# taz.de -- Berliner Festival Tanz im August: Der große Treck der Tänzer | |
> Großartige und ungewöhnliche Stücke kamen beim Berliner Festival Tanz im | |
> August von den Choreografen Guilherme Botelho und Emanuel Gat. | |
Bild: Ausschnitt einer langen Tänzer-Kette aus "Sideways rain". | |
Es gibt nur eine Richtung und die ist unausweichlich. Ununterbrochen queren | |
die 15 TänzerInnen der Compagnie Alias aus Genf die Bühne von links nach | |
rechts, auf parallelen Bahnen, wie die Schwimmer im Becken oder Läufer auf | |
der Aschenbahn. Sie kriechen auf allen vieren, sie rollen wie Felsen, sie | |
schieben sich vorwärts wie Versehrte, eine Gangart schiebt sich in die | |
nächste. Lange vor dem aufrechten Gang, noch auf allen vieren, folgen sie | |
schon drehenden Bewegungsmustern, tanzenden Spinnen vergleichbar, aber | |
immerzu auf parallelen Bahnen in eine Richtung. | |
"Sideways rain", Regen, der von der Seite kommt, so heißt dieses großartige | |
und ungewöhnliche Tanzstück des Choreografen Guilherme Botelho, das vor | |
knapp einem Jahr entstanden ist und jetzt beim Berliner Festival Tanz im | |
August gastierte. Es war einerseits eine Entdeckung, denn kaum jemand in | |
Deutschland kennt den Choreografen Guilherme Botelho, der aus Brasilien | |
stammt, in der Schweiz zum Tänzer wurde und dort seit 1994 eine eigene | |
Compagnie leitet. Andererseits fand sich in "Sideways rain" so etwas wie | |
die Signatur des dreiwöchigen Festivals: Denn sowohl die ununterbrochene | |
Präsenz auf der Bühne, eine Bewegung ohne Halt, die den Tanzenden eine | |
Kondition wie für einen Marathon abverlangt, als auch die Radikalität, mit | |
der reduzierte Strukturen und Wiederholungen ausgestellt wurden, teilte | |
diese Produktion mit anderen des Festivals. In vielen Stücken war in eine | |
Stunde so viel Energie hineingepresst wie sonst in zwei. Und doch entstand | |
bei jedem Choreografen etwas anderes daraus, so als ob eine Saat, die vor | |
drei, vier Jahrzehnten mit dem Minimalismus begann, auf den sich zwei | |
Compagnien direkt bezogen, nun ganz unterschiedliche Ableger hervorgebracht | |
hätte. | |
Ausgerechnet auf biologische Metaphern zu kommen, das ist sicher noch eine | |
Einflüsterung von "Sideways Rain", solch einen evolutionären Bilderstrom | |
trat sonst keine Produktion los. Hier aber spulen sich die Bilder wie von | |
einer Filmrolle ab, die Tausenden von Jahren im Zeitraffer folgt. Was kommt | |
einem nicht alles als Vergleich in den Sinn, große Tierherden, die Bewegung | |
des Meeres, fliehende Menschen, ein Exodus; aber auch rollende Steine, vom | |
Wasser getriebene winzige Tierchen. Für andere Arten des Vorwärtskommens | |
findet man kaum einen Vergleich, wie ein Kugeln mit kleinen Hüpfern darin, | |
ein Gleiten auf dem Rücken und den Schultern, eine schwindelerregende Kette | |
von Rollen rückwärts. Was hier an Bewegungen erfunden wird, ist schon toll, | |
aber das nur nebenbei. | |
## Geschichtsphilosophischer Bedeutungsüberschuss | |
Man verliert in diesem Fluss den Menschen gelegentlich aus den Augen und | |
findet ihn wieder, er ist ein Durchgangsstadium für diese vielen | |
Metamorphosen. Auch wenn im Fluss der Körper der Einzelne fast nie autonom | |
handelt, so wird doch jeder der Tänzerinnen und Tänzer, die im Übrigen | |
unspektakuläre Alltagskleider tragen, als Individuum erkennbar, | |
unterscheidet sich in der Interpretation der Gangart vom anderen. Wenn in | |
seltenen Augenblicken einer von ihnen anhält und dem Strom entgegenblickt, | |
glaubt man als Zuschauer fast, den Raum selbst nun rückwärtsrutschen zu | |
sehen, so sehr hat man den Sog der Bewegung schon verinnerlicht. Irgendwann | |
gehen die Tänzer, rückwärtsschauend, immer weiter noch vorne und man sieht | |
den Menschen in ihnen, der sich, der Geschichte ausgeliefert, nicht gegen | |
sie stellen kann. | |
Diese Metaphern sind zweifelhaft, ein geschichtsphilosophischer | |
Bedeutungsüberschuss des Stücks, den man nicht unbedingt teilen mag. Das | |
tut dem verblüffenden Erlebnis, von der Schönheit der Bewegung und ihrem | |
Sog beinahe in Trance versetzt zu werden, aber kaum Abbruch. Die | |
elektronische Tonspur der mexikanischen Komponisten Murcof unterstützt das | |
stete Drängen allerdings teils dann doch etwas zu massiv. | |
