# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Brief aus Athen | |
> Schön: Kein griechischer Taxifahrer ist derselben Meinung. Nicht über die | |
> Parlamentarier, nicht über die Krise, erst recht nicht über die | |
> Verantwortung für den Schuldensumpf. | |
Bild: Geschäftesterben in der Patission-Straße. | |
Mit dem Taxifahrer anzufangen, ist journalistisch streng verboten, ich | |
weiß. Aber erstens schreibe ich einen Brief und keine Reportage. Und | |
zweitens war es eine Taxifahrerin, die mir zwischen Piräus und Stadtzentrum | |
unaufgefordert erzählte, wenn sie Geld hätte, würde sie einen Hubschrauber | |
und ein paar Raketen kaufen, um "die Vouli zu bombardieren". | |
Die Vouli ist das griechische Parlament und die 50-jährige Kettenraucherin | |
war außer sich, weil man dort beschlossen hatte, die taxitsides müssten | |
Quittungen ausstellen, damit der Fiskus ihnen Mehrwertsteuer abknöpfen | |
kann. | |
Das war, lange bevor das vom Volkszorn umzingelte Parlamentsgebäude in ganz | |
Europa zum allabendlichen Fernsehspot wurde. Seitdem bin ich noch sehr oft | |
Taxi gefahren - immer noch ohne Quittung - und habe mit vielen taxitsides | |
gesprochen. Das Schöne ist: Nicht einer ist derselben Meinung wie die | |
andere. Nicht über die Parlamentarier, nicht über die Krise, erst recht | |
nicht über die Verantwortung für den Schuldensumpf. | |
Der eine sieht die Schuld bei den Politikern, der andere bei den Bankern, | |
die Nächste bei den Ratingagenturen, dem internationalen Finanzkapital oder | |
gleich bei den Freimaurern; viele schimpfen auf Kyria Merkel und Kyrios | |
Soible, manche auf Sarkozy, einer auf Berlusconi. Aber erstaunlich viele | |
kommen rasch auf die eigene Schuld zu sprechen. Wenn einer mit "kaka ta | |
psemata" anfängt (was ungefähr "seien wir ehrlich" heißt), weiß ich schon, | |
wie es weitergeht: "Ach wir Griechen …" | |
Die Umfrage war ungewollt, aber sie hat mir gezeigt, dass die Athener | |
Taxifahrer ziemlich repräsentativ für die griechische Gesellschaft sind. | |
Und wenn man länger mit einem spricht, sagen wir im Stau, stellt sich | |
dasselbe Gefühl ein wie nach fast allen Diskussionen in diesem Krisenland: | |
dass alles noch komplizierter, verwirrender, widersprüchlicher ist als | |
angenommen. Das rehabilitiert die Taxifahrer als Auskunftsquelle über die | |
aktuellen Verhältnisse, auch für Journalisten. Abgesehen davon schätze ich | |
sie seit Langem als ehrliche Repräsentanten des griechischen Alltags und | |
seiner sympathischen wie befremdlichen Seiten. | |
## Leere Geschäfte | |
Zum Beispiel wenn sie Weihnachten und Ostern für jede Fahrt einen Euro | |
zusätzlich kassieren und dies auf einem diskreten Hinweisschild als doro | |
bezeichnen. Eine Zwangsabgabe ohne jede rechtliche Grundlage zum "Geschenk" | |
zu erklären - das ich normalerweise freiwillig gebe -, fand ich schon immer | |
dreist. Aber es war mir auch eine Lehre: dass in diesem Land häufig nicht | |
drin ist, was außen draufsteht, ohne dass sich viele daran stören. Die | |
meisten Gewerkschaften ähneln Berufsgilden, denen Solidarität mit ihren | |
Mitproletariern eher fremd ist. Und der "öffentliche Dienst" hat weniger | |
mit Dienst an der Allgemeinheit zu tun als mit Klientelbeziehungen und dem | |
Ziel, sich selbst eine Klientel zu schaffen. | |
Natürlich leidet auch die Taxibranche unter der Krise, die sichtbar wurde, | |
als nicht mehr zu verheimlichen war, dass auch in der griechischen | |
Staatskasse nicht drin war, was die konservative Regierung draufgeschrieben | |
hatte. Auf der Patission-Straße, einer der Hauptachsen in Richtung Zentrum, | |
kamen früher in der Rushhour häufig nur volle Taxis vorbei. Wenn man Glück | |
