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# taz.de -- Kolumne Knapp überm Boulevard: Eine Dosis Leidenschaft
> Damit Europa nicht in Nationalismus zurückfällt, braucht es Wut statt
> Depression. Nur so lassen sich ökonokratische Postdemokratie und
> Postpolitik verhindern.
Wenn Thomas Assheuer kürzlich in der Zeit beklagt hat, Europa hätte unter
den Intellektuellen keine Leidenschaft hervorgebracht, dann hat er damit
recht und unrecht zugleich. Richtig ist der Befund der
Leidenschaftslosigkeit, nicht aber das Klagen darüber. Zumindest bislang.
Denn bislang funktionierte die EU wie eine Pathosvernichtungsmaschine: Egal
was man reintat, es kam kleingehäckselt als Regelwerk wieder heraus. Sie
verwandelte historische Geschehnisse in administrative Prozesse.
Das hatte durchaus etwas Erleichterndes, aber nichts, was einer "sprühenden
politischen Fantasie" bedurfte. Leidenschaften gehören zur Nation und deren
heroischem Narrativ. Die EU jedoch war eine Konstruktion für postheroische
Zeiten. War. Denn nun verändert sich die Situation. Nun ist der Zerfall der
europäischen Integration zu einer realistischen Möglichkeit geworden.
Natürlich gibt es etliche, die das begrüßen. Auch Intellektuelle. Aber für
all jene, die das, was danach käme, nicht als Wiedergewinnung ihrer
nationalen Besonderheiten gegen die Brüsseler Vereinheitlichung sehen, für
all jene, die sich nicht nach einer Renationalisierung des Kontinents
sehnen - gerade auch im Hinblick auf eine Rechte, die in diesem labilen
politischen Raum auf dem Vormarsch ist -, für all jene gilt: Jetzt braucht
es tatsächlich Engagement. Jetzt muss sich die Tonart ändern. Nun gilt es,
sich für mehr, für viel mehr Europa einzusetzen. Und das ist
gleichbedeutend mit weniger, mit viel weniger deutsch-französischer
Doppelherrschaft, dem "Merkozy" (Copyright Christian Semler).
Vor einiger Zeit schrieb Robert Menasse ein Pamphlet für die Brüsseler
Beamtenschaft. In deren Rationalität sah er den Ausweg aus der Krise, den
Ausweg aus der Sackgasse, in der die Europäische Union steckt. Schon damals
konnte man dagegen einwenden, dass Demokratie nicht nur eine
Vernunftveranstaltung ist, sondern auch den Umgang mit Irrationalitäten
erfordert. Die Ausübung von Rationalität droht autoritär zu werden, wenn
sie nicht von Akzeptanz seitens jener getragen wird, die die Lasten auch
tatsächlich zu tragen haben.
## Exekution ökonomischer Vorgaben
Heute, wo undemokratische Entscheidungsprozesse sich mit Rückgriff auf
Expertenräte paaren, ist dieser Einwand umso dringlicher. Denn im Namen
dieser scheinbar alternativlosen Vernunft realisiert die Politik nur die
Vorgaben der Ökonomie: "Es ist absurd, dass sich die Politik immer mehr von
den Finanzmärkten treiben lässt", so der "Wirtschaftsweise" Peter Bofinger.
Ja, es steht das Verhältnis von Ökonomie und Politik auf dem Spiel. Und
wenn man sich die Entwicklungen der letzten Zeit ansieht, dann könnte man
meinen, das Match sei schon entschieden: die Situation in Griechenland, der
Sturz Berlusconis - nirgendwo eine tatsächlich politische Handlung. Überall
nur Exekution ökonomischer Vorgaben. Nicht, dass man Berlusconi nachweint,
aber er ist nicht an einer politischen Gegenkraft, sondern an der
ökonomischen Lage gescheitert.
Und bevor man meint, vielleicht war es das, vielleicht war all das mit der
Politik und der Freiheit nur eine Illusion, mit der jene am Gängelband sich
vormachten, sie würden tanzen, bevor man sich also der Depression hingibt,
gilt es, gewissermaßen kontrafaktisch einzutreten - für die Politik, für
Europa. Da braucht es Wut statt Depression. Da braucht es eine Verbindung
der "thymotischen Energien", wie Peter Sloterdijk es genannt hat.
Aber es braucht auch eine Verbindung all jener Bewegungen, die für das
kämpfen, was aufgeklärte Ökonomen als "Zukunftsinvestition" bezeichnen:
Bildung, Forschung, Ökologie. Das wird gerade jetzt virulent, wo die
Occupy-Bewegung ans Überwintern denken muss.
Es gibt Stimmen, die für De-aktivieren plädieren, denn das Politische habe
sich überlebt. Ja, die Depression lockt, aber gibt man sich ihr hin, dann
haben alle Postler recht behalten: die von der Postdemokratie und die von
der Postpolitik. Jetzt braucht es Leidenschaft, Leidenschaft für Europa.
Und da ist auch das Pathos wieder gefragt. Also: Für ein anderes Europa!
21 Nov 2011
## AUTOREN
Isolde Charim
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