesben schlech. | |
Warum wird Hedonismus eigentlich immer am schwulen Beispiel diskutiert - | |
und kritisiert? Woher rührt, dass die Paraden der sexuell Anderen, | |
Nichtheterosexuellen immer dafür herhalten muss, den Beweis für die | |
Unseligkeit von Dekadenz zu erbringen? Neid? Missgunst? Woran liegt es, | |
dass es einerseits im deutschen (95-prozentig heterosexuellen) Mainstream | |
wie verboten ist, Schwule öffentlich für widerwärtig zu halten, | |
andererseits eine Psychoanalytikerin wie Margarete Mitscherlich-Nielsen im | |
Hinblick auf Guido Westerwelle sagen kann, dass man Schwule eigentlich | |
nicht sympathisch fände? Wie infam. | |
Wahr scheint mir: Schwule als öffentlich aggressive Wesen sind | |
unterrepräsentiert - Männer wie Klaus Wowereit, die der heterosexuellen | |
Majorität nicht defensiv begegnen, sind Raritäten. Gefragt und ertragen | |
waren homosexuelle Männer nur, wenn sie sich als Einfühlende und | |
Mitleidheischende gaben. Lesbische Frauen hatten es besser, und das wissen | |
die meisten von ihnen auch: Sie waren nie auch nur näherungsweise von | |
drakonischen Gefängnisstrafen bedroht - GöttInnen sei Dank! - sie hatten | |
auch immer die bessere Presse, wenn es um Fragen wie Adoption und | |
Kinderbetreuung ging. Männer, auch schwule, stehen seit Jahren unter | |
sexuellem Dauerverdacht, was nicht zuletzt in den Verästelungen der Debatte | |
um sexuellen Missbrauch (Odenwaldpädagogik, katholischer Klerus) | |
nachzuweisen ist. Schwule sind das Stigma, recht eigentlich Kinderschänder | |
zu sein, nie ganz losgeworden. | |
Alles, was an der sexuellen Frage in den vergangenen Dekaden zu erörtern | |
riskant war, ist von schwulen Männern geleistet worden - und ihr | |
Narzissmus, ihre Eitelkeit, ihre körperliche Selbstgeilheit wird ihnen mehr | |
und mehr übel genommen. Schwule werden als übersexuelle Wesen wahrgenommen, | |
mehr will man von ihnen nicht sehen. In der Selbstdarstellung von Schwulen | |
auf CSD-Paraden lag und liegt ein Moment des Faszinierenden: Man zeigte | |
sich unverschämt, das heterosexuelle Publikum war fasziniert. Dieser Zauber | |
hat sich ein wenig verflüchtigt: Gut so! | |
Nun sind die Zeiten prüder geworden; wichtiger als Sex sind family values. | |
Als Schwuler wünsche ich den Lesben, diesen Lockungen des Antisexuellen | |
nicht zum Opfer zu fallen. Die Kritik am schwulen Partytum fällt immer auf | |
die KritikerInnen zurück - nicht zu deren Gunsten. | |
JAN FEDDERSEN | |
24 Jun 2011 | |
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