hatte, konnte man sich zu anderen Passagieren auf die Rückbank quetschen. | |
Heute kreuzen viele der gelben Taxis leer durch die Stadt, man kann sich | |
das Automodell aussuchen. | |
Die Patission-Straße kenne ich seit Jahren, hier wohnt mein Freund Michalis | |
mit seiner Familie. Eine gehobene Einkaufsstraße, vor allem Kleider, | |
Schuhe, Accessoires. Aber das war einmal. Heute hat jedes dritte Geschäft | |
aufgegeben, und die übrig gebliebenen haben ständig Ausverkauf. Dabei sieht | |
man den Aufklebern im Schaufenster nicht an, ob sie Überlebenskampf oder | |
schon Geschäftsaufgabe anzeigen. Zu vermuten ist Letzteres, denn für neue | |
Waren fehlt das Cash und die Banken vergeben Kredite nur gegen bunkerfeste | |
Sicherheiten. | |
Trotz der Schleuderpreise sind die Geschäfte leer. Die Verkäuferinnen | |
stehen in der Ladentür, in der Hand den Kaffee im Plastikbecher. Das | |
Make-up sitzt noch perfekt, aber eine heitere Miene lässt sich nicht | |
schminken. Man sieht ihnen an, was sie denken: Wenn dieser Laden zumacht, | |
finden sie keinen neuen Job. Manche fegen den Bürgersteig vor dem | |
Schaufenster, um Geschäftigkeit zu simulieren. Das hat man früher nie | |
gesehen. "Die Patission stirbt einen langsamen Tod", sagt mein Freund | |
Michalis. Umsatz machen nur noch die Fastfoodrestaurants. Das zeigt auch, | |
dass die normalen Restaurants nicht mehr lange überleben. Erst recht nicht, | |
nachdem vor zwei Wochen die Mehrwertsteuer für die Gastronomie von 13 auf | |
23 Prozent erhöht wurde. | |
## Mieteinnahmen | |
Michalis weiß, wovon er spricht. Er ist Professor für Wirtschaftsgeschichte | |
an der Universität Athen, seine Frau Irini lehrt an einer anderen | |
Hochschule. Eine klassische Mittelstandsfamilie mit zwei Kindern. Auch für | |
sie ist ein Restaurantbesuch nicht mehr drin. Bis vor zwei Jahren waren sie | |
mindestens einmal pro Woche aus. Schon letztes Jahr wurden die akademischen | |
Gehälter -ohnehin weit unter deutschem Niveau - um 25 Prozent gekürzt, und | |
jetzt im Juni um weitere 10 bis 15 Prozent. | |
Wie viele Athener Familien besitzen sie eine weitere Wohnung, die Irini | |
geerbt hat und die sie vermieten. Das ersetzt für viele Griechen die | |
Altersversorgung. Zu Zeiten der inflationären Drachme legte man sein Geld | |
lieber in Immobilien an, als es Banken oder Lebensversicherungen zu | |
überlassen. Dass die meisten Familien noch über die Runden kommen, | |
verdanken sie solchen Mieteinnahmen. | |
Bei Michalis und Irini soll die Miete die Ausbildung der Kinder | |
finanzieren. Aber die Geldquelle ist seit drei Monaten versiegt. Die alten | |
Mieter sind ausgezogen. Denn Irinis Wohnung liegt im Viertel um die Kirche | |
Agios Panteleimonas. In griechischen wie ausländischen Zeitungen heißt es, | |
dass es zum Slum verkommt, weil hier die meisten Migranten aus Afrika und | |
Asien wohnen. In solchen Vierteln entstehen- überall auf der Welt - mafiose | |
Strukturen, unter denen die meisten Migranten ebenso zu leiden haben wie | |
die Alteinwohner. Von denen am Ende nur die bleiben, die es sich nicht | |
leisten können, wegzuziehen. | |
Die Mieter von Irinis Wohnung sind aber keine Griechen, die wegwollen, um | |
nicht von der Migrantenflut überspült zu werden. "Das ist eine ägyptische | |
Familie mit zwei Kindern, der Mann arbeitet als Maler, die Frau ist eine | |
traditionelle Hausfrau. Aber dann wurde ihnen die Gegend zu unsicher. Sie | |
haben Angst vor den Chrysi-Avghi-Leuten." Chrysi Avghi heißt "goldene | |
Morgenröte" und ist eine faschistische Organisation, die unter dem Zeichen | |
des byzantinischen Doppeladlers gegen Ausländerflut und für die Reinhaltung | |
