# taz.de -- Porträt neuer Amnesty-Chef Grenz: Sitzen geblieben | |
> Die Generalsekretärin scheitert, Amnesty bebt, Beschuldigungen überall. | |
> Nun ist ein neuer Chef angetreten: Wolfgang Grenz. Beliebt, ein Fels - | |
> keine Notlösung. | |
Bild: "Ein wunderbarer Mensch." Wolfgang Grenz ist beliebt bei den Kollegen. | |
Am Ende ist er doch noch Chef geworden, Wolfgang Grenz, dieser leise Mann, | |
der das Elend der Welt mit juristischen Fachwörtern beschriftet, in | |
Aktenordner steckt, der mit Kettenbriefen Leben rettet. Wolfgang Grenz, ein | |
großer, schwerer Mann, 64 Jahre alt, die Augen trüb, der Schnauzbart wie | |
bei einem Walross, guckt in den Knoten seiner gefalteten Hände, knurrt: | |
"Das war so nicht vorgesehen." Mit einem derartigen Karrieresprung hatte er | |
gar nicht gerechnet. Ein Jahr bis zur Rente noch, dann raus, Fußball | |
gucken, spazieren gehen mit dem Hund. Das war der Plan. | |
Aber dann haben sie ihn in der ganzen Aufregung doch noch geholt und zum | |
Generalsekretär der wichtigsten Menschenrechtsorganisation in Deutschland | |
gemacht: Amnesty International. | |
Die bisherige Chefin hatte sich als Flop herausgestellt, nach ihrem | |
Rauswurf zerschnitten Anschuldigungen wie Steakmesser die Luft. Ein | |
Zustand, für den es einen neuen Chef brauchte. Einen, der für Ruhe sorgt. | |
Amnesty kann sich nicht so gehen lassen, verbrecherische Regime weltweit | |
machen keine Pause, Despoten foltern, Bootsflüchtlinge im Mittelmeer können | |
nicht warten. Es brauchte einen, der dranbleibt am Geschehen. | |
Wolfgang Grenz war da. So wie er immer da gewesen ist, 32 Jahre lang, | |
zuletzt auf dem Stellvertreterposten. Den mächtigen Körper zusammengefaltet | |
hinter dem Schreibtisch - so muss Grenz in seinem Amnesty-Büro im zweiten | |
Hinterhof eines Hauses in Berlin-Prenzlauer Berg gesessen haben. Eine | |
stille Insel in lauten Wellen der Empörung. Ein Fels, den eine unruhige | |
Flut nicht wegspülen kann. | |
## "Der integerste Mensch in der deutschen Asylszenerie" | |
Man darf das jetzt nicht falsch verstehen: Wolfgang Grenz ist keine | |
Notlösung für Amnesty International. Es hat nur ziemlich lange gedauert, | |
bis er dran war. | |
Das fällt vor allem deswegen auf, weil er so beliebt ist. "Ein wunderbarer | |
Mensch", erklärt eine Kollegin. Eine ehemalige Angestellte lobt Grenz | |
Professionalität, seine Kompetenz, seine Loyalität. Ein Mitarbeiter von Pro | |
Asyl findet sogar: "Wolfgang Grenz ist der integerste Mensch in der | |
deutschen Asylszenerie. Er ist genau der richtige Mann für die Spitze von | |
Amnesty." | |
Grenz selbst ist eigentlich über den Fußball zu Amnesty gekommen. Fußball | |
ist seine Leidenschaft, das Leichte, das ihn heute noch das Schwere seines | |
Berufs aushalten lässt, sein Ausgleich. Lange hat er selbst gebolzt, immer | |
noch kennt er alle Ergebnisse, alle Tabellen bis runter in die kleinen | |
Ligen, am Wochenende drückt er sich am Spielfeldrand beim Berliner SC | |
herum. "Mich interessieren immer die Underdogs. Auch beim Fußball", brummt | |
er. | |
1978 hatte Amnesty International in der Kölner Fußgängerzone anlässlich der | |
Fußball-WM in Argentinien einen Stand aufgebaut. Postkarten wurden | |
verteilt, darauf stand: "Fußball ja, Folter nein!" Die Kampagne gegen die | |
argentinische Diktatur schaffte es in die Fußballberichterstattung im | |
Fernsehen, erinnert sich Grenz. "Das hat mich beeindruckt." | |
## Tausend Flüchtlingsakten | |
Ein Jahr später saß er beim Vorstellungsgespräch im Bonner Amnesty-Büro, | |
ein Riese mit schulterlangen Haaren, 32 Jahre alt. Grenz hatte gerade sein | |
Jurastudium abgeschlossen. Als Student setzte er sich für mehr Bürgerrechte | |
