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# taz.de -- Interview Jazzpianist Leon Gurvitch: "Es war keine gezielte Suche"
> Der aus Minsk stammende Jazzkomponist und -pianist Leon Gurvitch, seit
> mittlerweile zehn Jahren in Hamburg, ist eher zufällig zur jüdischen
> Musik gekommen. Aufgewachsen ist er damit nicht.
Bild: Hat mit sechs Jahren angefangen, an der Minsker Musikschule Geige zu lern…
taz: Herr Gurvitch, Sie mischen Jazz mit Klezmermusik. Warum eigentlich?
Leon Gurvitch: Weil Klezmer Teil meiner Identität ist.
War das schon immer so?
Während der ersten zehn Jahre meines Lebens nicht. Ich habe zwar einen
jüdischen Hintergrund, bin aber nicht jüdisch erzogen. Auch meine Mutter
war es nicht, denn in der Sowjetunion war es ja verboten, eine Religion
auszuüben. Sie konnte mir diese Tradition also gar nicht vermitteln, weil
sie sie selbst kaum kannte.
Woher kam dann Ihr Interesse?
Über die Musik. Ich habe mit sechs Jahren angefangen, an der Minsker
Musikschule Geige zu lernen, später kamen Klavier und Oboe dazu. Auch
später, während meines Hochschulstudiums, habe ich immer leidenschaftlich
musiziert und gesungen. Irgendwann ergab es sich, dass ich in einem
jüdischen Chor sang und in einem Theaterensemble mitspielte - unter anderem
in einem Stück über Juden. Ich habe auch auf jüdischen Festen musiziert und
gesungen. Parallel habe ich weiter klassische Musik studiert, Prüfungen
abgelegt und so weiter. Sie sehen: Das alles ging nicht von heute auf
morgen, sondern war ein allmählicher Prozess.
War es eine gezielte Spurensuche?
Nein, es war keine bewusste Entscheidung. Es hat sich ganz natürlich Stück
für Stück so ergeben.
Interessierte Sie auch der religiöse Aspekt des Judentums?
Ja. Ich bin in Weißrussland jahrelang jeden Sommer zu Camps auf dem Land
gefahren, wo wir viel über jüdische religiöse Tradition und auch Hebräisch
lernten - Gebetstexte zum Beispiel.
Wer waren die Lehrer?
Junge Israelis und Amerikaner, die extra dafür nach Russland kamen.
Waren sie orthodox oder liberal?
Die meisten kamen aus eher konservativ-orthodoxen Gemeinden in den USA -
von den Lubawitscher Chassiden zum Beispiel.
Ab wann kamen sie?
Seit 1991, nach der Auflösung der Sowjetunion. Da gab es unter den
weißrussischen Juden ein regelrechtes Revival der jüdischen Kultur. Rabbis
wurden eingestellt, die Leute gingen in die Synagoge, feierten jüdische
Feste - und entdeckten so auch die Synagogal- und Klezmermusik wieder.
Es gab in Weißrussland keinen Antisemitismus?
Zu Sowjet-Zeiten ja. Da gab es sogar die inoffizielle Regel, dass etwa an
der Musikhochschule nur ein bestimmter Prozentsatz an Juden studieren
sollte. Nach 1991 wurde das wesentlich lockerer.
Sie haben davon nichts mehr gespürt?
In Ansätzen schon. Es gab immer mal wieder Professoren oder völlig Fremde,
die betonten, dass man Jude sei. Aber es war für mich nicht das große
Thema. Das betraf die ältere Generation.
Als Sie dann viel über das Judentum wussten: Fühlten Sie sich da besser?
Ja, kann man so sagen. Vor allem hat mir die Begegnung mit Klezmer für
meine Musik geholfen. Für mich war es wichtig, erstmal die Tradition zu
studieren. Dann wollte ich weitergehen.
Das heißt?
Ich wollte und will aus dieser Klezmer-Tradition rauskommen und etwas
Eigenes machen. Aber Klezmer war für mich eine wichtige Inspirationsquelle.
Haben Sie die Klezmer-Phase also inzwischen hinter sich?
