# taz.de -- Philosoph Charles Taylor: Plädoyer für den neutralen Staat | |
> Der kanadische Philosoph Charles Taylor feiert am Samstag seinen 80. | |
> Geburtstag. Sein neues Buch "Laizität und Gewissensfreiheit" tritt für | |
> religiöse Offenheit ein. | |
Bild: Ein Christ, der sich für Laizität stark macht: Der Philosoph Charles Ta… | |
Pünktlich zum 80. Geburtstag des berühmten Philosophen Charles Taylor | |
erscheint sein neues Buch "Laizität und Gewissensfreiheit" auf Deutsch. Es | |
ist ein schmales Bändchen, das der Vielschreiber mit Hang zu | |
tausendseitigen Werken hier vorlegt. Noch dazu hat er dieses gemeinsam mit | |
Jocelyn Maclure, auch er kanadischer Philosoph, geschrieben. | |
Die beiden Autoren hatten im Rahmen einer Regierungskommission in Quebec | |
einen gemeinsamen Bericht zum Thema Laizität und Vielfalt verfasst. Und | |
obwohl das Buch über diesen Bericht hinausgeht, diesen fortschreibt und | |
vertieft, so ist es doch von dessen Duktus geprägt: klar, konzise, | |
zugänglich. Man könnte es als ein policy paper im besten Sinne verstehen - | |
ein Leitfaden, der Kriterien für das Urteilen liefert, ein Text, der | |
konkrete Handlungsoptionen begründet. | |
Ausgangspunkt des Buches ist der Befund, dass die Gesellschaften, die wir | |
heute in Europa, in Kanada, in den USA aber auch in Indien finden, radikal | |
neu sind. Ihre moralische und religiöse Vielfalt bedeutet weit mehr als das | |
Ende der Westfälischen Ordnung, das Ende ihrer Unikonfessionalität, es | |
bedeutet vielmehr, dass sie überhaupt kein Weltbild mehr haben, das von | |
allen geteilt wird - wie es noch Kommunismus oder Nationalismus hatten. | |
Die neue Einheit dieser Gesellschaften steht also im Zeichen ihres | |
unhintergehbaren Pluralismus. Taylor spricht - gemäß seinem erweiterten | |
Religionsbegriff, den er in seiner monumentalen Studie zur Säkularisierung | |
vorgelegt hat - gleichberechtigt von religiösen und säkular moralischen | |
Überzeugungen. | |
Das ist bemerkenswert, zieht doch der bekennende Christ Taylor die | |
Grenzlinie damit nicht zwischen Atheisten und Gläubigen, sondern zwischen | |
all jenen, die einer Verpflichtung folgen - egal welcher - und jenen, die | |
nur ihre persönlichen Präferenzen betreiben. | |
## Auf moralische Einheit verzichten | |
Dieser moralische Pluralismus, der weder vereinheitlicht werden kann noch | |
soll, bedarf eines Staates, der "wirklich" neutral ist. Ein Staat also, der | |
die Zustimmung zu seiner "politischen Minimalmoral" (zu der Taylor die | |
Menschenwürde, die Rechte der Person und die Volkssouveränität zählt) aus | |
allen Gründen akzeptieren muss - egal ob die Menschen diese konstitutiven | |
Werte der gesellschaftlichen Ordnung aufgrund säkularer, religiöser oder | |
moralischer Überzeugungen teilen. Dieser völlige Verzicht auf moralische | |
Einheit sei ein schwieriger Prozess, den vor allem die Rechten durch ein | |
"geteiltes Weltbild" aufzuhalten versuchen. | |
Dieser "wirklich" neutrale Staat muss also ein laizistischer Staat sein, | |
und diesen Laizismus neu zu definieren ist die zentrale Aufgabe von Taylors | |
Begriffsarbeit. Sein Gegner ist dabei die "rigide Laizität" nach | |
französischem (und türkischem) Modell. Dieser macht er den bekannten | |
Vorwurf, ein "säkulares Äquivalent der Religion" zu sein. | |
Ihr Ziel einer Emanzipation der Individuen meine eine "Emanzipation der | |
Individuen VON der Religion". Ihr Ziel einer Integration des Staatsbürgers | |
meine eine Auslöschung der Differenzen. So ein Staat sei eben nicht | |
wirklich neutral, sondern vielmehr atheistisch oder agnostisch. Denn der | |
Prüfstein für wirkliche staatliche Neutralität liegt für Taylor an dessen | |
Umgang mit Gläubigen! | |
Deshalb fordert er eine pluralistische, eine "offene Laizität", die er | |
einzig befähigt sieht, mit der gegebenen spirituellen Vielfalt umzugehen. | |
Im Unterschied zu der rigiden Form findet man hier eine Anhäufung von | |
Vokabeln wie Gleichgewicht, Balance und Versöhnung. Denn Aufgabe dieser | |
"liberalen Laizität" sei es, vernünftige Ausnahmeregeln für Gläubige in | |
allen Lebensbereichen zu finden, ebenso wie die Präsenz des Religiösen, | |
aller Religionen, in der Öffentlichkeit zuzulassen - "klug, ausgewogen und | |
konkret". | |
## Kampf um Gleichberechtigung | |
So diskutiert er etwa das Tragen von religiösen Symbolen, das Schülerinnen | |
als Individuen natürlich zustehe, aber auch Repräsentanten des Staates. | |
Denn bei Lehrern, Polizisten oder Richtern würde der Verzicht auf solche | |
Symbole nur einen "Schein von Neutralität" erzeugen. Diese sei vielmehr an | |
ihren Handlungen zu messen. Hier übersieht der Liberalismus jedoch die | |
Eigengesetzlichkeit von Zeichen. | |
Taylors Formel für diese wahre Laizität lautet: Der Staat müsse sich | |
laizisieren, aber ohne die Säkularisierung der Gesellschaft zu fördern. Der | |
Staat darf also nicht in die Gesinnungen seiner Bürger eingreifen, und er | |
muss alle Religionen im Raum der Öffentlichkeit zulassen. In der Kurzformel | |
heißt das also: Wahre Laizität bedeutet, die Religionen zuzulassen! Was für | |
eine grandiose Verkehrung, die die Laizität aus einem Einspruch gegen die | |
Religionen in deren Anspruch auf Gleichbehandlung verwandelt. | |
Man mag diesen Kampf um die Gleichberechtigung der unterdrückten Religionen | |
teilen oder nicht, Taylors Buch kann man in jedem Fall mit Gewinn lesen. | |
Denn es zeigt implizit, dass die "offene Laizität" auch einer "offenen" | |
Religion bedarf - einer Religion, die darum weiß, dass es neben ihr noch | |
"andere Überzeugungs- und Wertesysteme gibt". In diesem Sinn bedeutet das | |
Zulassen der Religionen aber auch deren Einhegung, also deren - zumindest | |
partielle - Säkularisierung. Und übrigens: Happy Birthday, Mister Taylor! | |
Jocelyn Maclure, Charles Taylor: „Laizität und Gewissensfreiheit“. A. d. | |
Französischen v. Eva Budde- berg u. Robin Celikates, Suhrkamp, Berlin 2011, | |
146 Seiten, 19,90 Euro | |
4 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Isolde Charim | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |