# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Sprechen über die Besatzung | |
> Die israelische NGO Shovrim Shtika hat ein Buch herausgegeben, in dem | |
> Soldaten zum ersten Mal über ihre Einsätze in den Palästinensergebieten | |
> berichten. | |
Bild: „Wenn du mich heute fragst: Warum hast du geschossen? Aus bloßem Druck… | |
Ich kann dir sagen, wann ich ausgerastet bin. Wir waren in Gaza im Einsatz. | |
… Wir hockten in einem Graben, und da waren Kinder, die immer näher kamen | |
und Steine warfen. In den Vorschriften heißt es, wenn einer so nah an dich | |
rankommt, dass er dich mit einem Stein treffen kann, dann kann er dich auch | |
mit einer Granate treffen … Also hab ich auf ihn geschossen. Er war | |
vielleicht zwölf oder fünfzehn Jahre alt. Ich glaube nicht, dass ich ihn | |
getötet habe. Jedenfalls rede ich mir das selbst ein, für meinen inneren | |
Frieden, damit ich nachts besser schlafen kann. Ausgerastet bin ich, als | |
ich aus lauter Verzweiflung mit meinen Freunden, mit meiner Familie darüber | |
gesprochen habe, dass ich verdammt noch mal [mit einer Waffe] auf jemanden | |
gezielt und ihm ins Bein geschossen hab, oder in den Arsch. Alle waren | |
froh, [sie meinten,] ich solle erleichtert sein, ich sei ein Held, sie | |
erzählten es in der Synagoge, während ich unter Schock stand.“(1) | |
In seinem Buch „Ist das ein Mensch?“ erinnert sich Primo Levi an einen | |
Traum, den er wiederholt in Auschwitz träumte (und den, wie er später | |
erfuhr, auch viele andere Häftlinge hatten).(2) In diesem Traum war Levi | |
wieder zu Hause und erzählte seiner Familie von seinen grauenhaften | |
Erlebnissen im Lager, aber keiner hörte ihm zu, ja seine Verwandten standen | |
sogar vom Tisch auf und entfernten sich. Dies war sein Albtraum: dass er | |
Zeugnis ablegte, seine Geschichte erzählte und keiner würde zuhören und ihn | |
verstehen. | |
Gaza ist nicht Auschwitz, und die israelischen Soldaten, deren Zeugnisse, | |
wie die eingangs zitierte Passage, in „Occupation of the Territories“ | |
(Besatzung der Gebiete) veröffentlicht wurden, sind keine Überlebenden der | |
Schoah. Dennoch haben sie etwas mit Levi gemein: Sie verspüren den Drang, | |
ja beinahe Zwang, ihre Geschichte zu erzählen, und sie haben das Gefühl, | |
dass in ihrer Umgebung niemand zuhören will. Als würden ihre beunruhigenden | |
Geschichten die Zuhörer bedrohen, die lieber darüber hinweggehen oder, wie | |
im hier zitierten Fall, das Erzählte uminterpretieren und in vorgestanzte | |
Phrasen übersetzen, die ihren festen Vorstellungen darüber entsprechen, was | |
sich da drüben im Westjordanland oder in Gaza wirklich abspielt. | |
„Was sollen die Eltern dieses Soldaten ihm deiner Ansicht nach sagen? ’Mach | |
dir nichts draus, dass du ein Kind erschossen hast?‘ Sie entziehen sich | |
lieber seinem Dilemma“, erklärt der Exsoldat Avihai Stoler, einer der | |
Mitstreiter des Augenzeugenprojekts. | |
Die Männer und Frauen, die in „Occupation of the Territories“ über ihre | |
Erfahrungen berichten, waren in den letzten zehn Jahren, also seit Beginn | |
der zweiten Intifada, in verschiedenen Truppengattungen im Gazastreifen | |
oder im Westjordanland im Einsatz. Und manche sind es noch immer. Dieses | |
Buch ist mit Abstand die umfassendste Innenansicht des israelischen Modus | |
operandi in den palästinensischen Gebieten: Dabei geht es weder um die | |
große Politik noch um Enthüllungen geheimer Machenschaften, sondern | |
schlicht um den Alltag der israelischen Militärherrschaft über die Häuser | |
und Felder, die Gassen und Straßen, den Besitz und die Zeit, das Leben und | |
den Tod eines jeden im Westjordanland oder in Gaza lebenden Palästinensers. | |
In den letzten zehn Jahren haben etwa 40 000 bis 60 000 Israelis in | |
Kampfeinheiten gedient.(3 )Etwa 750 davon wurden für das vorliegende Buch | |
