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# taz.de -- Kolumne Press-Schlag: Nie wieder Marktl am Inn
> Erschöpfungssyndrom? Schwul? Was ein Tabu ist, bestimmen Journalisten,
> glauben wir. Die Fankurven sind längst weiter als wir Medienheinis.
Bild: Schicker Bart: M. Lievremont, Coach der französischen Rugbymannschaft.
Sie vermissen ihn. "Ralf, komm gesund zurück." Diese und ähnliche Wünsche
standen am Samstag auf Transparenten und Zetteln, die viele hundert Fans in
der Schalker Nordkurve gehisst haben. Sie haben damit Ralf Rangnick die
besten Wünsche übermittelt. Rangnick, der am Donnerstag sein Amt als
Schalke-Coach wegen eines Erschöpfungssyndroms niedergelegt hatte. Und der
dafür verdächtig viel Lob von all denen geerntet hat, die noch jeden
Querpass in der 78. Minute zur Schicksalstat verklärten.
Rangnick, heißt es unisono, habe mit seinem Schritt enormen Mut bewiesen.
Und das stimmt ja auch, wenn man sich anschaut, welches Medienecho er damit
hervorgerufen hat. Und es auf den ersten Blick ja tatsächlich auch mutig,
eine Schwäche in einem Land publik zu machen, das allabendlich den
Superstar oder das Topmodel sucht. Nur, dass die Menschen in der Fankurve
im Gegensatz zu manchem Medienheini noch wissen, dass das eine die
allabendliche Fiktion und das andere die Realität ist.
Wenn ein Spieler, Trainer oder Funktionär von der unter Volldampf stehenden
Maschine Bundesliga herabspringt und wenig später Worte wie "Vegetatives
Erschöpfungssyndrom", "Depression" oder "Homosexualität" herumwabern,
dauert es nicht lange, bis die Interpretationsschablone frei Haus geliefert
wird: Dem Ausgebrannten, dem Niedergeschlagenen oder dem Schwulen gebührt
höchster Respekt, weil er damit an ein "Tabuthema" gerührt habe.
Was ein Tabu ist, bestimmen aber wir Journalisten. Über das, was angeblich
tabuisiert ist, plaudern wir jeden Tag ein paar Stunden. Die Deutungshoheit
liegt oft bei Menschen, die sich selbst für ungeheuer aufgeklärt halten,
dann doch über das "Weichei" lästern, das nicht jeden Tag den Ellenbogen
ausfährt. Doch die Gesellschaft scheint da längst weiter zu sein als ihre
Interpreten.
## "Das ist überhaupt kein Tabuthema"
Denn es mag in den Profi-Ligen noch Vereine geben, deren Einzugsgebiet so
ländlich geprägt ist, dass sich Schwule im Büro nach wie vor nicht zu
erkennen geben und psychisch Kranke sich lieber in der nächstgelegenen
größeren Stadt behandeln lassen. Benedikt, formerly known as Ratzinger,
stammt aus einer solchen und hätte noch heute nichts dagegen, wenn München,
Magdeburg und Mönchengladbach so funktionieren würden wie Marktl am Inn zu
Zeiten seiner Adoleszenz.
Doch selbst Marktl am Inn funktioniert nicht mehr so wie damals 1943. So
gut wie jede Lehrerin, jeder Altenpfleger und jeder Automechaniker, der
auch nur auf ein paar Jahre Berufserfahrung zurückblickt, hat 2011 bereits
mit homosexuellen Kollegen zusammengearbeitet. Und er/sie hat mitbekommen,
dass viele Krankmeldungen nicht aufgrund von Beinbrüchen oder Fieberschüben
ausgestellt werden.
Uli Hoeneß hat also vollkommen Recht, wenn er auf einer Podiumsdiskussion
sagt, was passieren würde, wenn sich der erste homosexuelle Profi outet:
nichts. "Das ist überhaupt kein Tabuthema", sagt Hoeneß, "soll doch jeder
machen, was er will." Recht hat er. Doch im Gegensatz zu manchem
Wissenschaftler oder Publizisten, der sich zum Thema auslässt, war Uli
Hoeneß eben auch schon mal in einem real existierenden Fußballstadion.
In den Fankurven stehen keine Zombies, die am Samstag aus ihren Gräbern
kriechen, um sich nach dem Spieltag wieder im Moder zu verbuddeln. In den
Fankurven stehen genau diese Altenpfleger, Lehrer und Automechaniker.
Leute, die schon mal "Arschloch, Wichser, Hurensohn" bei Abschlag des
gegnerischen Torwarts brüllen. Aber auch Leute, die ein feines Gespür dafür
haben, wann es ernst wird.
Sebastian Deisler, der Depressive, hat aus vielerlei Gründen gemerkt, dass
er in der Bundesliga fehl am Platze ist - die Fans waren dabei kein Grund.
Sie haben ihn ermuntert weiterzumachen. Der homosexuelle Rugbyspieler
Thomas Gareth schob sein Outing jahrelang vor sich her. Nun ist er
erleichtert: Weder Fans noch Mitspieler haben so reagiert, wie er das
befürchtet hatte. Genauso wenig würde ein schwuler Profi in der Bundesliga
angefeindet. Nur dass der entsprechende Spieler nicht mehr spielen würde,
weil er pro Tag 48 Exklusivinterview-Anfragen erfüllen müsste.
25 Sep 2011
## AUTOREN
Christoph Ruf
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