# taz.de -- Pilgern in der Schweiz: Im Bann der Berge | |
> Vielleicht ist Goethe der wahre Nationalheld der Schweiz. Man wandert | |
> sagenhaften Heiligen hinterher und trifft doch immer wieder ihn. | |
Bild: Der Bürgenstock bei Stans. Auch Goethe hat's hier gefallen. | |
Oben auf dem Berg fühlt man sich irgendwie leichter, atmet automatisch tief | |
durch, genießt die Weite und den spektakulären Rundumblick hier auf dem | |
Hörnli. Weit hinter uns der Bodensee, wo wir herkommen. Vor uns die | |
Bergwelt der Zentralschweiz. 48 Schweizer Viertausender, bedeckt von ewigem | |
Schnee. Unsere Zufallsgemeinschaft von Pilgern auf dem Schweizer Jakobsweg | |
genießt die spektakulären Farben des Sonnenuntergangs. | |
Wir haben noch siebzehn Etappen vor uns, am nördlichen Alpenbogen entlang, | |
bis zum Endpunkt Genf, wo der französische Wegabschnitt des Jakobswegs über | |
Le Puy de Velay nach Santiago de Compostela beginnt. | |
Rapperswil, das nächste Ziel, liegt am Zürichsee. Es ist ein | |
Bilderbuchsonntag. Von der Altstadt aus wandeln zahllose Menschen übers | |
Wasser nach Pfäffikon hinüber. Ein Holzsteg über den See wurde jüngst | |
gebaut. | |
Ab Pfäffikon geht es lang und steil aufwärts über den Etzelpass und die St. | |
Meinradskapelle zum Kloster Einsiedeln. Der Wallfahrtsort ist das | |
wichtigste Pilgerzentrum der Schweiz. Alljährlich besuchen mehrere | |
Hunderttausend Touristen und Pilger aus aller Welt die schwarze Madonna in | |
ihrer Gnadenkapelle, einer von vielen innerhalb der reich verzierten | |
Klosterkirche. Das tägliche Abendgebet der Mönche mit gregorianischen | |
Gesängen ist beeindruckend. Im Mittelalter sammelten sich in Einsiedeln die | |
Pilgerströme aus dem Osten und Norden Europas. Es ist ein reiches Kloster | |
und ein großes Anwesen. Frühmorgens treibt uns mächtiges Glockengeläut aus | |
den Betten. | |
Die Verführung, vom Weg abzuweichen, kommt in Gestalt eines bunten | |
Prospektes über den "Schwyzer Panoramaweg". Alle Gedanken fixieren sich | |
plötzlich auf die Gondel, die uns einen langen Aufstieg auf den nächsten | |
Berg erspart und mehr dieser prächtigen Blicke verspricht. | |
## | |
Wir besteigen eine Gondel hinauf nach Holzegg und in jene Touristenzone, wo | |
als Erstes die Terrasse eines Berggasthauses lockt. Wir sind den | |
Schneebergen um einiges näher gekommen, die Aussicht über die Höhen und | |
hinunter ins Tal zum Vierwaldstättersee ist großartig. | |
Der Panoramaweg, insgesamt zwanzig Kilometer lang, ist ein Highlight. | |
Entlang der "Mythen", zwei hohen, wuchtigen Bergspitzen, die aus dem | |
Höhenzug herausragen, erreichen wir das Gasthaus am Pilgerpass Haggenegg. | |
Ein heftiger Gewitterregen nimmt uns allerdings den Mut für den | |
Tausendmeterabstieg zum See. | |
"Der Stieg war abscheulich, über schlüpfrige, feuchte Matten." So beklagte | |
sich bereits Johann Wolfgang Goethe. Und der war gut zu Fuß. Zweimal, im | |
Juni 1775 und im Herbst 1797, kam der Dichter über die Haggenegg. Hier | |
rastete er und verzehrte urigen Urner Käse samt Wein. | |
Wir folgen dem schönen Höhenweg bis zur nächsten Gondel ins Tal der | |
Urschwyz. | |
"Swiss Knife Valley", so bezeichnet unser Prospekt diese | |
geschichtsträchtige Region um den Vierwaldstättersee, in der die | |
