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# taz.de -- Historiker Christian Gerlach über Völkermord: "Die Regierung zu s…
> Der Historiker Christian Gerlach hat extrem gewalttätige Gesellschaften
> untersucht. Sein Ergebnis: Auch die Zivilbevölkerung kann Auslöser von
> Massengewalt sein.
Bild: Auftaktsitzung der Nürnberger Prozesse 1945: "Die haben nicht abgeschrec…
taz: Völkermorde wurden bisher vor allem als eine Folge staatlichem Handels
betrachtet. Sie stellen dagegen soziale und gesellschaftliche Aspekte in
den Mittelpunkt. Welche Rolle spielen diese Aspekte?
Christian Gerlach: Nach meiner Ansicht gibt es einerseits eine wichtige
Rolle des Staatsapparats und ihrer Beamten und Staatsdienern. Es existiert
aber eben auch eine wichtige und in der Forschung bisher unterschätzte
Rolle von verschiedenen Gruppen aus der Zivilbevölkerung aus verschiedenen
Interessen heraus, die durchaus von den staatlichen Interessen abweichen
können und die ich als konstitutiv für das Zustandekommen von Massengewalt
betrachte.
Das können Partikularinteressen sein, die nicht unbedingt den Interessen
des Staates entsprechen?
Genau. Aber oft finden sich partielle Übereinstimmungen. Das versuche ich
in meinem Buch anhand der Massenmorde in Indonesien in den 1960er Jahren zu
zeigen. Da bildete sich etwas, was ich eine zwar kurzfristige, aber sehr
mächtige und brutale Koalition für Gewalt nenne. Eine Koalition aus den
Vertretern verschiedener Parteien und Massenorganistationen, vor allem mit
Teilen der indonesischen Armee verbündet und zunehmend Teilen des
Staatsapparates. Diese Koalition reichte von nationalistischen Militärs
über Islamisten, moderate nationalistische Muslime bis hin zu
Sozialdemokraten und Trotzkisten.
Ihre Studie ist global angelegt. Sie untersuchen historische Ereignisse
über Indonesien, Armenien und das nationalsozialistische Deutschland bis
nach Bangladesch. Existieren tatsächlich weltweit wiederkehrende
Charakteristika extrem gewalttätiger Gesellschaften? Sind es nicht primär
europäische Sichtweisen, die zu Massengewalt führen?
Gewalt entsteht auch aus gewissen Auswirkungen kolonialer Herrschaft. Es
gibt ja auch in der konventionellen Genozid-Forschung die These, dass die
Ursprünge des Völkermords im Kolonialismus des 19. Jahrhunderts zu suchen
sind. Aber es existieren auch starke autochthone Entwicklungen, die nicht
nur auf den Kolonialismus zurückgeführt werden können. Deshalb handelt es
sich nicht nur um Spätfolgen des Kolonialismus.
Sie verwenden den Begriff der partizipatorischen Gewalt für eine
Kombination aus staatlichem und gesellschaftlichem Interessen für
Massengewalt. Welche Rolle spielt dabei der Staat? Ist er der große
Manipulator? Verselbstständigt sich Massengewalt bisweilen gegen die
ursprünglichen Absichten des Staates?
In Indonesien geht es um Verfolgung und Ermordung von mindestens einer
halben Million Menschen in den Jahren 1965/66 nach einem Putschversuch
durch linksgerichtete Offiziere, der damals sehr großen kommunistischen
Partei Indonesiens zur Last gelegt wurde. Einerseits spielte da die Armee
eine starke Rolle, die durch Propaganda, Befehle und auch durch
Mordeinheiten Massenmorde mit organisiert und durchgeführt hat. Aber schon
von der Armee als solcher kann man gar nicht sprechen, weil es illoyale
Einheiten gab, die das nicht unterstützten und in Einzelfällen sogar mit
Einheiten, die Massaker verübten, in Konflikt gerieten. Es gab
Militäroffiziere, die abgesetzt wurden. Das gilt auch für den restlichen
Staatsapparat. Der Präsident Indonesiens, Sukarno, versuchte, die
Massenmorde zu verhindern, der Außenminister und manche Provinzgouverneure
desgleichen. Es gab auch nichtstaatliche Akteure, die sich bemüht haben,
die Massenmorde zu verhindern, etwa religiöse Würdenträger. Daneben haben
vielerorts religiöse, Partei- und Jugendgruppierungen sowie Mobs Menschen
massakriert. Der Staat, das sieht man an diesem Beispiel, ist nur ein
Akteur beim Zustandekommen von Gewalt. Und der Staat ist kein Monolith. Es
gibt kein einheitliches staatliches Handeln. Es gibt quer durch den Staat
und quer durch das Militär zum Teil gewaltsame Auseinandersetzungen
darüber, ob diese Maßnahmen durchgeführt werden sollen. Insofern sollte man
nicht sagen, der Staat sei an all dem allein schuldig gewesen.