ein, war bei den Jungdemokraten aktiv. Ostern 1968 hatte er vor dem | |
Springer-Hochhaus in Berlin demonstriert. Der Anwalt Reinhard Marx war | |
damals beim Bewerbungsgespräch dabei, er sagt: "Grenz wirkte gleich | |
verlässlich." | |
Referent für Asylrechtsfragen gesucht - es hatten sich viele auf das | |
Inserat gemeldet. Bislang konzentrierte sich Amnesty auf Meinungsfreiheit, | |
auf die Freilassung politischer Gefangener und die Abschaffung von Folter | |
und Todesstrafe. Nun wollte man sich auch um den Schutz von Flüchtlingen | |
kümmern. | |
Als Grenz dann sein Büro bei Amnesty bezog, lag im Schrank eine einzige | |
Akte. Ein halbes Jahr später stapelten sich in diesem Schrank mehr als | |
tausend Flüchtlingsakten. Er sieht stolz aus, als er das erzählt. Er mag | |
Akten. Wenn sie denn etwas bewirken. | |
Grenz und seine Mitarbeiter gingen mit den Schicksalen an die | |
Öffentlichkeit, prüften die Rechtslage, schrieben Briefe an Politiker, an | |
Gefängnisdirektoren, verfassten Dossiers, erinnerten Präsidenten, dass sie | |
sich mit dem Beitritt zur UNO auch auf die Einhaltung der Menschenrechte | |
eingelassen hatten, zerrten dunkle Machenschaften ans Tageslicht. | |
"Machen Sie sich keine Illusionen", sagt Grenz. Die Arbeit sei nüchtern. | |
Das Leid der Welt durchläuft sein Büro vor allem als Leitzordner, in | |
juristische Klauseln verpackt. Nur wenig davon habe sich als Bild | |
festgesetzt in seinem Kopf. Der Äthiopier etwa, dem er zur Flucht aus | |
Ungarn verholfen hat und den er später in einer Berliner Fabriketage | |
besucht hat. Oder der gestürzte afrikanische Diktator, der halb nackt und | |
gefesselt durch einen Raum kriechen musste, drangsaliert von den | |
Gewehrläufen der neuen Machthaber. "Seltsam, aber dieser Mensch hat mich | |
fast am meisten berührt." | |
## "Genauso ungerecht wie Fußball" | |
Grenz sitzt an dem langen Besprechungstisch in der Geschäftsstelle, die | |
Arme auf der Tischplatte abgelegt, die Schultern gebeugt. Man denkt: die | |
Last von 32 Jahren. | |
Heute wird der Schutz von Flüchtlingen als Menschenrechtsthema angesehen, | |
das ist auch Grenz Verdienst. Aber er guckt müde, sagt: "Es gibt oft | |
Momente, wo man verzweifelt. Wo man denkt, wir sind immer wieder | |
gescheitert." Dann berappelt er sich wieder, schnauft ein Lächeln heraus: | |
"Das ist genauso ungerecht wie beim Fußball. Da gewinnen auch immer die | |
Falschen." | |
Die Geschäftsstelle ist ein ausgebautes Dachgeschoss, das helle Holz und | |
das Glas dämpfen die Not, die hier bearbeitet wird. Die Rückschläge der | |
letzten Jahrzehnte sind trotzdem offenkundig, die Beharrlichkeit des | |
Wolfgang Grenz ist es auch. Zum Beispiel nach dem Fall der Mauer: Amnesty | |
hatte geglaubt, dass die Welt freier würde. Aber häufig kamen neue Despoten | |
an die Macht. "Zum Beispiel in Usbekistan, wo Regimekritiker ins Gefängnis | |
geworfen und gefoltert werden." | |
Wolfgang Grenz bekam Jobangebote, das Auswärtige Amt hätte ihn gern gehabt, | |
ein Verband zeigte ebenfalls Interesse. Aber er blieb bei Amnesty, | |
inzwischen war er Betriebsratsvorsitzender. | |
Dann wurde 1993 in Deutschland das Asylrecht beschränkt. Er hätte entmutigt | |
sein können. Die Flüchtlingsarbeit ist sein Schwerpunkt. | |
Grenz machte weiter. Er hat eine dicke Haut. Am Wochenende ging er zum | |
Fußball. | |
Als 1999 der alte Chef ging, hat Grenz nicht die Hand gehoben, hat sich | |
nicht vorgedrängelt. Er findet: "Ich bin eher der Mann für den abgegrenzten | |
Bereich. Es ist besser, wenn jemand von außen frischen Wind reinbringt. Das | |
ist auch besser fürs Image des Vereins." | |
## Verschärfte Verhörmethoden | |
Sie holten dann eine Frau als neue Generalsekretärin, Barbara Lochbihler, | |
