# taz.de -- Zehn Jahre nach Sturz der Taliban: "Wir müssen Risiken eingehen" | |
> Die Afghanen trauen weder der Regierung noch der internationalen | |
> Gemeinschaft. Die wichtigste Voraussetzung für Frieden ist Gerechtigkeit, | |
> sagt Exfrauenministerin Sima Samar. | |
Bild: Rückkehr aus Pakistan: Afghanische Flüchtlinge. | |
taz: Frau Samar, am 5. Dezember findet in Bonn eine internationale | |
Afghanistan-Konferenz statt, zehn Jahre nachdem am selben Ort die Weichen | |
für die Zeit nach dem Taliban-Regime gestellt wurden. Die drohen inzwischen | |
erneut die Macht zu übernehmen. Was lief schief? | |
Sima Samar: Ein Fehler war, dass es keine gemeinsame Strategie der | |
internationalen Gemeinschaft und der Regierung in Kabul gab. Viele haben | |
sich beteiligt - aber fast jeder davon hatte eigene Strategien und Ziele. | |
Zudem wurde der regionale Kontext zu wenig bedacht. Es mangelte an einer | |
gemeinsamen Strategie gegenüber der Region. Die einen beschuldigten | |
Pakistan, im Afghanistan-Konflikt mitzumischen, andere gaben Pakistan Hilfe | |
und unterliefen somit den Druck. | |
Wo sehen sie Fehler auf afghanischer Seite? | |
Wir haben keine klaren Prioritäten entwickelt. Letzteres war sehr schwer, | |
aber etwa fünf Ziele klar zu benennen und dann zu verfolgen hätte uns | |
stärker vorwärtsgebracht. Und weder die internationale Gemeinschaft noch | |
unsere Regierung haben Wert auf Verantwortlichkeit gelegt und Rechenschaft | |
gefordert. So wurde Vertrauen der Bevölkerung verloren. Gerechtigkeit ist | |
die wichtigste Voraussetzung für Frieden und Stabilität. | |
Diejenigen, die für Versöhnung ohne Gerechtigkeit eintreten, argumentieren, | |
die Verurteilung von Warlords hätte zu mehr Instabilität geführt. | |
Stabilität kann ohne Gerechtigkeit nicht nachhaltig sein. Bis etwa 2004 | |
hatten wir keine nationalen Institutionen. Trotzdem war es damals in | |
Afghanistan stabiler und sicherer als heute. Die Taliban kontrollierten so | |
gut wie keine Distrikte. Wir haben die Gerechtigkeit nicht ernst genommen, | |
deshalb konnte die Unsicherheit zunehmen. | |
Was hätte mit Warlords wie etwa Abdul Rasul Sayyaf, Abdul Raschid Dostum | |
oder Karim Chalili geschehen sollen? | |
Sie hätten isoliert werde sollen. Die Bevölkerung hat ja viel Erfahrung mit | |
ihnen gemacht, nicht nur während der Kriege, sondern auch in der | |
Regierungszeit der Mudschaheddin 1992 bis 1996. Ihr Machtkampf | |
untereinander führte zur Machtübernahme der Taliban. Diese Warlords hätten | |
isoliert werden und für ihre Taten Rechenschaft ablegen müssen. Statt ihrer | |
hätten qualifizierte Leute in Führungspositionen gehört, die ihrerseits | |
einem Monitoring unterstehen und rechenschaftspflichtig sind. | |
Wäre die Isolierung der Warlords realistisch gewesen? | |
Aber ja. In der Menschenrechtskommission haben wir eine Konsultation mit | |
7.000 Vertretern der Bevölkerung durchgeführt und genau das war die | |
Empfehlung der Befragten. Gefordert wurde, das Leiden der Bevölkerung | |
anzuerkennen. Das geschieht bis heute nicht. Dazu hätte es symbolischer | |
Akte bedurft, um Wunden zu heilen, sowie der Dokumentation bisheriger | |
Verbrechen, um daraus lernen zu können und um Kriegsverbrecher aus | |
staatlichen Institutionen entfernen zu können. Eine weitere Empfehlung war | |
die Einsetzung eines Sondergerichts mit Richtern aus Afghanistan und | |
muslimischen Ländern. | |
Sie wurden selbst schon persönlich bedroht. Wäre ein stärkeres Vorgehen | |