Sie wenden sich dagegen, Täter zu Bestien zu erklären. Aber jeder Täter hat
doch die individuelle Entscheidungsmöglichkeit, bei einem Pogrom
mitzumachen oder nicht. Heißt das, dass wir nicht mehr nach Tätern suchen
sollten sondern nach gesellschaftlichen Motiven? Und was bedeutet das für
die Strafverfolgung?
Ich versuche von dem Täter- und Schuldbegriff wegzukommen und mehr zu
Verantwortlichkeiten und Handlungsmöglichkeiten hin. Damit möchte ich auch
das Abwälzen von Verantwortung nur auf einige sichtbare Täter vermeiden. Es
geht um eine weitgehende, schon individuell festzumachende aber
gesellschaftlichen Gruppen zuzuschreibende Motivation. Bestien entscheiden
nichts, denn sie morden einfach so. Wie Yehuda Bauer einmal zum
Holocaust-Gedenktag im Deutschen Bundestag gesagt hat: Die Täter waren
Menschen. Wenn wir sie als Bestien betrachten, dann können wir ihre
Handlungsweise nicht erklären. Nach dem Hitler-Film mit Bruno Ganz in der
Hauptrolle haben sich beispielsweise viele Zuschauer beschwert, Hitler sei
zu menschlich dargestellt. Aber mit der Kollegin Marina Cattaruzza würde
ich hierzu sagen: Hitler war ein Mensch mit menschlichen Bedürfnissen,
menschlichen Entscheidungen und auch mit einer Art Moral, auch wenn wir
diese ablehnen und als verbrecherisch betrachten.
Wenn Sie mit Ihrem Buch recht haben, geht es bei der Frage der Prävention
künftig nicht mehr darum, ein Staatswesen so zu verändern, dass es weniger
Gewalt ausübt, sondern darum, gesellschaftliche Zustände insgesamt zu
verändern.
Ja. Es reicht nicht einfach aus, eine Regierung zu stürzen. Es gibt aber
noch eine weitere Konsequenz: Die ausländischen Einwirkungsmöglichkeiten
sind nach meiner Ansicht kleiner als man denkt. Wenn die Verantwortung für
Gewalt in vielfältigen gesellschaftlichen Interessen verwurzelt ist, dann
müsste man das ja auch von außen zu steuern versuchen. Wenn es viele
Gruppen, auch zivilgesellschaftliche Akteure gibt, die ohne staatliche
Steuerung handeln und die sich an Massengewalt beteiligen, dann sind die
von außen noch schwerer zu steuern als ein zentraler Staatsapparat. Das
bedeutet: Prävention muss vor allem aus dem Inneren eines Landes kommen.
Es wird als großer Erfolg betrachtet, dass internationale Strafgerichtshöfe
etwa in Rom oder Den Haag gegen die Verantwortlichen von Massengewalt
vorgehen. Aber da kann man natürlich nur Straftäter und keine
gesellschaftliche Gruppe verfolgen. Sind diese Hoffnungen, durch solche
Verfahren Täter abzuschrecken, übertrieben?
Es hat schon die Nürnberger und Tokioter Prozesse und ihre
Nachfolgeverfahren gegeben. Die haben nach 1945 auch nicht abgeschreckt.
Ich glaube, es gibt keine empirische Untersuchung darüber, ob es
tatsächlich einen Abschreckungseffekt gibt. Ja, es gibt Historiker, die
argumentieren, dass auswärtige Interventionen oder Strafandrohungen
bestimmte Massenmorde sogar intensiviert oder beschleunigt haben. Solche
Diskussionen existieren etwa für den Fall Ruanda oder für die Verfolgung
der Armenier im Osmanischen Reich. Denn die verfolgten Gruppen wurden im
eigenen Land so dargestellt, als seien sie mit ausländischen Interessen
verbunden. Was den internationalen Gerichtshof angeht: Das scheint mir noch
eine relativ selektive Verfolgung zu sein. Ich werde meine Meinung ändern,
wenn George W. Bush vor Gericht steht.
18 Jul 2011
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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