schweizerische Eidgenossenschaft 1291 mit dem Schutz- und Trutzbündnis der | |
Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden ihren Anfang nahm. | |
Zum Gründungsmythos gehört auch der legendäre Widerständler Wilhelm Tell, | |
den Friedrich Schiller mit seinem Drama zum Schweizer Nationalhelden | |
machte. Goethe hatte Schiller die Sage vom Tell, die er am | |
Vierwaldstättersee recherchiert hatte, zur Bearbeitung überlassen. | |
Auch in Stans, dem nächsten Etappenziel jenseits des vielbesuchten Sees, | |
hielt sich Goethe auf. Ein Schild am ehemaligen Gasthaus auf dem Marktplatz | |
erinnert an den Gast. Dreimal bereiste Goethe die Schweiz und bestieg jedes | |
Mal den Gotthard. Er war einer der vielen europäischen Intellektuellen und | |
Kosmopoliten des 18. Jahrhunderts, die aus der feudalen Enge und Starrheit | |
ihrer heimatlichen Verhältnisse heraus dem Freiheitsmythos Schweiz folgten. | |
Der Weg zum nächsten bekannten Wallfahrtsort, nach Flüeli-Ranft, führt | |
durch altes bäuerliches Kulturland, wo es vor über 200 Jahren sicher nicht | |
anders aussah als heute. Eine Wanderung wie durch ein Freilichtmuseum. Die | |
Glocken der Kühe bimmeln. Der einzige nennenswerte Neubau weit und breit | |
ist das Kloster der Dominikanerinnen von Bethanien hoch oberhalb des | |
Sarnersees. Es bietet eine herrliche Aussicht auf die Bergwelt der Umgebung | |
und ist ein guter Übernachtungstipp. | |
Auf dem Weg nach Interlaken reiht sich See um See aneinander. Dort | |
angekommen sind die Schneeberge so nah wie nie bisher. Interlaken liegt | |
zwischen zwei Seen, verbindet den Brienzer- mit dem Thunersee, ein | |
Logenplatz vor der Kulisse von Eiger, Mönch und Jungfrau. Interlaken ist | |
ein touristischer Klassiker. Die Grandhotels stammen aus der schönen, | |
reichen Zeit des Reisens. Vor allem Japaner beleben den Ort. Inderinnen | |
flanieren in bunten Saris. Die sportive Jugend verteilt sich auf | |
Backpackerhostels, Interlaken ist das Zentrum der Paraglider. | |
Der Seewanderweg zu den Beatushöhlen führt dann durch ein | |
Naturschutzgebiet. Beatus war der Legende nach ein irischer Mönch, der im | |
sechsten Jahrhundert die Helvetier zum christlichen Glauben bekehren | |
wollte. Oberhalb des Thuner Sees lebte er in einer Höhle. Doch vor Beatus | |
stoßen wir wieder auf Goethe. Ist er der wahre Schweizer Nationalheld? Er | |
beschrieb hier einen Efeubaum, dessen Stamm am Höhleneingang steht. | |
## | |
Ab Thun geht es in voralpines Gelände. Harte Beinarbeit ist wieder | |
angesagt. Rüeggisberg ist eine Zäsur. Einerseits ein letzter traumhafter | |
Rückblick, von der Klosterruine auf die Landschaft hinter uns, | |
andererseits, nun ja, wie weit will man noch gehen? Wir sind im Bauernhof | |
auf dem Klostergelände untergekommen. Keiner von uns wird vorerst die | |
Grenze nach Frankreich überschreiten. Den Jakobsweg in Etappen zu gehen, | |
sei üblich, sagt unsere Wirtin. Seit das Wandern auf den historischen Wegen | |
wieder modern ist, tun das viele. | |
Dann schließlich: der Genfer See. Weinberge säumen seine Ufer. An der | |
Lausanner Seepromenade fühlt es sich wie eine Ankunft im Süden an. Am | |
anderen, südwestlichen Ende: Genf. | |
30 Jul 2011 | |
## AUTOREN | |
Christel Burghoff | |
## TAGS | |
Reiseland Schweiz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |