# taz.de -- Landtagswahl in Berlin-Kreuzberg: Wahlkampf mit Wurzeln | |
> Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik treten in einem Wahlkreis | |
> nur türkischstämmige Kandidaten gegeneinander an. Das ist aber ihre | |
> einzige Gemeinsamkeit. | |
Bild: Integration funktioniert am Kottbusser Tor nicht nur beim Fußball. | |
BERLIN taz | Zynep hat keine Chance. Ertan Taskiran steht neben dem Mädchen | |
im engen Aufzug, daneben eine Assistentin von ihm. Der stämmige | |
Industriemechaniker ist auf Wahlkampftour hier in Kreuzberg, und die kleine | |
Zynep muss nun als Objekt seiner Volksnähe herhalten. | |
Der CDU-Kandidat für die nahende Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus zwickt | |
Zynep mehr oder weniger zärtlich in die Wange. "Wie heißt du?", fragt er | |
das Mädchen, das auf den Boden des Aufzugs blickt. "Zynep", antwortet | |
Zynep. "Zeynep?", fragt Taskiran. "Zynep", wiederholt Zynep. Niemand sagt | |
noch etwas. Endlich öffnet sich die Lifttür, wortlos kneift Taskiran Zynep | |
zum Abschied noch mal in die Wange. | |
Schwer ist die Demokratie für das Wahlvolk - und für die, die von ihm | |
gewählt werden wollen. Ertan Taskiran, 1970 geboren im türkischen | |
Cihanbeyli, weiß das, aber er geht tapfer damit um. Der Mann mit der Glatze | |
und dem sorgfältig gebügelten Hemd macht Hausbesuche, und das ist hier in | |
einem Plattenbau mit stinkenden Müllschluckern eine so ehrenwerte wie harte | |
Übung. Man könnte sagen, dass er dabei die türkische Karte spielt, denn der | |
Politiker drückt bevorzugt die Klingelknöpfe mit türkischen Namen. | |
## Deutsch sind die Loser | |
Die Frage ist nur, ob diese Karte hier sticht. Denn der Wahlkreis 3 | |
(Kreuzberg Nordost) hat in diesem September 2011 einen besonderen, fast | |
historischen Rang: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik treten | |
hier nur türkischstämmige Kandidaten mit Wahlchancen gegeneinander an - | |
deutscher Herkunft sind nur die aussichtslosen Kandidaten, die Loser, wenn | |
man will. Eine Frau und drei Männer mit türkischen Geburtsorten haben die | |
CDU, die SPD, die Grünen und die Linke zwischen dem Checkpoint Charlie im | |
Westen und der Oberbaumbrücke über die Spree im Osten aufgestellt. Über ein | |
Viertel der Wahlberechtigten hier stammt aus einer Einwandererfamilie. "Wir | |
machen Geschichte", sagt Figen Izgin zweimal. Sie lacht dabei. | |
Figen Izgin, geboren 1965 in Kars, ist die Kandidatin der Linken. Die | |
Sozialpädagogin mit dem prächtigen Lockenschopf und der tiefen rauen Stimme | |
ist hier im Café Alibi an der Oranienstraße bekannt wie ein bunter Hund. | |
Oft unterbricht sie das Interview, um Bekannte auf der Straße zu grüßen, | |
auf Türkisch meist. Der Tisch, an dem sie ihren Kaffee trinkt, steht auf | |
dem Bürgersteig, schon dies kann in dieser Gegend als ein Zeichen | |
fortschreitender Gentrifizierung gewertet werden. | |
Trotz "hohen Ausländeranteils im Kiez", wie man in Berlin so hässlich sagt. | |
Trotz der jährlichen 1.-Mai-Krawalle, die die Oranienstraße stets | |
heimsuchen. Trotz der Tatsache, dass in diesen Straßenzügen drei von vier | |
Kindern aus Hartz-IV-Familien stammen. Dennoch: Beginnt hier die Zukunft? | |
"Schon lustig" sei das gewesen, erinnert sich Figen Izgin, als sie erstmals | |
die Plakate der drei konkurrierenden Männer türkischer Herkunft gesehen | |
habe. Aber daran gewöhne man sich schnell. Über ihre Mitbewerber lässt sie | |
nur kleine Spitzen fallen, etwa: "Ich bin von vielen gefragt worden, wer | |
die anderen sind." Denn eigentlich "kennt man sich hier in Kreuzberg". | |
## Hoffen auf Popularität | |
Figen Izgin muss auf ihre Popularität hoffen. Bei der letzten Wahl 2006 | |
holte die Linke hier lediglich knapp 8 Prozent der Erst- und Zweitstimmen, | |
nur die FDP lag dahinter. Direkt gewählt wurde damals das grüne Faktotum | |
Özcan Mutlu, der bald so bekannt ist wie das Grünen-Urgestein Christian | |
Ströbele - nur nicht so populär. | |
Am Vortag noch war die Linke-Politikerin an ihrem Stand am Kottbusser Tor | |
recht guter Dinge. Am "Kotti" pulsiert das türkische Leben der Hauptstadt. | |
Die Sonne schien, die Junkies hielten sich zurück, und gegen ihre | |
Flugblätter "Waffenexporte stoppen!" konnte an diesem Antikriegstag | |
ernsthaft niemand sein. | |
Einen Tag später aber ist Figen Izgin in eine süßsaure Stimmung gerutscht. | |
Die Berliner Zeitung, die sie auf dem Tisch liegen hat, hat getitelt: | |
"Rot-Rot erhöht die Mieten". Bei landeseigenen Wohnungsunternehmen gibt es | |
Mieterhöhungen, und das mitten im Wahlkampf. Der Schlag sitzt. Denn hohe | |
Mieten und die Verdrängung ärmerer Menschen aus der Innenstadt sind zwei | |
der wenigen Themen, die, abgesehen von brennenden Autos, wirklich zünden. | |
Mieterhöhungen unter Rot-Rot! Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung | |
liege eben in der Hand der SPD, sagt Figen Izgin hilflos. | |
Mieterhöhungen, nicht Migrationshintergrund, so läuft das auch am Stand von | |
Turgut Altug. Der promovierte Agrarwissenschaftler verteilt seine Flyer vor | |
der Markthalle im östlichen Teil des Wahlkreises. Mit einer Wählerin | |
diskutiert Altug über die steigenden Mieten, richtige Abhilfe kann oder | |
will er ehrlicherweise nicht versprechen. "Mich trifft das persönlich, dass | |
ich den Menschen nicht sofort helfen kann. Ich werde mich im Berliner | |
Abgeordnetenhaus für eine soziale Mietenpolitik einsetzen", sagt er nach | |
der eher frustrierenden Begegnung mit dem Wahlvolk. | |
## 300 Jahre Bürgerkrieg | |
Härter noch sind zwei Erlebnisse, die Altug in nur einer Stunde an diesem | |
Stand machen muss. Eine Frau von etwa Mitte vierzig läuft an einer Helferin | |
Altugs vorbei und raunzt sie an, ob sie die Flugblätter nicht auf Deutsch | |
habe. "Hier werden 300 Jahre Bürgerkrieg vorbereitet", sagt die Frau | |
später, als sie noch einmal am Stand vorbeihastet. Sie hält Corn Flakes der | |
Marke "White Flakes" und eine Packung Schweinefleisch-Gyros im Arm. Ein | |
junger Mann mit Baseballmütze schlendert vorbei und sagt bloß, den Daumen | |
der rechten Hand hochhebend: "NPD ist gut." | |
Altug zeigt sich schockiert: "Das ist die zweite Person, die ich in diesem | |
Wahlkampf erlebe, die offen für die NPD eintritt, für diese | |
menschenverachtende Partei." Der Grüne hat die bundesweit erste | |
Umweltorganisation für Migranten gegründet und wurde 2009 für den | |
Panterpreis nominiert, den die taz für "HeldInnen des Alltags" auslobt. | |
Bei einem Tee in einem Straßencafé beruhigt sich Altug. "Vier KandidatInnen | |
türkischer Herkunft, das ist ein Zeichen dafür, dass sich die MigrantInnen | |
einbringen und ein Teil der Gesellschaft sind. Das finde ich gut." Zugleich | |
betont er: "Die vier KandidatInnen haben natürlich ganz unterschiedliche | |
Ansichten, deshalb sind sie in unterschiedlichen Parteien." Und: "Was habe | |
ich mit einem türkischstämmigen Christdemokraten gemeinsam?" | |
Beim Zusammenklappen des Sonnenschirms huscht ein Junge auf einem | |
Tretroller vorbei. "Tschau, Doktor", grüßt er Altug schnell. "Wie heißt | |
du?", ruft der ihm hinterher. "Deniz". - "Hoffentlich schaffst du das auch | |
so weit", sagt Altug offenbar in Anspielung auf seinen Doktortitel. | |
Die türkischstämmigen Kandidaten sind, das ist nicht zu verkennen, durchaus | |
stolz darauf, es in Deutschland zu etwas gebracht zu haben. Ihre | |
Integration ist vorbildlich. Figen Izgin erwähnt, dass sie im zweiten | |
Bildungsweg Abitur gemacht, später studiert und, alleinerziehend, zwei | |
Kinder zum Abitur geführt hat; ihr Sohn studiert. Dieser Stolz wird auch | |
beim Empfang des Arbeitskreises Migration der SPD in der Berlinischen | |
Galerie deutlich. Alle haben sich schick gemacht. Der Regierende | |
Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) redet auf der Bühne, hinter ihm steht in | |
vielleicht zehn Sprachen seine zentrale Wahlsentenz "Berlin verstehen". | |
## Sarrazins Name wird verschwiegen | |
Der Landesvater ist so populär, dass seine Großplakate noch nicht einmal | |
seinen Namen nennen. An diesem Tag hat ihn seine Generalsekretärin Andrea | |