interviewt. Wenn man davon ausgeht, dass jeder, der in einer Kampfeinheit | |
war, einen Teil seines Militärdienstes in den besetzten Gebieten absolviert | |
hat (was auf die Luftwaffe und Marine nicht zutreffen dürfte), dann sind in | |
diesem Buch die Zeugnisse von ein bis zwei Prozent der in den | |
Palästinensergebieten eingesetzten Soldaten versammelt – eine beachtliche | |
Anzahl und wesentlich mehr, als in jeder wissenschaftlichen Erhebung oder | |
Meinungsumfrage zugrunde gelegt wird. | |
Man kann nach der Lektüre zu anderen Schlüssen gelangen als die Herausgeber | |
des Buchs; man kann der Auffassung sein, dass die umfassende Kontrolle der | |
Palästinenser aufgrund der israelischen Sicherheitsinteressen | |
gerechtfertigt sei, aber man kann nicht mehr sagen, man wisse von nichts. | |
Die Organisation Shovrim Shtika („Das Schweigen brechen“), die die | |
Zeugnisse gesammelt und in einem schwarz eingebundenen Buch veröffentlicht | |
hat, wurde 2004 von einigen Soldaten gegründet, die in Hebron stationiert | |
waren. Sie wollten der Welt und der israelischen Gesellschaft die Besatzung | |
aus der Perspektive der Soldaten zeigen. In den ersten Jahren waren sie, | |
wie sie heute selbst zugeben, vor allem darauf aus, „Horrorstorys“ zu | |
sammeln. Schockierende Fotos von Soldaten, die getöteten Palästinensern die | |
Köpfe abschlugen, um sie auf Gewehrläufen aufzuspießen, kamen als Erstes in | |
die Presse. Aber je mehr Berichte die Interviewer (selbst allesamt | |
ehemalige Soldaten) sammelten, desto klarer wurde ihnen, dass sie bei der | |
Fokussierung auf extrem grausame Fälle etwas versäumten. „Wir interessieren | |
uns nicht für den Soldaten, der am Checkpoint einen alten Mann | |
misshandelt“, erklärte Gründungsmitglied Michael Menkin bei der | |
Buchvorstellung in Tel Aviv. „Wir interessieren uns für den Soldaten, der | |
daneben steht“, für den „ganz normalen“ Soldaten. | |
Nicht dass Misshandlungen, willkürliche Gewalt und beiläufige Tötungen, die | |
an Kriegsverbrechen grenzen, in dem Buch nicht zur Sprache kämen: Ein | |
geistig behinderter Palästinenser wird so heftig verprügelt, dass er am | |
ganzen Leib blutet; palästinensische Passanten werden gezwungen, auf ein | |
Minarett zu steigen, um vermeintliche Bomben zur Detonation zu bringen; ein | |
unbewaffneter Palästinenser wird erschossen, nur weil er zufällig auf einem | |
Hausdach steht. | |
## Die Geschichte einer Generation | |
„Wenn du mich heute fragst: Warum hast du geschossen? Aus bloßem Druck, ich | |
hab dem Druck der anderen Jungs nachgegeben“, heißt es dann. Ein Soldat | |
berichtet über die vorsätzliche Tötung beziehungsweise Hinrichtung eines | |
unbewaffneten palästinensischen Polizisten aus Rache für den Angriff auf | |
einen Checkpoint; zitiert wird die Anweisung eines hochrangigen Offiziers, | |
wie mit mutmaßlichen Terroristen zu verfahren sei, die verwundet oder tot | |
am Boden liegen: „Stößt du auf eine Leiche, steck dein Gewehr zwischen ihre | |
Zähne und drück ab“; und es gibt Schilderungen von Diebstählen, | |
Plünderungen und mutwilligen Zerstörungen von allen möglichen Dingen – | |
Kleidern, Möbeln oder Autos. | |
Die vorliegende Sammlung von Augenzeugenberichten enthält all diese | |
Geschichten, aber sie enthält noch viel mehr. „Dieses Buch ist keine | |
Horrorshow der Tsahal [Streitkräfte]“, sagt Stoler, „es ist die Geschichte | |
einer Generation, unserer Generation.“ | |
Der Titel „Occupation of the Territories“ wurde nicht zufällig gewählt. | |
Während sich in den ersten 30 Jahren nach dem Sechstagekrieg 1967 ein | |
Großteil der innenpolitischen Diskussion um die Notwendigkeit | |
beziehungsweise das Übel der Besatzung drehte, ist das Wort „Besatzung“ in | |
den letzten Jahren fast vollständig aus der Debatte in Israel verschwunden. | |
Wenn sich ein Israeli auf die besetzten Palästinensergebiete bezieht, | |
