# taz.de -- ESMA-Prozess in Argentinien: Lebenslänglich für den Todesengel | |
> Zwölf lebenslange Haftstrafen hat ein argentinisches Bundesgericht | |
> verhängt. Eine davon gegen Alfredo Astiz, den "blonden Todesengel" wegen | |
> Folter und Mordes. | |
Bild: Freude nach der Urteilsverkündung: Taty Almeida (r) von den Müttern der… | |
BUENOS AIRES taz | Argentiniens Justiz schreibt weiter Geschichte. Wegen | |
Menschenrechtsverbrechen während der letzten Militärdiktatur (1976-1983) | |
verhängte das 5. Bundesgericht in der Hauptstadt Buenos Aires zwölfmal eine | |
lebenslange Haftstrafe. | |
Unter den zu lebenslanger Haft Verurteilten ist der als "blonder | |
Todesengel" bekannte Kapitän Alfredo Astiz. Die Verbrechen nahmen ihren | |
Ausgang in der berüchtigten Marine-Mechanikerschule ESMA in Buenos Aires, | |
die in ein geheimes Folterlager verwandelt worden war. | |
Vor dem Gerichtsgebäude hatten rund 1.000 Menschen auf einer | |
Großbildleinwand die Verhandlung verfolgt. "Justicia, Justicia" – | |
Gerechtigkeit skandierten die Menschen. Auf einem Riesenbildschirm | |
verfolgten sie die Urteilsverkündung. Zwölfmal brandete Jubel und Beifall | |
auf. Zwölfmal sprach Richter Ricardo Farías das Wort "Perpetua" – | |
Lebenslänglich. | |
Bei vielen war die Erleichterung zu spüren, dass nach über 30 Jahren | |
Straflosigkeit diese Urteile von einem Gericht verhängt wurden. Taty | |
Almeida von den Müttern der Plaza de Mayo sprach von einem "weiteren | |
historischen Tag, von dem wir Mütter nie gedacht haben, ihn erleben zu | |
können". | |
## "Mörder, Mörder"-Rufe | |
Im Gericht herrschte konzentrierte Stille als Farías im trockenen Ton über | |
eine Stunde lang die Urteile verlas. Angeklagt waren 18 frühere Militärs. | |
Neben den zwölf zu lebenslanger Haft Verurteilten wurden sechs zu | |
Haftstrafen zwischen 25 und 18 Jahren verurteilt. Zwei wurden | |
freigesprochen, sie bleiben aber wegen anderer Anklagen weiter in Haft. | |
Einzig bei Astiz musste Richter Farías zur Ordnung rufen. Im Saal wurden | |
"Mörder, Mörder"-Rufe laut, über das Gesicht des Engels ging ein Lächeln. | |
Im Prozess ging es zum einem um die Ermordung, Folter und | |
Verschwindenlassen von 79 Menschen. Die Ermittlungen zu den Verbrechen | |
wurden bereits in den 1980er Jahren abgeschlossen. Die Verantwortlichen | |
mussten sich aber wegen der 1985 und 1986 in Kraft getreten Amnestiegesetze | |
nie vor einem Gericht verantworten. | |
Es ging um die Entführung und das Verschwindenlassen des Schriftstellers | |
Rodolfo Walsh. Der Journalist und Erzähler wurde verschleppt und am 25. | |
März 1977 ermordet. Kurz zuvor schrieb er einen "Offenen Brief eines | |
Schriftstellers an die Militärjunta", der als eine der frühesten und | |
prononciertesten Anklagen gegen die Militärherrschaft gilt. | |
Und es ging um die Ermordung der französischen Nonnen Alice Domon und | |
Leonie Duquet sowie eine der Gründerinnen der Mütter der Plaza de Mayo, | |
Azucena Villaflor de Vincenti. Die drei Frauen waren 1977 verschleppt und | |
ermordet worden. Ihre Leichen wurden von Hubschraubern aus ins Meer | |
geworfen. Der heute 59-jährige Astiz spielte dabei eine entscheidende | |
Rolle. | |
## Keine Auslieferung | |
Der Blonde mit den unschuldigen Augen hatte sich unter dem Namen Gustavo | |
Niño als Angehöriger eines verschwundenen Dissidenten ausgegeben. So | |
erschlich er sich den Zugang zu einer Gruppe von Müttern der Plaza de Mayo, | |
die sich in einem Stadtviertel am Rand von Buenos Aires in der Kirche Santa | |
Cruz trafen und nach ihren verschwundenen Männern und Kindern suchten. Im | |
Dezember 1977 griffen die Militärs zu. Zwölf Menschen wurden verschleppt. | |
1990 wurde Astiz wegen des Mordes an den zwei Nonnen von einem | |
französischen Gericht in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt. Das | |
gleiche Urteil fällte ein italienisches Gericht 2007 wegen der Ermordung | |
italienischer Staatsangehöriger. Eine Auslieferung hatte Argentinien in | |
beiden Fällen abgelehnt. | |
Astiz profitierte lange von den Amnestiegesetzen. Unter Präsident Néstor | |
Kirchner ist die juristische Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen | |
jedoch wieder in Gang gekommen. 2003 wurden die beiden Amnestiegesetze | |
aufgehoben. Im Juni 2005 bestätigte der Oberste Gerichtshof die Aufhebung | |
der Amnestiegesetze und machte damit den Weg für die juristische | |
Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen frei. Auch von Cristina Kirchner | |
wird die juristische Verfolgung der Menschenrechtsverbrechen ausdrücklich | |
unterstützt. | |
## 160 Zeugen gehört | |
In den 22 Monaten der Verhandlung wurden 160 Zeugen gehört, von denen 79 | |
die Gefangenschaft in der ESMA und anderen geheimen Lagern der Diktatur | |
überlebt haben. Während des Prozesses hatte der zu lebenslanger Haft | |
verurteilte Korvettenkapitän Jorge Acosta als erster Militär die Existenz | |
eines geheimen Folterlagers vor einem Gericht zugegeben und zudem | |
ausgesagt, dass seine Vorgesetzten über die Gefangenen in der ESMA Bescheid | |
wussten. | |
Das nun abgeschlossene Verfahren ist der erste Abschnitt eines | |
umfassenderen Prozesses. Bei dem sogenannten Megacausa ESMA müssen sich | |
rund 70 ehemalige Militärangehörige der ESMA wegen 800 | |
Menschenrechtsverletzungen vor Gericht verantworten. Die Mechanikerschule | |
war das größte geheime Haft- und Folterzentrum in der Hauptstadt Buenos | |
Aires. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass dort mehr als 5.000 | |
Menschen gefoltert wurden und verschwanden. | |
Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation CELS liefen im Frühjahr 2011 | |
363 Ermittlungs- oder Gerichtsverfahren, darunter auch gegen die früheren | |
Chefs der Militärjunta Jorge Rafael Videla und Reynaldo Bignone. 429 | |
Angeklagte befinden sich in Untersuchungshaft. 167 Angeklagte wurden | |
bereits zu teilweise hohen Haftstrafen verurteilt, fünfzehn wurden | |
freigesprochen. Ex-Juntachef Jorge Rafael Videla war im Dezember 2010 in | |
einem ersten Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt worden. | |
27 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Vogt | |
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verurteilt. |