gegen die Warlords nicht sehr riskant gewesen einschließlich der | |
Möglichkeit, dass auch Sie dabei getötet werden? | |
Ich sollte bereits getötet werden, was aber nicht gelang. Die Lösung kann | |
nicht sein, vor der Gefahr wegzurennen und unser Land zu vergessen. Wollen | |
wir wirklich Frieden und Stabilität in Afghanistan, müssen wir Risiken | |
eingehen. Wir haben schon so viele Menschenleben riskiert, dass wir keine | |
Angst vor weiteren Risiken haben sollten. | |
Die internationale Gemeinschaft und die afghanische Regierung streben | |
Verhandlungen mit den Taliban an. Doch warum sollten die überhaupt | |
verhandeln, wenn sie nach dem Abzug der internationalen Soldaten 2014 | |
militärisch gewinnen können? | |
Die Taliban werden militärisch nicht gewinnen, denn die Situation ist heute | |
anders als in den 1990er Jahren. Auch könnten die Taliban heute nicht mehr | |
regieren wie damals. Bei Verhandlungen muss man sein Gegenüber kennen. Die | |
Definition unseres Gegners ist sehr wichtig, doch bisher wurde er nicht | |
definiert. Oder kennen wir die verschiedenen Fraktionen und ihre Führer? | |
Für Verhandlungen braucht die Regierung Vertrauen und Unterstützung der | |
Öffentlichkeit. Beides fehlt, weil es an Transparenz mangelt. Wenn die | |
afghanische Regierung nicht stark ist, warum sollten die Taliban dann mit | |
ihr verhandeln? | |
Bekanntlich ist Afghanistans Regierung schwach … | |
Solange die Regierung nicht ihre Hausaufgaben macht und durch gute | |
Amtsführung das Vertrauen der Bevölkerung gewinnt, können Verhandlungen | |
nicht zu Versöhnung führen. Solange die Bevölkerung Polizei, Armee, | |
Geheimdienst und andere Institutionen nicht unterstützt, erreichen wir in | |
Afghanistan nichts. Schaut man sich die Versöhnungsprozesse in anderen | |
Ländern an, ist immer eine Konfliktpartei relativ stark und kann so die | |
andere von der Notwendigkeit von Verhandlungen überzeugen. Meine | |
persönliche Erfahrung in Afghanistan wie im sudanesischen Darfur ist die | |
gleiche. Das Friedensabkommen in Darfur 2005 hat keinen Frieden gebracht. | |
Aber dort wissen sie zumindest, wer die Anführer sind, und sprechen mit | |
denen. Wir hingegen sprechen nicht mit dem Talibanführern, und jeder, der | |
sich als ihr Vertreter ausgibt, wird empfangen. So konnte Burhanuddin | |
Rabbani, der Vorsitzende des Friedensrates, getötet werden. | |
Sie wurden 2002 Afghanistans erste Frauenministerin. Müssen Frauen jetzt | |
befürchten, dass ihre Rechte von der Regierung in Verhandlungen mit den | |
Taliban geopfert werden? | |
Die Befürchtungen sind berechtigt, weil wir die Taliban und ihren Umgang | |
mit den Frauen kennen. Doch deren Politik wird nicht mehr funktionieren, | |
weshalb ich mir nicht mehr so große Sorgen mache. Doch selbst wenn die | |
Regierung gegenüber den Taliban nicht auf den Rechten der Frauen besteht, | |
sind die Taliban nicht zu Verhandlungen bereit. | |
Sie sehen keine Gespräche mit den Taliban? | |
Verhandlungen werden nicht funktionieren, solange die von mir genannten | |
Bedingungen von Seiten der Regierung nicht erfüllt werden. Schlecht ist | |
auch, dass momentan alle in einer Art Wettbewerb versuchen, Gespräche mit | |
den Taliban zu führen. Natürlich sollten Verhandlungen auch nicht | |
Menschenrechte und Gerechtigkeit unterminieren. Die jetzige Regierung hat | |
sich bereits mit den früheren Mudschaheddin-Führern versöhnt, was nicht | |
hilft. | |