spricht er oder sie von Judäa und Samaria, vom Westjordanland oder von „den | |
Territorien“, aber niemals, wie noch vor 15 Jahren üblich, von den | |
„besetzten Gebieten“. Es ist wie ein Tabu oder ein Unheil bringendes Wort, | |
das in der Öffentlichkeit keiner in den Mund nimmt. | |
Als ich einmal die Aufnahme einer Talkshow leitete und ein Gast sagte, dass | |
die Gewalt in der israelischen Gesellschaft „wegen der Besatzung“ immer | |
weiter zunehme, bedrängten mich meine Kollegen im Kontrollraum – geradezu | |
von Panik ergriffen –, ich solle dem Moderator zu verstehen geben, dass der | |
Gast seine Äußerung umgehend zurücknehmen müsse. | |
Für diesen Wandel gibt es mehrere Gründe. Erstens fanden es viele Israelis | |
richtig, dass die Armee während der Zweiten Intifada nahezu eine | |
Blankovollmacht für die Terrorabwehr hatte. Es erwartete auch niemand eine | |
detaillierte Rechenschaft über ihr Tun. Zweitens wurde der unendliche und | |
völlig vergebliche „Friedensprozess“ immer mehr zu einer Art | |
Hintergrundmusik für die israelische Öffentlichkeit, was sich auf zweierlei | |
Weise bemerkbar machte: Allmählich setzte sich die Überzeugung durch, dass | |
es mit der Lösung des Konflikts keine Eile habe oder er eigentlich sogar | |
schon gelöst sei, weil doch „wir Israelis“ der Aufgabe der besetzten | |
Gebiete und einer Zweistaatenlösung längst zugestimmt haben. Die Geschichte | |
der „Territorien“ sei beendet, schrieb kürzlich der angesehene israelische | |
Kolumnist Nahum Barnea. | |
Abgesehen von den politischen Faktoren spielt ein militärischer Aspekt eine | |
zentrale Rolle: Seit der Zweiten Intifada und vor allem seit Beginn des | |
Mauerbaus im Westjordanland im Herbst 2002 hat die Kontrolle über die | |
Palästinenser an Methodik und Systematik gewonnen. Sie ist quasi | |
„wissenschaftlicher“ geworden. „Occupation of the Territories“ versucht | |
diesen einschneidenden Wandel publik zu machen und den damit einhergehenden | |
Militärjargon zu entlarven. Im Laufe der Jahre hat Shovrim Shtika so viel | |
Material gesammelt, dass die Gruppe dazu übergegangen ist, neue Begriffe | |
und Umschreibungen zu verwenden, um die Dinge beim Namen zu nennen: Statt | |
von „Terrorprävention“ im Westjordanland und in Gaza sollten wir über die | |
Angst sprechen, die unter den Palästinensern verbreitet wird, anstatt | |
„Separation“ zu sagen, sollten wir die Ausdrücke „Inbesitznahme und | |
Annexion“ verwenden, statt nebenher über „Fabric of Life“-Straßen zu re… | |
(das ist die militärische Bezeichnung für die Straßenverbindungen zwischen | |
den durch Sperranlagen getrennten Dörfern), sollten wir uns lieber vor | |
Augen führen, welche Mühsal es bedeutet, unter solchen Bedingungen den | |
Alltag zu organisieren; und statt „Kontrolle“ sollten wir auch hier in | |
Israel „Besatzung“ sagen. | |
## Schikane ist keine Unachtsamkeit | |
„Unsere Mission war es, zu zerstören – das war der Ausdruck, der verwendet | |
wurde –, das Leben der Bürger zu stören und sie zu schikanieren“, erzählt | |
ein Zeuge. „So war unsere Aufgabe definiert, weil auch Terroristen ganz | |
normale Bürger sind; wir wollten die terroristischen Aktivitäten | |
unterbinden, und das wurde operativ so umgesetzt, dass wir die Bürger in | |
ihrem Alltag schikanierten. Ich bin mir diesbezüglich ganz sicher, und ich | |
glaube, es steht bis heute so in den Dienstanweisungen, falls sie den | |
Befehl nicht geändert haben.“(4) | |
Dies ist vielleicht wirklich eine neue Erkenntnis, die das Buch von Shovrim | |
Shtika ans Licht bringt: Dass Drangsalierung und Schikane der | |
palästinensischen Bevölkerung nicht allein mit Unachtsamkeit und | |
Rücksichtslosigkeit zu tun haben (die natürlich auch vorkommen), sondern | |
dass sie ein zentraler Bestandteil des Modus operandi der israelischen | |
