# taz.de -- Flüchtlinge aus Tunesien: Um keinen Preis zurück | |
> Glück im Unglück: Nach ihrer Flucht aus der Heimat landeten die Tunesier | |
> Saber und Khaled bei Anna Maria in der toskanischen Idylle. | |
Bild: Olivenhaine, Zypressen, Toskana: Saber und Khaled haben Glück gehabt. | |
FLORENZ taz | "Eine Achterbahn." Saber braucht nicht viele Worte, um seine | |
Fluchtgeschichte zusammenzufassen, die ihn von Tunesien erst nach | |
Lampedusa, dann ins Asylbewerberheim nach Florenz führte. Villa Pieragnoli | |
lautet jetzt seine Adresse. Die "Villa" ist ein schlichter, beige | |
gestrichener Zweckbau, gelegen in der extremen Peripherie der | |
Renaissancestadt - doch was für eine Peripherie! Ein Lächeln huscht über | |
Sabers Gesicht, als er auf die große Terrasse tritt. "Ich habe Glück | |
gehabt." Olivenhaine, Zypressen, Wiesen, dahinter die malerischen Türme von | |
Fiesole: Saber und sein Freund Khaled sind mitten in toskanischer Idylle | |
untergebracht. | |
Saber meint, die Achterbahn habe ihn ein ganzes Stück nach oben getragen, | |
und Khaled nickt: "Hier stimmt alles. Das Essen ist prima, die Betten sind | |
prima." Und Anna Maria, die Heimleiterin, "die ist eine richtige Mama. Wenn | |
ich sie anschaue, dann sehe ich meine Mutter vor mir." | |
Vier Monate liegt der große Flüchtlingszustrom übers Mittelmeer, von | |
Tunesien nach Lampedusa, mittlerweile zurück. Etwa 24.000 Menschen kamen, | |
vor allem junge Männer wie der 23-jährige Saber und der vier Jahre ältere | |
Khaled, und wurden erst tagelang auf Lampedusa festgehalten, dann auf | |
Italiens Regionen verteilt und mit einer provisorischen | |
Aufenthaltserlaubnis ausgestattet. Die meisten zogen gleich weiter, über | |
die französische Grenze Richtung Paris, Lyon oder Bordeaux. Nur die | |
wenigsten blieben. | |
"Bei der Überfahrt nach Lampedusa hatte ich furchtbare Angst", erinnert | |
sich Khaled, dann spricht er in dürren Worten davon, wie der Motor des | |
kleinen Bootes den Geist aufgab, wie sie drei Tage für die Reise brauchten, | |
beherrscht von dem Gedanken, dass die Flucht in einer Katastrophe enden | |
könnte. Im Jahr 2008 hatte er es schon einmal probiert, von Libyen aus, | |
"aber damals wurde ich direkt wieder aus Italien nach Tunesien | |
zurückgeschafft". | |
## Auto verkauft | |
Eigentlich hatte er damals gedacht, das sei es gewesen. Doch dann kam die | |
Revolution in Tunesien, wurde Ben Ali gestürzt, stachen in den Wochen des | |
chaotischen Übergangs Dutzende Boote mit Flüchtlingen von Sfax oder Zarzis | |
in See. Kurz entschlossen setzte sich Khaled, der in Tunis als Friseur | |
arbeitete, ins Auto, fuhr nach Sfax, verkaufte den Wagen, um die 750 Euro | |
an die Schleuser bezahlen zu können. "Ich habe nichts mehr in Tunesien", er | |
zögert einen Moment, "aber vorher hatte ich eigentlich auch nichts. | |
15 Jahre Arbeit - und trotzdem bekam ich das bisschen Geld nicht zusammen, | |
das mir erlaubt hätte zu heiraten." Jetzt will er nach Marseille, da lebt | |
sein Vater. Doch anders als die meisten seiner Landsleute hat er noch keine | |
provisorische Aufenthaltserlaubnis bekommen. Jeden Tag spricht er auf dem | |
Polizeipräsidium vor, "doch die sagen, es gibt Probleme mit den | |
Fingerabdrücken". Khaled fühlt sich wie ein Gestrandeter. | |
Nicht viel anders geht es Saber, auch wenn der gar nicht nach Frankreich | |
will. Der hagere junge Mann mit dem schmalen Gesicht schaut mit müdem | |
Blick, seine Stimme klingt resigniert. "Schlafen und essen, essen und | |
schlafen" - das sei sein Tagesablauf. "Dabei bin ich froh, hier gelandet zu | |
sein", meint er. Lampedusa dagegen sei einfach furchtbar gewesen, ganz | |
unten auf der Achterbahn. | |
Mehrere Tage hätten er und Hunderte andere Neuankömmlinge auf dem Hügel | |
direkt über der Hafenmole schlafen müssen, unter freiem Himmel, geschützt | |
nur durch ein paar Plastikplanen - während die Berlusconi-Regierung in Rom | |
untätig zuschaute. "Doch die Menschen in Lampedusa haben uns geholfen, wo | |
sie konnten, mit Essen, mit Wasser", bilanziert er und fügt gleich hinzu, | |
in Tunesien hätten nur kurz darauf mehr als 200.000 Flüchtlinge aus Libyen | |
Aufnahme gefunden. | |
Dann aber schoss die Achterbahn steil nach oben. "Einfach Wahnsinn", fällt | |
ihm nur zu der Fähre ein, die ihn in die toskanische Hafenstadt Livorno | |
brachte. "Fünf Sterne" verleiht er dem Schiff, "die Kabinen waren | |
wunderschön, es gab bestes Essen an Bord, dazu noch Tabak gratis für alle | |
Raucher". | |
Wechselbäder, die die italienische Flüchtlingspolitik immer wieder | |
bereithält: Kalkül, Willkür oder auch Zufall entscheiden darüber, wie human | |