Verhandlungen sind auch zentral in der Strategie der internationalen | |
Gemeinschaft, um 2014 ihre Truppen abziehen zu können. Sollten die | |
ausländischen Soldaten länger bleiben? | |
Die internationale Gemeinschaft sollte wirklich dafür sorgen, dass die | |
Afghanen eigene Fähigkeiten entwickeln und uns in puncto | |
Verantwortlichkeit, Rechenschaft und Gerechtigkeit beistehen. Wir wollen | |
nicht, dass sie lange bleiben, aber sie sollen uns auch nicht im Stich | |
lassen wie in den 1990er Jahren. | |
Ist das bis 2014 erreichbar? | |
Mit dem entsprechenden politischen Willen ja, aber sicher werden wir dann | |
nicht perfekt sein. Wir sollten nicht vergessen, dass wir selbst ohne | |
richtige Strategie in Afghanistan viel erreicht haben. 2002 waren Polizei, | |
Armee und die meisten Institutionen quasi privat - etwa das | |
Kulturministerium, das bestimmte Gruppen kontrollierten. | |
Bei den letzten internationalen Afghanistan-Konferenzen, in London im | |
Januar 2010 und in Istanbul Anfang November, gab es keine einzige Frau in | |
der afghanischen Delegation. Wie kommt das? | |
Das zeigt den fehlenden politischen Willen der Regierung und der | |
internationalen Gemeinschaft. Das Frauenthema wird nicht ernst genommen. | |
Sie sind Vorsitzende der Unabhängigen Menschenrechtskommission (AIHRC). Die | |
gilt als glaubwürdig, doch scheint sie machtlos, weil, wie Sie selbst | |
sagen, bisher kein Warlord vor Gericht gestellt wurde. Führen Sie eine | |
zahnlose Institution? | |
Menschenrechtskommissionen haben in keinem Land Befugnisse der | |
Strafverfolgung. Trotzdem haben wir viel erreicht etwa bei der Reduzierung | |
der Folter. Früher folterten Polizei und Geheimdienst jeden, den sie | |
festnahmen. Heute gibt es zwar auch noch Fälle von Folter, aber die | |
Verantworlichen versuchen sie zu vertuschen. In Trainingeseinrichtungen von | |
Polizei und Armee wird heute ein Grundverständnis von Menschenrechten | |
vermittelt - ein großer Erfolg. | |
Vor einigen Wochen haben an der Isaf-Truppe beteiligte Nationen ihre | |
Soldaten angewiesen, afghanischen Institutionen keine Gefangenen mehr zu | |
überstellen, weil denen Folter drohe … | |
Länder, die das behaupten, sollten mit gutem Beispiel vorangehen und dafür | |
sorgen, dass ihre Soldaten nicht foltern. Sie sollten den Afghanen auch | |
keine Gefangenen zum Foltern geben. Statt gegenseitig Vorwürfe zu erheben, | |
lässt sich das Problem am besten durch Kooperation lösen. Die Gefangenen | |
müssen ja irgendwann übergeben werden. Deshalb brauchen die Afghanen | |
Training und Monitoring. | |
Darf die von Ihnen geleitete afghanische Menschenrechtskommission | |
inzwischen die Zustände im Militärgefängnis auf dem US-Luftwaffenstützpunkt | |
Bagram untersuchen? | |
Es gibt dort das neue US-Militärgefängnis Parwan, das dürfen unsere | |
Mitarbeiter inzwischen betreten. Aber nur das und nicht die angrenzende | |
eigentliche US-Basis. Ich war im 2010 mit unserem Justizminister und einem | |
Mitarbeiter des Präsidenten dort, aber es entzieht sich weiter unserer | |
Kontrolle. Es gibt dort keine Transparenz, was Gerüchte über ein | |
Geheimgefängnis und womöglich Verhör- oder Folterzentrum nährt. Wir haben | |
seit 2004 versucht, Zutritt zu bekommen. Es dauerte bis 2010, bis wir nur | |
das inzwischen vom Stützpunkt Bagram abgetrennte Gefängnis Parwan betreten | |
durften. | |
22 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Sven Hansen | |
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