Besatzungsmacht im Westjordanland sind. | |
„Wenn in einem Dorf irgendwelche Aktivitäten vor sich gehen, sorgst du | |
dafür, dass niemand mehr zur Ruhe kommt und nachts schlafen kann“, erzählt | |
einer der Zeugen. Stoler, der fast drei Jahre in der Gegend von Hebron im | |
Einsatz war, hat mit Soldaten gesprochen, die mitten in einem Dorf eine | |
Bombe hochgehen ließen, „damit sie merken, dass wir hier sind“. „Lautsta… | |
Patrouille“, „Gewaltpatrouille“, „Präsenz demonstrieren“, | |
„niedrigschwellige Aktion“, „fröhliches Purim“ sind einige der Namen f… | |
solche Aktionen. Dabei fallen die Soldaten mit massivem Aufgebot in ein | |
Dorf oder eine Stadt ein, werfen Schockgranaten, errichten Straßensperren, | |
durchsuchen wahllos Häuser und richten sich dann für ein paar Stunden oder | |
auch Tage dort ein. „Um [unter den Palästinensern] Verfolgungsängste zu | |
schüren, damit sie sich niemals sicher fühlen“, zitiert Stoler den Befehl, | |
den er selbst erhalten hat. | |
Stoler und Avner Gvaryahu gehörten einer Eliteeinheit an, deren Erfolg – so | |
erklärte es ihnen ein hoher Offizier – an der Anzahl toter Terroristen | |
gemessen wurde. Beide sind sich bewusst, dass die Gesellschaft nicht hören | |
will, was sie zu sagen haben. Zur Buchvorstellung ist nicht ein einziger | |
israelischer Fernsehsender gekommen, nur ausländische Medien. Als sei die | |
Not und das Unbehagen so vieler israelischer Soldaten nur in Japan oder in | |
Australien von Interesse, aber nicht in Israel. Über die Geschichten von | |
Shovrim Shtika breitet sich ein großes Schweigen. | |
„Mein Vater gehört zur zweiten Generation der Überlebenden der Schoah“, | |
sagt Gvaryahu, „in seinen Augen sind wir die Verfolgten und Elenden.“ | |
Dennoch sind Stoler und Avner erstaunlich optimistisch. Beide glauben, dass | |
die israelische Gesellschaft eines Tages begreifen wird, was in ihrem Namen | |
geschieht, und sich dann ändern wird. Denn es ist die Gesellschaft selbst, | |
die sich ändern muss, nicht die Armee. | |
„Einmal wurde ich von einer kolumbianischen Journalistin interviewt“, | |
erinnert sich Stoler, „und die fragte mich: ’Woher die ganze Aufregung? In | |
Kolumbien schlagen die Soldaten jeden Tag Rebellenköpfe ab, und das kümmert | |
niemanden.‘ Ich glaube, dass die israelische Gesellschaft moralisch sein | |
möchte. Und das ist es, was uns antreibt. Wenn es diesen kollektiven Willen | |
zur Moralität nicht gäbe, hätte unser Projekt keinen Sinn.“ | |
„Die israelische Gesellschaft wurde gekidnappt von Leuten, deren Interessen | |
sich nicht mit unseren decken“, meint Gvaryahu. „Doch wir haben uns, wie | |
beim Stockholm-Syndrom, in unsere Entführer verliebt. Es ist leicht zu | |
sagen, die Siedler seien unsere Geiselnehmer, sie würden hinter der Maske | |
stecken. Aber daran glaube ich nicht. Das wahre Gesicht hinter der Maske | |
der Entführer ist unser eigenes.“ | |
Fußnoten: | |
(1) Shovrim Shtika (Hg.), „Occupation of the Territories. Israeli Soldier | |
Testimonies 2000–2010“, Breaking the Silence (NGO), Israel 2010, Kapitel 1, | |
Zeugnis 45. | |
(2) Primo Levi, „Ist das ein Mensch?“, Frankfurt am Main (Fischer) 1971. | |
(3) Israel macht offiziell keine Angaben über seine Streitkräfte. Laut | |
Schätzungen des International Institute for Strategic Studies waren 2004 | |
bei den regulären Streitkräften 85 000 Soldaten registriert; | |
[1][www.globalsecurity.org/military/world/israel/army.htm]. | |
(4) Shovrim Shtika, „Occupation of the Territories“, siehe Anmerkung 1, | |
Kapitel 3, Zeugnis 5. | |
Aus dem Englischen von Robin Cackett | |
[2][Le Monde diplomatique] vom 9.9.2011 | |
9 Oct 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://www.globalsecurity.org/military/world/israel/army.htm | |
[2] http://www.monde-diplomatique.de | |
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