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# taz.de -- Manifest für ein humanes Europa: Kein Massengrab im Mittelmeer
> Die taz hat ein Manifest für ein Europa der Humanität und Solidarität
> veröffentlicht. Darin werden sechs Einsprüche gegen das aktuelle
> Grenzregime erhoben.
Bild: Flüchtlinge auf der italienischen Insel Lampedusa.
I. Mittelmeer wird zum Massengrab
Immer mehr namenlose Flüchtlinge ertrinken im Mittelmeer. Die EU
verschließt den Schutzsuchenden aus Nordafrika den Zugang, überlässt sie in
Wüstenlagern entlang der tunesisch-libyschen Grenze sich selbst.
Allein bis Juli sind in diesem Jahr 1.674 Flüchtlinge im Kanal von Sizilien
ertrunken. Das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer verschärft sich - und Europa
schaut zu. Menschen, die Schiffbrüchigen helfen, werden angeklagt. Selbst
eine spanische Nato-Fregatte, die vor Libyen Bootsflüchtlinge vor dem
Ertrinken rettete, durfte keinen europäischen Hafen anlaufen und musste die
unerwünschten Passagiere nach Tunesien bringen.
Die europäische Grenzschutzagentur Frontex steht für den Ausbau eines
tödlichen Grenzregimes, das unsere "Welt der Freiheit und Demokratie" vor
dem Begehren der Armen weltweit "schützen" will. Dieses Grenzregime ist
eine der größten direkten Menschenrechtsverletzungen, die im Namen der EU
begangen wird. Der tägliche Tod an den europäischen Außengrenzen ist eine
Folge davon. Sechzig Jahre nach dem Ja zur Genfer Flüchtlingskonvention ist
es höchste Zeit, die Solidarität mit den Schutzsuchenden zu erbringen, zu
der sie uns verpflichtet. Das Sterben an den Außengrenzen muss aufhören.
Wir wollen ein anderes Europa. Ein Europa, das wirklich für die Ideen der
Humanität und Freiheit aller Menschen steht.
II. Die Komplizenschaft muss enden
Staatschefs, die gestern noch Partner der EU waren, werden heute der
Kriegsverbrechen und Folter angeklagt. Als "Gendarmen Europas" und
"Garanten der Stabilität" wurden sie hofiert, ungeachtet ihrer längst
offensichtlichen Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung. Die neuen
entstehenden Strukturen sollen diese Komplizenschaft fortsetzen: Vor der
diplomatischen Anerkennung des libyschen Übergangsrats in Bengasi durch die
EU-Staaten stellten italienische Unterhändler sicher, dass die Rebellen das
schon unter Gaddafi bewährte Abkommen zur Abwehr von Flüchtlingen erneuern.
Schon 1999 beschloss die EU, sich eine gemeinsame Asyl- und
Zuwanderungspolitik zu geben. Vereinheitlicht hat sie dabei vor allem ihre
Bemühungen, sich abzuschotten. Länder weit jenseits ihrer Grenzen werden
dabei zu Erfüllungsgehilfen gemacht; Entwicklungshilfe wird an die
Bereitschaft gekoppelt, Flüchtlinge und (Transit-)MigrantInnen zu stoppen.
Die EU nimmt mit den sogenannten Drittstaatenabkommen zur gemeinsamen
Flüchtlingsabwehr Einfluss auf die dortige Innenpolitik. Durch den Aufbau
einer Überwachungslogistik und den Verkauf modernster Sicherheitstechnik
werden die Repressionsorgane dieser Staaten gestärkt.
In Libyen und Tunesien zeigt sich, wie diese Hochtechnologie zur
Flüchtlingsabwehr in Krisen gegen demokratische Bewegungen eingesetzt wird.
Aber auch Grundrechte wie Ausreise- und Bewegungsfreiheit werden durch
erzwungene neue Gesetze in den "Partnerländern" eingeschränkt und Verstöße
hart bestraft. Beharrlich hält die EU an solch einer Komplizenschaft fest.
Das muss aufhören.