Nahles als Kanzlerkandidaten ins Spiel gebracht. Aber die SPD hat hier in | |
Migrantenkreisen ein Problem, das Thilo Sarrazin heißt. Der | |
Nach-wie-vor-Genosse ist so etwas wie der Lord Voldemort der SPD: Sein | |
muslimfeindliches Buch, erschienen genau vor einem Jahr, wird zwar oft | |
erwähnt - aber Sarrazins Namen nennt man besser nicht. Wowereit etwa | |
spricht von "einem gewissen Buch eines gewissen Herrn". | |
Muharrem Aras, geboren 1972 im türkischen Kars, ist der SPD-Kandidat für | |
den Wahlkreis 3. Neben anderen Migranten, die die Partei für den Wahlkampf | |
aufgestellt hat, wird auch er auf der Bühne vorgestellt. Es sind | |
Geschichten mühsam erkämpfter, gelungener Integration. Aras ist ein | |
freundlicher, zurückhaltender Mann, der hier im Schatten des strahlenden | |
Wowereit steht. Er fotografiert "Wowi" sogar wie einen Star und bedankt | |
sich mit angehobenen Daumen. | |
Während andere Genossen zumindest mit guten Sprüchen punkten ("Ich liebe | |
meine Frau und die deutsche Sprache, aber ich beherrsche sie nicht"), will | |
Aras lieber über Sachthemen reden, über Mieten, Arbeit und Bildung. Aber | |
natürlich weiß er um die besondere Situation, die ihm schon bundesweite | |
Medienpräsenz bescherte: "In Kreuzberg wird wieder Geschichte geschrieben", | |
sagt auch er. | |
## Für ein drogenfreies Kreuzberg | |
Wie unspektakulär der Mantel der Geschichte wehen kann, ist bei den | |
Hausbesuchen Taskirans zu beobachten. Hier kickt ein Mann einen kläffenden | |
Hund mit einem Bein weg, bevor er die Tür weit öffnet, dort verhüllt sich | |
eine muslimische Mutter noch schnell mit einem Kopftuch. Der CDU-Kandidat | |
redet zwar meist auf Türkisch mit den Leuten - seine Hauptbotschaft aber | |
könnte in leichter Variation auch von einem CSU-Kandidaten im | |
Oberbayerischen stammen: "Ich stehe für ein sauberes, sicheres und | |
drogenfreies Kreuzberg." | |
Vor dem Hochhaus tollen Kinder auf dem Spielplatz, fünf Mütter mit Kopftuch | |
sitzen daneben, Taskiran plaudert mit ihnen auf Türkisch. Sie freuen sich, | |
dass sich jemand ihre Sorgen anhört. Eine deutschtürkische Mutter ohne | |
Kopftuch ist, auf der Flucht vor Junkies, mit ihren drei Kindern vom Kotti | |
hierhergezogen: "Was, wenn die Spritzen anfassen und krank werden?" Weder | |
sie noch ihr Mann haben Arbeit. "Früher war es besser", sagt die | |
26-Jährige, "ich will, dass die Kinder eine gute Zukunft haben." Sie hat | |
noch nie gewählt, jetzt will sie es tun. Sie ist Deutsche. Bei ihr hat | |
Taskiran gute Chancen. | |
9 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Philipp Gessler | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Wahlen in Berlin | |
Schwerpunkt Wahlen in Berlin | |
Schwerpunkt Wahlen in Berlin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Wahl in Berlin: Renate Künast gibt auf | |
Die Grüne Spitzenkandidatin erteilt einer schwarz-grünen Koalition eine | |
Absage. Die Option, als Regierende ins Rote Rathaus einzuziehen, ist damit | |
passé. | |
Merkel fordert mehr Multikulti: Kanzlerin übt Integration | |
Ein Jahr nach dem Start der Sarrazin-Debatte geht die Kanzlerin deutlich | |
auf Distanz zu dessen Thesen. Für sie ist Multikulti nun plötzlich doch | |
nicht mehr gescheitert. | |
Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses: Piratenpartei auf dem Weg ins Parlament | |
Noch eine Woche - dann könnte die Piratenpartei ins Berliner | |
Abgeordnetenhaus einziehen. Vom Vollprogramm ist sie weit entfernt - es | |
geht eher um Netzpolitik. | |
TV-Duell Künast gegen Wowereit: "Die Zeit ist vertan" | |
Beim Fernsehduell hätten die Berliner Spitzenkandidaten Künast und Wowereit | |
fast für Klarheit in der Koalitionfrage gesorgt. Doch das wollten die | |
Moderatoren doch nicht zulassen. | |
Muslimisch Demokratische Union: "Mal links, mal rechts, mal Mitte" | |
Nicht in Berlin, sondern in Osnabrück hat sich Deutschlands erste | |
muslimische Partei gegründet. Am Sonntag tritt die Muslimisch Demokratische | |
Union (MDU) dort bei den Wahlen an. Eine Begegnung mit Kreisverbandschef | |
Erhat Toka. |