So absolut würde ich das nicht sagen. Ich lerne immer noch neue
Klezmer-Stücke kennen, und wenn ich eins finde, bin ich sehr begeistert.
Aber dann beginnt eine Phase, in der ich intensiv an diesen Stücken
arbeite. Klezmer interessiert mich nach wie vor, aber ich brauche auch
frische Luft - etwas, das mich voranbringt.
Inwiefern?
Die Klezmer-Tradition ist ja durch den Holocaust eigentlich abgebrochen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man sowohl in Ost- als auch in Westeuropa
versucht, es wiederzubeleben - das erwähnte Revival. Ich persönlich will
aber nicht in dieser Nische, der klischeehaften Klezmer-Musik, bleiben.
Sondern?
Ich will verschiedenste Einflüsse aufnehmen, gern auch den Klezmer ein
bisschen modernisieren. Diese Musik liegt mir am Herzen, und deshalb kann
ich sie besonders gut in meine Werke integrieren. Aber sie wird nie die
einzige Inspirationsquelle sein.
Lassen Sie sich auch von Synagogalmusik inspirieren?
Ja. Ich interessiere mich sehr für jüdische Liturgie. Besonders in
Deutschland gab es da ja im 19. Jahrhundert große Komponisten wie Louis
Lewandowski, die jüdische Liturgie auf ein sehr hohes Niveau gebracht haben
- mit Gesang, Orgel und Chorälen. Ich selbst habe auch einige auf Psalmen
basierende Chorstücke komponiert.
Ist Musik für Sie eine Art Gebet?
Ich bin nicht im traditionellen Sinne gläubig, aber Musik ist für mich
durchaus eine Art von Religion. Denn in der Musik finden sich alle Facetten
menschlicher Existenz - von der Komödie bis zum Drama. Und wenn ich etwas
erlebe, kann ich meine Gefühle am besten in Musik ausdrücken. Das kann
heute ein Gebet, morgen ein witziges Stück und übermorgen etwas ganz
anderes Drittes sein.
Und Sie sind überzeugt, dass Sie all das angemessen in Musik ausdrücken
können.
Das muss ich sein. Wenn man nicht an seine eigene Musik glaubt, ist es
schwer voranzukommen. Man muss hart arbeiten - mit Phasen der Verzweiflung,
aber ohne Zweifel. Wenn jemand in die Kirche geht, zweifelt er ja auch
nicht an Gott. Er glaubt. Auch wenn einer komponiert, muss er an sich
glauben. Und wenn er ehrlich ist - vor allem mit der eigenen Musik -, dann
glauben ihm auch andere.
Aber den eigenen Fortschritt kann man nicht erzwingen. Sind Sie manchmal
ungeduldig mit sich selbst?
In einigen Situationen schon. Aber ich bekomme das inzwischen ganz gut in
den Griff. Früher dachte ich immer, ich müsste alles auf einmal machen und
alles sofort. Heute nehme ich mir Zeit und arbeite so lange an einer
Komposition, bis ich selbst zufrieden bin. Bin ich es nicht, versuche ich
es erstmal zur Seite zu legen.
Wenn Sie auf der Bühne spielen: Wäre es egal, ob das Publikum säße oder
nicht?
Das ist mir völlig egal.
Wann waren Sie zum letzten Mal in Minsk?
Vor vier Jahren.
Könnten Sie sich dort wieder heimisch fühlen?
Ach, es wäre schwierig. Künstler haben dort nach wie vor wenig Freiheit,
und ich sähe dort wenig Perspektive für meine Weiterentwicklung. Hinzu
kommt, dass etliche meiner Freunde in den 90er-Jahren ausgewandert sind wie
ich - es gab Jahre, in denen 200.000 bis 500.000 Menschen jährlich das Land
verließen. Und was mich betrifft: Ich wohne jetzt seit zehn Jahren in
Hamburg und habe gute Freunde und Bekannte gefunden. Ich würde ungern
woanders wieder von vorn anfangen.
6 Nov 2011
## AUTOREN
Petra Schellen
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