III. "Massenflucht" wird überhöht
Nur ein Bruchteil der Flüchtlinge der Welt kommt nach Europa; die Mehrheit
bleibt in den Ländern des Südens. Daher ist die Situation auf Lampedusa, im
griechischen Grenzgebiet oder in Malta ein künstlich geschaffener Notstand.
Populistische Politiker und Teile der Medien überhöhen die zur "Bedrohung"
von Sicherheit und Wohlstand dramatisierte "Massenflucht" von Flüchtlingen
und MigrantInnen weiter und schüren vorhandene Rassismen. So werden
Ausgrenzung und Aufrüstung legitimiert.
Doch Flucht und Migration lässt sich nicht stoppen. Nicht sie sind ein
Verbrechen, sondern wirtschaftliche und politische Verhältnisse, die die
Menschen zwingen, sich durch Flucht über das Meer vor Not und Gewalt zu
retten, und das Fehlen von legalen Einreiseperspektiven. Die EU muss ihre
Grenzen abrüsten und den legalen und gefahrenfreien Zugang für Flüchtlinge
ermöglichen.
IV. Die Dublin-Regelung aufheben
Die "Dublin-II-Verordnung" regelt die Verantwortung für die Asylverfahren
unter den Mitgliedsstaaten. Dieses EU-Gesetz hat die Verantwortung für die
Aufnahme von Asylsuchenden extrem ungleich verteilt - zum Nutzen der
Staaten ohne EU-Außengrenze, allen voran Deutschland.
Diese Ungleichbehandlung trifft vor allem die Flüchtlinge. Ihnen wird das
Recht genommen, sich als Schutzsuchende ihren Aufenthaltsort selbst zu
wählen. Während sich die Kernländer der EU auf bequeme Art ihrer
Verantwortung für eine humane Flüchtlingspolitik entziehen, wehren die
EU-Mitglieder an den Außengrenzen vermehrt Flüchtlinge brutal ab. Die
unfaire und unsolidarische Dublin-Regelung muss aufgehoben werden.
V. Kampf für ein besseres Leben
Flüchtlinge und MigrantInnen suchen nicht nur Schutz. Sie kämpfen auch für
ein besseres Leben, für gleiche Rechte, für Autonomie und Teilhabe am
gesellschaftlichen Reichtum. Die Bewegungen der Flucht und Migration
innerhalb des afrikanischen Kontinents und entlang der südlichen
Grenzregionen der EU sind der Preis einer Globalisierung, die an den
Ressourcen und Märkten des afrikanischen Kontinents, nicht an seinen
Menschen interessiert ist. Dabei muss gerechte Entwicklung den Menschen des
Südens das Recht auf Ausreise garantieren und gleichzeitig die sozialen,
ökonomischen und politischen Bedingungen schaffen, damit sie in den
Herkunftsländern bleiben können. Entwicklungszusammenarbeit darf nicht zum
Hilfsdienst für ausgelagerten Grenzschutz werden.
VI. Recht auf Mobilität
Europa beansprucht, ein "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts"
zu sein und beruft sich auf seinen Humanismus, die Aufklärung, auf seine
Revolutionen. Gleichzeitig diffamieren EU-Regierungschefs Flüchtlinge als
"menschlichen Tsunami".
Mit Enthusiasmus verfolgen wir die zivilgesellschaftlichen Aufstände in
Nordafrika und im Nahen Osten. Die EU aber weigert sich, mit den dort
errungenen Freiheitsrechten auch die Freiheit der Mobilität anzuerkennen.
Doch eine der Demokratie verpflichtete Welt, muss sich daran messen lassen,
wie sie mit Migration umgeht.
Die Aufhebung restriktiver Visabestimmungen, Unterstützung Schutzsuchender
und eine reale Perspektive für sie, innerhalb der EU eine neue Heimat zu
finden, würde elementare Menschenrechte verwirklichen. Statt diese
Freiheiten populistisch wieder infrage zu stellen, ist es höchste Zeit,
dass sie für die EU auch außerhalb ihrer Grenzen Gültigkeit haben.
7 Oct 2011
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