die vorher bei der Internationalen Frauenliga in Genf gearbeitet hatte. | |
Auch nach dem 11. September 2001 verschlechterte sich die | |
Menschenrechtslage weiter. "Plötzlich gibt es verschärfte Verhörmethoden | |
und wieder eine Debatte darüber, ob ein bisschen Folter nicht doch erlaubt | |
ist. Das ist schon überraschend". Grenz lacht bitter. | |
Er hat nicht hingeschmissen. "Das hab ich mich schon auch mal gefragt, ob | |
das noch normal ist", sagt er. Er blieb einfach sitzen, kümmerte sich um | |
die Akten der Opfer. | |
Als Barbara Lochbihler 2009 für die Grünen ins Europaparlament einzog, | |
hätte es noch mal eine Chance gegeben für Grenz. Er war von allen am | |
längsten bei Amnesty, er kannte den Laden. Er habe da schon an seine | |
bevorstehende Rente gedacht, sagt er. An ruhige Nachmittage neben dem | |
Fußballplatz. Die Schäferhündin. Grenz hielt sich zurück. | |
Sie machten dann Monika Lüke zur Chefin. Eine dynamische Frau, die rote | |
Anzüge trug und sich zuvor in Kenia und Kambodscha als Entwicklungshelferin | |
engagiert hatte. "Ich habe ihre Einstellung damals sehr begrüßt", erklärt | |
Grenz. | |
## Schadensbegrenzung | |
Es ging schief. Wenn man bei Amnesty jemanden auf den Schlamassel | |
anspricht, drucksen sie herum, gucken weg, ziehen die Schultern hoch, | |
wollen nichts sagen. So viel ist inzwischen dennoch nach außen gedrungen: | |
Monika Lüke scheint mit der Leitung des Vereins überfordert gewesen zu | |
sein. In der Geschäftsstelle wurde auf einmal gebrüllt. Der Vorstand wollte | |
reagieren. Dann wurde Lüke schwanger. Der Vorstand traute sich nicht mehr, | |
sie freizustellen. Man wollte die Schwangerschaft nicht gefährden. Als das | |
Kind dann da war und der Vorstand Lüke von allen Aufgaben beurlaubte, sah | |
es so aus, als wäre sie wegen des Babys rausgeschmissen worden. Lüke gab | |
wütende Interviews. Jetzt bemüht sich der Vorstand um Schadensbegrenzung, | |
will den Arbeitsvertrag einvernehmlich auflösen. | |
Wolfgang Grenz guckt traurig. Er will nichts zu der ganzen Angelegenheit | |
sagen. Aber es ist klar: Er hätte es lieber, das Ganze wäre irgendwie | |
anders gelaufen. Er wollte ja nächstes Jahr auch in Rente sein. | |
Nach Monika Lükes Rauswurf ist das Licht nun doch noch auf ihn gefallen. Es | |
ist ein Glück, dass er noch da ist. "In einer Notsituation lass ich mich | |
gerne in die Pflicht nehmen", sagt er. | |
Wolfgang Grenz möchte jetzt zwei Jahre länger bleiben. | |
15 Jul 2011 | |
## AUTOREN | |
Kirsten Küppers | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Streit um Entlassung von Amnesty-Chefin: Monika Lüke wird abgefunden | |
Die Amnesty-Chefin Lüke erhielt 2011 ihre Kündigung, weil das | |
„Vertrauensverhältnis“ zerrüttet war. Nun haben sich beide Seiten geeinig… | |
Personalquerelen bei Amnesty: Die Frau, die nicht passte | |
Die Basis stellt sich hinter den Vorstand, der Generalsekretärin Monika | |
Lüke im Mutterschutz freistellte. Sie habe sich in den Amnesty-Strukturen | |
nicht zurechtgefunden. | |
Führungsstreit bei Amnesty International: Lüke fühlt sich diskriminiert | |
Amnesty-Generalsekretärin Monika Lüke wehrt sich gegen ihren Rauswurf: Ihre | |
Mutterschaft habe dem Vorstand nicht gepasst. Der sieht das ganz anders. | |
Rauswurf im Mutterschutz: Führungsstreit bei Amnesty eskaliert | |
Die entlassene Generalsekretärin Monika Lüke wirft dem Vorstand von Amnesty | |
International Kündigung im Mutterschutz vor. Der weist die Vorwürfe zurück. | |
AI entlässt deutsche Generalsekretärin: Kein Vertrauen mehr | |
Amnesty International trennt sich nach nur zwei Jahren von Monika Lüke. Die | |
Vorstellungen von Vorstand und Generalsekretärin gingen immer wieder | |
auseinander. |