# taz.de -- POLYMERE: Revolutionen der Plastikwelt | |
> Eine Ausstellung im Bremer Wilhelm Wagenfeld Haus schildert den Kampf der | |
> Designer gegen den schlechten Ruf des Plastiks, den das Material einfach | |
> nicht loswerden will. Dabei wäre unser Gerätepark ohne die Polymere nicht | |
> denkbar. | |
Bild: Klappradio "Brionvega" aus dem Jahr 1965. | |
BREMEN taz | Was hat das Salatbesteck in der Küchenschublade gemeinsam mit | |
dem Computer im Arbeitszimmer, den Stapelstühlen im Garten oder dem | |
Flugzeugcockpit auf dem Rollfeld? Man klopft auf die Oberfläche, wiegt die | |
Gegenstände in der Hand oder schaut sie bloß an und antwortet: "Die sind | |
aus Plastik." Stimmt. Aber Plastik ist nicht gleich Plastik. Es gibt | |
weiche, harte, biegsame, elastische, spröde Kunststoffe. Eine Ausstellung | |
im Bremer Wilhelm Wagenfeld Haus erklärt den "Stoff für alle Fälle". | |
Außerdem versuchen die Macher eine anschauliche Ehrenrettung, indem sie | |
zeigen, was Designer bislang in der "Kunststoffzeit" kreiert haben, die | |
seit über 100 Jahren andauert. | |
Die Polymere, so die chemische Bezeichnung für Kunststoffe, kommen in | |
natürlicher Form als Bernstein, Leder oder Horn vor. Ab Mitte des 19. | |
Jahrhunderts entwickelten Chemiker "halbsynthetische Kunststoffe", indem | |
sie Biopolymere veränderten. Aus Kautschuk und Schwefel entstand Gummi. | |
Linoleum und Celluloid hießen weitere Stoffe, die die Welt veränderten. | |
Ausstellungskurator und Chemiker Günter Lattermann nennt das Celluloid "den | |
ersten thermoplastischen Massenkunststoff". Dank der Spritzgusstechnik und | |
dem Zusatz von Farben konnte das Cellulosenitrat aussehen wie Horn, | |
Elfenbein, Schildpatt, Perlmutt, Koralle. In den Ausstellungsvitrinen sehen | |
Besucher kunstvolle Celluloid-Produkte aus der Zeit um 1900: Döschen, | |
Handspiegel, Kämme, Operngläser, Zierfiguren. | |
Doch so sehr sich die Eigenschaften des Materials verbesserten, es blieb | |
doch immer ein Makel, der sich bis heute hinter dem nach Discounter | |
klingenden Wort "Plastik" versteckt. Kunststoffe dienten anfangs bloß dazu, | |
seltene und deshalb teure Materialien günstig für den Massenmarkt zu | |
imitieren. "Billigmaterial", "billiger Schund", "Ersatzstoff", "Surrogat" | |
waren übliche Bezeichnungen. | |
An dem schlechten Ruf änderten auch die Designer nur wenig, die sich ab | |
Ende der 1920er Jahren konkret mit der eigenständigen Formgebung von | |
Kunststoffen befassten. Die Arbeit der Design-Pioniere hätte sich zwischen | |
wissenschaftlichem Experiment, technischer Anwendung und kreativer | |
Gestaltung bewegt, sagt Günter Lattermann. Einige Jahre zuvor hatte Henry | |
Baekeland in Berlin-Erkner das Tor ins Kunststoffzeitalter endgültig | |
aufgestoßen, als er 1910 den ersten vollsynthetischen Kunststoff erfand: | |
Bakelit. | |
Das häufig schwarz-braune oder rötliche harte Material war die Rohmasse, | |
aus dem der Gerätepark des modernen Menschen im 20. Jahrhundert gepresst | |
wurde. Klobige Volksempfänger und US-Radios in Wolkenkratzerform stehen in | |
der Design-Ausstellung neben einem Lautsprecher der niederländischen Firma | |
"Philips", deren Manager das gescheckte Monstrum "Bratpfanne" getauft | |
hatten und als Kunstwerk vermarkten wollten. In die Galerie der | |
Bakelit-Klassiker gehören zudem Telefone, Fotoapparate, Ventilatoren oder | |
Haartrockner. Letztere vergleicht eine Besucherin der Bremer Ausstellung | |
mit einem "Elektroschocker". Elegantes Produktdesign steckte um 1930 noch | |
in den Kinderschuhen. | |
Deutsche Gestalter wie Christian Dell dachten sich zur selben Zeit die | |
erste Kunststoffleuchte aus, die ebenfalls in Bremen ausgestellt ist. Die | |
bewegliche Schreibtischlampe dominierte bis in die 1980er Jahre fast | |
unverändert sowjetische Büros. Das frühe deutsche Kunststoffdesign war | |
geprägt vom sachlichen funktionalen Stil des Bauhauses, wo man die neuen | |
Kunststoffe jedoch ignoriert hatte. | |
Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich das Produktdesign in der | |
Kunststoffszene dramatisch. Bei Elektrogeräten, Lampen, Haushaltsartikeln | |
schienen jetzt alle Formen, Farben, stilistischen Einflüsse möglich. | |
Organisches oder stromlinienförmiges US-Design stand neben dem | |
vergleichsweise streng wirkenden Küchenhelfern aus dem Hause "Braun", wo | |
man sich dem "Gesetz der Ordnung, der Harmonie und der Sparsamkeit" | |
verpflichtet fühlte. | |
Pop-Art und die Eroberung des Weltraums inspirierten die | |
Kunststoff-Designer ab den 1960er Jahren. Rasierer, Kaffee- oder | |
Schreibmaschinen leuchteten gelb, rot und orange. Fernseher und Radios | |
sahen aus wie Astronautenhelme oder Satelliten. Das futuristisch, aber | |
unpraktisch wirkende Handgelenk-Radio "Toot-A-Loop" des japanischen | |
Herstellers "Panasonic" ähnelte einem kanariengelben, verformten | |
Brausekopf. | |
Die ungezügelte Designerfantasie veränderte auch Sitzmöbel, die um 1970 wie | |
Ufos oder aufgeklappte Eier aussahen. Mit dem aufregenden Design kamen | |
thermoplastische, spritzgegossene Kunststoffe in Mode, darunter Polystyrol | |
und Acrylglas. Die Ära des Bakelit und des übrigen Pressplastik war | |
beendet. | |
Die Plaste- und Elasteschau im Wilhelm Wagenfeld Haus veranschaulicht | |
chronologisch, wie Kunststoffprodukte Küchen, Wohn-, Schlaf- und | |
Kinderzimmer sowie Büros aufpeppten. Heute setzen Designer vermehrt auf | |
neue Biokunststoffe. So besteht Werner Aisslingers "Hemp Chair" oder | |
"Hanfstuhl" zu 70 Prozent aus Pflanzenfasern und aus Acrylatharz. | |
Ausstellungsmacher Günter Lattermann teilt die Meinung des französischen | |
Stardesigners Philippe Starck, der Kunststoffe als "edles Material" | |
bezeichnet. Und vermutlich hofft Lattermann, der Sammler alter Kunststoffe, | |
insgeheim, dass die Besucher dies nach dem Rundgang durch seine Ausstellung | |
ähnlich sehen. | |
3 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Thomas Joerdens | |
## TAGS | |
Bremen | |
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