der griechischen Rasse zu Felde zieht. | |
Seit letzten Oktober sind sie im Athener Stadtrat vertreten, wo ihr | |
Anführer sich mit dem Hitlergruß einführte. In Agios Panteleimonas kamen | |
sie auf 12 Prozent. Seitdem haben jugendliche Faschisten mehrfach Ausländer | |
überfallen und zum Teil schwer verletzt. Vor diesen Leuten ist die | |
ägyptische Familie geflohen. Michalis kann das verstehen, obwohl er die | |
Miete heruntergesetzt hatte. Die Wohnung ist jetzt unvermietbar, weil | |
Griechen nicht in einen verrufenen Ausländerslum ziehen wollen und legale | |
Ausländer nicht in ein von griechischen Faschisten kontrolliertes Viertel. | |
## Keine Hoffnung | |
Das Wählerpotenzial der Rassisten ist etwas, das vielen Athenern große | |
Sorge macht. Die Gleichzeitigkeit einer tiefen ökonomisch-sozialen Krise | |
und die geballte Anwesenheit illegaler Migranten im Stadtzentrum ist in der | |
Tat eine brisante Mischung. Die mag heute noch pittoresk wirken, wenn sich | |
zwischen den klassizistischen Bauten der Nationalbibliothek und der | |
Akademie ein improvisierter Basar auftut. Afrikanische und afghanische | |
Straßenhändler breiten da ihre Billigstwaren aus: Unterwäsche, Werkzeug, | |
gefälschte Kosmetika. Auf Decken, die man leicht zusammenraffen und über | |
die Schulter werfen kann, wenn die Polizei kommt. | |
Aber das passiert selten. Wahrscheinlich hat die Stadtverwaltung | |
eingesehen, dass diese Märkte nur ein Symptom der Krise sind. Käufer sind | |
die verarmten Athener. Die Hochkonjunktur der Billigstwaren sind die ersten | |
Anzeichen einer Armut, die ansonsten noch nicht sichtbar ist. Noch leben | |
viele Familien von den Rücklagen. Damit wird auch ein Großteil der | |
Jugendarbeitslosigkeit abgefangen, die auf über 40 Prozent gestiegen ist. | |
Aber die Reserven schmelzen rapide, hat mir eine Freundin erzählt, die bei | |
einer großen Bank arbeitet. In spätestens zwei Jahren sind die Sparkonten | |
leergeräumt. | |
Aber es wird noch schneller gehen, nachdem mit dem jüngsten Sparprogramm | |
die Besteuerung auch der niedrigen Einkommen (ab 8.000 Euro jährlich) | |
beschlossen wurde, befürchtet Michalis. Er sieht für Griechenland keine | |
Hoffnung, wenn von der EU immer nur neue Sparauflagen und keine | |
Investitionen kommen. Ohne die hält er die Hoffnung, dass die Konjunktur | |
2012 anspringen wird, für völlig illusorisch. Das Land brauche viel mehr | |
Zeit, um sich selbst umzubauen. | |
"Wir sind in einen Tunnel reingefahren", sagt Michalis, "obwohl der Ausgang | |
am anderen Ende noch nicht gegraben ist." Und wenn der Durchbruch nicht | |
gelingt? No future, jedenfalls nicht in Athen. Auch Michalis und Irini | |
wissen nicht, ob ihre Söhne bleiben werden. Das ist die düsterste | |
Zukunftsvision für Griechenland: die Emigration der eigenen Jugend, der | |
Generation also, die das Land umkrempeln müsste. | |
Ob er gar nichts Optimistisches zu bieten hat, frage ich Michalis. "Kaka ta | |
psemata" - leider nein. Und fragt dann: "Was meinst du, wie es in | |
Deutschland aussehen würde, wenn die Einkommen um 25 bis 30 Prozent | |
geschrumpft wären? Wenn über 40 Prozent der Jugendlichen keine Aussicht auf | |
Arbeit hätten? Und zugleich in den Großstädten 10 Prozent der Bevölkerung | |
illegale Migranten wären? Wie viele Faschos hättet ihr dann?" Ich gebe die | |
Frage an die geschätzten Leser weiter. | |
©" Le Monde diplomatique, Berlin | |
[1][Le Monde diplomatique] vom 8.7.2011 | |
13 Jul 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://www.monde-diplomatique.de | |
## AUTOREN | |
Niels Kadritzke | |
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