# taz.de -- Wilko Zicht, Fankultur- und Wahlrechtsexperte: "Das ist doch nerven… | |
> Seine Hobbys machen Wilko Zicht zum bundesweit gefragten Experten: | |
> Fußballfan-Kultur und Wahlrecht. Der 35-Jährige hat Wahlrechtsreformen in | |
> Hamburg und Bremen initiiert - und jene, die der Bundestag zu | |
> verabschieden verschlafen hat. | |
Bild: Wahlrechtsexperte, Fankultur-Mann und Grünen-Mitglied: Wilko Zicht. | |
taz: Herr Zicht, Sind Sie das Opfer Ihrer eigenen Wahlrechtsreform? | |
Wilko Zicht: Ja, so war das eigentlich nicht geplant, dass ausgerechnet ich | |
am Ende derjenige bin, der um 40 Stimmen den Einzug in die Bürgerschaft | |
verpasst. Auch kann ich jetzt ein Stück weit nachvollziehen, dass es nicht | |
immer nur eine Lust ist, die Auszählung zu beobachten und auf ein Ergebnis | |
zu warten. | |
Sie haben den PolitikerInnen die relative Sicherheit vom Wahlabend | |
genommen. | |
Und mir selbst die Unbekümmertheit beim Verfolgen der Wahlergebnisse: Das | |
habe ich sonst immer als unterhaltsam empfunden. Wenn man davon selber | |
betroffen ist, fühlt sich das ganz anders an. Das ist doch ziemlich | |
nervenzerfetzend. | |
Dass Sie kein Mandat bekommen, war für viele überraschend. Schließlich sind | |
Sie als Initiator der Wahlrechtsreform und als Sprecher des Bündnisses | |
Aktiver Fußballfans (BAFF) gut vernetzt. | |
So einfach ist das nicht. Die Leute wählen dich nicht, nur weil sie deinen | |
Namen einmal in der Zeitung gelesen haben. Abgesehen davon finde ich mein | |
Ergebnis mit 1.025 Personenstimmen so schlecht nicht. Die Kandidaten, die | |
von hinteren Plätzen mit noch mehr Stimmen ins Parlament gewählt wurden, | |
haben meist wochenlang jeden Tag Flugblätter verteilt. | |
Sie haben keinen Straßenwahlkampf gemacht? | |
Weils so knapp war, ärgere ich mich im Nachhinein ein wenig, dass ich nicht | |
noch ne Schippe draufgelegt habe. Aber mein Seelenheil hängt nicht davon | |
ab. Bürgerschaftsabgeordneter zu werden, das war kein fester Bestandteil | |
meiner Lebensplanung. | |
Warum haben Sie überhaupt begonnen, sich mit dem Wahlrecht zu beschäftigen? | |
Das kann ich kaum beantworten. Hobbys sucht man sich ja nicht aus. Die | |
fliegen einem zu. | |
Aber nur wenigen fliegt das Wahlrecht zu. | |
Ich fand als Kind die Wahlberichterstattung im Fernsehen spannend - noch | |
bevor ich begonnen habe, mich für die "Tagesschau" zu interessieren. So | |
richtig los ging das mit dem Wahlrecht auch erst mit dem Internet-Boom Ende | |
der 90er. Da hab ich geschaut: Zu welchem Thema gibts noch nix im Web, was | |
könntest du machen? Da bin ich dann beim Wahlrecht gelandet. | |
Und dann kam irgendwann Fußball dazu? | |
Nein, das war noch früher. Zum ersten Mal mit meinem Vater im Stadion war | |
ich ausgerechnet 1986 im entscheidenden Spiel gegen Bayern. Wenn Kutzops | |
Elfer reingegangen wäre, hätte Werder die Meisterschaft gewonnen. Gesehen | |
habe ich den Schuss aber nicht, weil alle Erwachsenen um mich herum auf den | |
Bänken standen. Ich habe nur das Geräusch gehört - dieses Klatschen, als | |
der Ball an den Pfosten geht, das … | |
… das kriegt man nicht mehr aus dem Ohr? | |
Zum Glück habe ich mit Werder seitdem viele tolle Erfolge feiern können. | |
Wenn die letzten 20 Jahre ähnlich trostlos verlaufen wären wie beim HSV, | |
würde mir das Geräusch wohl heute noch Alpträume bereiten. | |
Wie gehören Fan-Arbeit und Wahlrecht zusammen? | |
Im Prinzip gar nicht, aber letztlich geht es in beiden Fällen um Politik. | |
Bei BAFF kümmern wir uns ja nicht um das Spiel auf dem Rasen, sondern um | |
die gesellschaftspolitischen Aspekte drumherum. Rassismus und | |
Diskriminierung auf den Rängen, Freiräume für Jugend- und Fankultur, | |
Stadionverbote, Polizeigewalt und so weiter. | |
…und Sie sind mit Ihren Hobbies zum Experten geworden, der sowohl vom DFB | |
angehört wird als auch - in Sachen Wahlrecht - von Länderparlamenten. | |
Das stimmt. In Schleswig-Holstein war ich bei einer Landtags-Anhörung sogar | |
einmal ironischerweise von der FDP als Sachverständiger benannt worden. | |
Warum ironischerweise? | |
Naja, als Grünen-Mitglied - das kam ein wenig überraschend. Es dürfte sich | |
aber auch kaum wiederholen, da die Vorstellungen doch sehr | |