Das Festival, das in acht Theatern der Stadt noch bis Ende nächster Woche | |
22 Produktionen aus 13 Ländern zeigt, begann mit Lucinda Childs, einer | |
Pionierin des US-amerikanischen, minimalistischen Tanzstils. Ihr Stück | |
"Dance" zu einer dreiteiligen Komposition von Philip Glass war 1979 eine | |
unerhörte Angelegenheit: Die Beschränkung auf wenige Bewegungselemente, | |
immer wiederkehrend und nur leicht gegeneinander verschoben auf parallelen | |
Bewegungsbahnen oder auf Kreissegmenten, hatte damals auch viel von | |
Verweigerung - keine Emotion, keine Erzählung, nichts Dekoratives, Struktur | |
pur. 2009 nahm Childs mit einer neuen Tänzergeneration das Stück wieder | |
auf; ein Video von Sol Lewitt, das die alte Fassung zeigt, war und ist | |
wieder einziges Element des Bühnenbildes. | |
Das ungeheuer Leichte und Lässige der von keiner aufgelegten Bedeutung mehr | |
belasteten Bewegung macht "Dance" zu einer beglückenden, aber auch | |
irritierenden Erfahrung. Denn die Struktur hat auch etwas Unerbittliches, | |
sie erfordert Disziplin und Anstrengung bis zur Erschöpfung, während die | |
Bewegungen selbst fast ohne die Spannung des klassischen Tanzes ausgeführt | |
werden, mehr wie nebenbei aus den Gelenken geschlenkert, mit der Lakonie | |
des Alltäglichen. Den Tänzern, die "Dance" heute interpretieren, schien | |
dieser Verzicht auf klassische Haltung übrigens schwerer zu fallen als | |
denen, die "Dance" herausbrachten. Das ist erstaunlich schon deshalb, weil | |
in dieser Kunstform etwas lag, das in der späteren Technokultur tatsächlich | |
zu einem großen kollektiven Erlebnis werden konnte, ein Driften der Körper | |
mit der Musik, bis Zeit und Raum ihre Ausdehnung ändern. Das betonte eine | |
weitere Choreografin, Nicole Beutler aus Amsterdam, durch ihren "2: | |
Dialogue with Lucinda". Die Technomusik von Gary Shepherd, die zu der 1977 | |
entwickelten Struktur jetzt neu dazugekommen war, passte nahtlos. | |
Extrem an der Entwicklung und Ausstellung von Strukturen interessiert ist | |
auch der Choreograf Emanuel Gat, nicht aber an der Verschmelzung von Klang | |
und Bild. Seine Compagnie arbeitet in Montpellier, für sein Stück | |
"Brilliant Corners" erhielt der für seine Experimentierlust und | |
Intellektualität angesehene Choreograf Mittel aus mindestens vier | |
europäischen Ländern. Für "Brilliant Corners" hat er auch selbst die Musik | |
geschrieben, eine Collage teils aus präsenten Soundteppichen, teils aus | |
barock anmutenden Fragmenten oder Disco, die aus entfernten Räumen | |
herüberzuklingen scheinen. So imaginiert man einen Raum, irgendwo in einer | |
großen Stadt, deren Geräusche durch weit offene Fenster hereindringen. | |
"Brilliant Corners" verlangt vom Zuschauer große Konzentration, es gibt | |
keinen Fokus in der Bewegung, nichts Wiedererkennbares, an das das Auge | |
sich halten kann, um hineingeführt zu werden in komplexe Entwicklungen. | |
"Tolle Tänzer!", sagte man sich hinterher als Erstes und wusste dann nicht | |
weiter, die Sprache kapituliert vor dieser Vielfalt. Einem Schwarm glich | |
die Gruppe der 10 TänzerInnen oft, ohne erkennbare Führung, aber stets von | |
mehr als einem Impuls geleitet. Bewegung setzte immer wieder neu an und kam | |
wieder zum Stillstand - als ob die entstandene Konstellation jetzt erst | |
irgendwo durchgerechnet würde, bevor die nächsten Impulse ausgeteilt | |
werden. Das nicht Einzuordnende ist trotzdem organisiert, mit | |
voreingestellten Regeln und aus der Situation entwickelt. Eine | |
anspruchsvolle Struktur, im Hinblick auf soziale Prozesse oder solche des | |
Lernens sicher auch von Modellcharakter. Darauf hebt der Choreograf aber | |
nicht ab; ihm reicht es, die Instrumente der eigenen Formschöpfung damit | |
ausdifferenziert zu haben. | |
Selbstverständlich lassen sich nicht alle Produktionen des Festivals unter | |
dieses Strukturthemen subsumieren; auch gab es Stücke, die Strukturanalyse | |
zwar behaupteten, wie von dem gehypten japanischen Choreografen Hiroaki | |
Umeda, ihrem Material dann aber eher dilettantisch gegenüberstanden. In der | |
Summe aber waren die Enttäuschungen selten und die Entdeckungen überwogen | |
entschieden. | |
22 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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