- oder wie inhuman - die Ankömmlinge behandelt werden. Khaled und Saber | |
hatten gleich doppelt Glück. Der erste Glücksfall für sie war es, dass sie | |
die Überfahrt Ende März angetreten hatten. Nur einige Tage später, und ihre | |
Flucht hätte sofort ein völlig anderes Ende genommen. Anfang April nämlich | |
einigte sich die italienische mit der tunesischen Regierung. Der | |
Kompromiss: Wer es bis zum 5. April nach Italien geschafft hatte, sollte | |
die provisorische Aufenthaltserlaubnis von sechs Monaten bekommen. Alle | |
Tunesier, die später eintrafen, galten als Illegale, wurden in | |
Abschiebelagern weggesperrt und werden nach und nach zurückgeflogen. | |
## Tränengas auf Zelte | |
Eines dieser Lager liegt in Kinisia in der sizilianischen Provinz Trapani; | |
Journalisten haben dort auf Weisung des Innenministers Roberto Maroni | |
striktes Zutrittsverbot. Doch der Oppositionsabgeordnete Jean-Leonard | |
Touadi konnte das Camp besichtigen. "Die Absperrung besteht aus drei Reihen | |
von Containern, eine über die andere gestapelt", berichtet er. Kein Baum, | |
kein Strauch weit und breit, die Schatten spenden könnten, zwei Reihen von | |
Großzelten, in denen 48 Tunesier noch Ende Juni bei brütender | |
sizilianischer Sommerhitze auf den Tag ihrer Abschiebung warten. Nicht | |
einmal eine Kantine, einen Gemeinschaftsraum gibt es. | |
"Selbst der Schäfer, der hier nebenan arbeitet, würde seine Schafe nie und | |
nimmer so behandeln", bilanziert Touadi bitter. Gleich mehrere dieser | |
menschenunwürdigen Lager ließ die italienische Regierung errichten. Im Camp | |
von Santa Maria Capua Vetere, nördlich von Neapel, rebellierten Anfang Juni | |
die dort weggesperrten 90 Tunesier; die Polizei feuerte Tränengasgranaten - | |
und setzte so die Zelte in Brand. | |
Das zweite Mal hatten Saber und Khaled Glück, als sie auf die Fähre | |
Richtung Livorno kamen. Das hieß: Unterbringung in der Toskana. | |
Innenminister Maroni hatte die Verteilung der Flüchtlinge mit Bleiberecht | |
auf alle italienischen Regionen durchgesetzt. Ihm schwebte in jeder Region | |
ein Großlager vor. In der Toskana, wäre es nach Maroni gegangen, sollten | |
Hunderte Flüchtlinge auf einem früheren Kasernengelände untergebracht | |
werden. | |
Doch der linke Präsident der Region, Enrico Rossi, spielte nicht mit. Anna | |
Maria Tedde, die Leiterin der Villa Pieragnoli, spricht denn auch vom | |
Modell Toskana. Statt sie in ein Großcamp zu pferchen, verteilte die | |
Regionalregierung die Flüchtlinge auf alle Kommunen der Toskana - kleine | |
Gruppen in kleinen Einrichtungen. | |
Solche wie die Villa Pieragnoli: Schon seit zehn Jahren ist hier die | |
Caritas gemeinsam mit dem linken Verband ARCI in der Betreuung von | |
Asylbewerbern oder Kriegsflüchtlingen aktiv. Mittags sitzen gut 50 Menschen | |
im Speisesaal, unter ihnen eine Schar Kleinkinder. Aus Aserbaidschan, | |
Eritrea, dem Kosovo oder Ghana stammen sie. Die Caritas-Helfer servieren | |
erst ein Kräuterrisotto, dann Truthahnhamburger. Auch die beiden Tunesier | |
sitzen mit am Tisch. | |
Dennoch: Saber empfindet sich als Flüchtling zweiter Klasse. Er ist nicht | |
im regulären Asylprogramm - "und das heißt, dass ich zum Beispiel keinen | |
Cent Taschengeld kriege". Er fährt mit der Hand durch seine Locken. "Nicht | |
einmal zum Friseur kann ich gehen - und Geld für Zigaretten habe ich auch | |
nicht." Vor allem aber peinigt ihn das Gefühl, einen bloß provisorischen | |
und keinen sicheren Hafen gefunden zu haben. Anders als Khaled will er | |
nicht nach Frankreich. "Ich habe dort keinen Menschen, ich habe überhaupt | |
in ganz Europa keinen Menschen." Den Goldschmuck seiner Mutter versetzte er | |
zu Hause, um die Bootspassage zu bezahlen. Seine Hoffnung war es, in | |
Italien schnell Arbeit zu finden. In Tunis an der Universität studierte er | |
im zweiten Jahr Geografie - "aber das konnte ich mir einfach nicht mehr | |
leisten, seit meine Mutter schwer erkrankt ist". | |
Doch jetzt? "Hier sind die Tage immer gleich. Schlafen und essen, essen und | |
schlafen, schlafen und essen", murmelt er erneut. Anfang Oktober läuft | |
seine humanitäre Aufenthaltserlaubnis ab; Saber fürchtet, dass die | |
Achterbahn ihn dann wieder nach unten trägt, dass er zum Illegalen wird, | |
dass er auch aus der Villa Pieragnoli rausmuss, wenn er keine Arbeit | |
gefunden hat, denn "hier in Italien herrscht tiefste Krise". | |
Nur eine Gewissheit hat er: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt will er um keinen | |
Preis zurück nach Tunesien. | |
1 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Michael Braun | |
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