auseinandergingen. Zum Beispiel in der Frage, wie viel Einfluss die | |
WählerInnen auf die personelle Zusammensetzung des Landtags haben sollten. | |
Personalisieren ist bei den Grünen nicht mehr umstritten? | |
Die immer stärkere Fokussierung auf die SpitzenkandidatInnen finde ich auch | |
eher problematisch. Da geht es dann oft nur noch darum: Wer ist der bessere | |
Darsteller - und eben nicht um die Inhalte. Bei den einzelnen Abgeordneten | |
sehe ich diese Gefahr nicht. Da kann man sich doch letztlich nur über die | |
Inhalte profilieren - und wer mit bestimmten Inhalten Personenstimmen | |
gewinnt, stärkt dadurch auch sein Fachthema. | |
Welchen juristischen Hintergrund haben Sie denn als Wahlrechtsexperte? | |
Außer dem, was ich mir selbst angeeignet habe? Fast keinen. Ich hatte | |
angefangen, Jura zu studieren, und da habe ich auch eine Hausarbeit zum | |
Thema Überhangmandate geschrieben. Aber das Studium habe ich dann | |
irgendwann abgebrochen, weil ich einige Rechtsgebiete nicht so spannend | |
fand. | |
Bis ausgerechnet auf das - unter Juristen als trocken verschriene - | |
Unterkapitel Wahlrecht? | |
Dass es oft vernachlässigt wird, dieser Nischencharakter, sorgt ja | |
umgekehrt dafür, dass man als Fachfremder zum Experten werden kann. Ich | |
finde es aber auch nicht langweilig, im Gegenteil: Es gibt die doch sehr | |
bedenkliche Aussicht auf einen Wahlrechts-GAU, also darauf, dass es mit dem | |
aktuellen Wahlrecht möglich ist, dass eine Bundesregierung zustande kommt, | |
die eben nicht dem Wahlergebnis entspricht. | |
Wodurch? | |
Im Wesentlichen durch Überhangmandate, die als Bonus für ein schlechtes | |
Zweitstimmen-Ergebnis wirken: Es bekommt also eine Partei, gerade weil sie | |
weniger gewählt wird, mehr Sitze. Beispiel: Die CSU bei der letzten | |
Bundestagswahl. Die hatte bis 2009 nie Überhangmandate. Die kamen erst mit | |
ihrem für ihre Verhältnisse schlechten Zweitstimmen-Resultat. Im | |
Umkehrschluss können die Zweitstimmen dadurch ein negatives Stimmgewicht | |
entfalten, also ein Zuwachs an Stimmen einen Verlust an Sitzen bedeuten. | |
Und das ist ja eine offenkundige Verkehrung des Wählerwillens. | |
Sie ändert aber nicht die Mehrheit im Bundestag. | |
Bisher ist das zum Glück nicht passiert, weil die Überhangmandate meist an | |
die Parteien gingen, die ohnehin die Mehrheit hatten. Das kann aber genauso | |
gut auch anders herum ausgehen. Dann hätten wir ein Parlament, das gerade | |
nicht den Willen des Volkes repräsentiert, und die gewählte Regierung wäre | |
ohne demokratische Legitimation. Das könnte durchaus zu einer Staatskrise | |
führen. | |
Die hätten wir auch, wenns jetzt zu Neuwahlen käme, weil der Bundestag die | |
vom Verfassungsgericht geforderte Wahlrechtsreform hinausgezögert hat. | |
Ärgert Sie diese Passivität? | |
Ja. Geärgert hat mich aber noch mehr, dass die rot-grüne Schröder-Regierung | |
das Thema sieben Jahre lang hat liegen lassen - schließlich waren das ja | |
sozusagen meine Leute. | |
Da fehlte auch der Zwang, das Wahlrecht zu ändern. | |
Die Problematik mit den Überhangmandaten war aber schon in den 1990ern sehr | |
umstritten. Nur hatte Rot-Grün dann 1998 plötzlich selber welche. | |
Im Urteil zu Ihrer Beschwerde wegen der Bundestagswahl 2005 hatte das | |
Verfassungsgericht eine Auslauffrist fürs Wahlrecht bis Ende Juni 2011 | |
gesetzt. Die ist jetzt verstrichen. | |
Die Frist war viel zu lang. Karlsruhe scheint gedacht zu haben, der | |
Bundestag würde sich die Zeit nehmen, sorgfältig das Für und Wider der | |
verschiedenen Alternativen abzuwägen und am Ende im parteiübergreifenden | |
Konsens ein einfaches und gerechtes Wahlrecht zu beschließen. Da war das | |
Verfassungsgericht für mich ein wenig naiv. | |
Naiv? | |
Es ist ein grundlegendes Problem von Wahlrechtsreformen, dass diejenigen, | |
die sie duchführen könnten und müssten, ihre Mehrheit durch das jeweils | |
geltende Wahlrecht bekommen haben. Sie würden also möglicherweise gegen | |
ihre eigenen Interessen verstoßen. Nicht zuletzt deshalb ist Wahlrecht ein | |
bestens geeigneter Fall für Volksgesetzgebung, wie in Hamburg und Bremen. | |
10 Jul 2011 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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