| # taz.de -- Müllkippe der Nato: Das vergiftete Paradies | |
| > Auf Sardinien testen Militär und Rüstungsfirmen Waffen. Anwohner sterben | |
| > an Krebs, Kinder werden ohne Finger geboren. Jetzt ermittelt ein | |
| > Staatsanwalt wegen Mord. | |
| Bild: Salto di Quirra dient seit Jahrzehnten als Schieß- und Schrottplatz. Die… | |
| SARDINIEN taz | Der Staatsanwalt Domenico Fiordalisi will jetzt erst einmal | |
| 10.000 Schafe, Ziegen und Rinder vertreiben lassen. Sie sollen nicht mehr | |
| in Salto di Quirra grasen, auf dem Truppenübungsplatz im Südosten | |
| Sardiniens. Die Viehzüchter regen sich auf. Aber würde Fiordalisi sich | |
| davon einschüchtern lassen, wäre er ohnehin der Falsche für diese ganze | |
| Angelegenheit. | |
| Wenn Domenico Fiordalisi sich in der Öffentlichkeit bewegt, begleiten ihn | |
| drei Männer mit großkalibrigen Pistolen unter den Hemden. | |
| Die Staatsanwaltschaft von Lanusei, der kleinsten Provinzhauptstadt | |
| Italiens, sitzt in einem beigen Funktionsbau. Als Fiordalisi an diesem | |
| sonnigen Abend in sein kühles Büro kommt, zieht er den Kopf ein. Die | |
| Türstöcke sind niedrig, und Fiordalisi ist ein ziemlicher Riese. | |
| Der Staatsanwalt hat gerade das größte militärische Sperrgebiet Europas | |
| beschlagnahmen lassen: Salto di Quirra. Und er ermittelt wegen Mordes gegen | |
| dessen ehemaligen Kommandanten. Das Truppenübungsgelände ist fast so groß | |
| wie das deutsche Darmstadt, 116 Quadratkilometer. Die Militäroperationen | |
| dürfen dort zwar vorerst weitergehen. Das Land darf nur nicht mehr als | |
| Weide genutzt werden. | |
| Jetzt protestieren also die Landwirte. Aber viele Käsereien weigern sich | |
| sowieso, den Hartkäse Pecorino sardo aus der Milch von Schafen | |
| herzustellen, die Lämmer mit Augen hinter den Ohren gebären. | |
| ## Staatsanwalt erhält Morddrohungen | |
| Wahrscheinlich sind die Bauern sogar das kleinste Problem des Domenico | |
| Fiordalisi. Eine Bürgerinitiative prangert seit Jahrzehnten die hohe | |
| Todesrate wegen Krebserkrankungen in der Umgebung des Übungsplatzes an. Und | |
| ganz am Anfang von Fiordalisis Beschlagnahmeverordnung findet man einen | |
| Verdacht gegen eine deutsche Rüstungsfirma und die Bundeswehr. Es geht um | |
| Urangefechtsköpfe. Weshalb Domenico Fiordalisi Kontakt mit deutschen | |
| Behörden aufgenommen hat. | |
| Für viele ist Fiordalisi die letzte Hoffnung nach Jahren des Schweigens. | |
| Andere sprühen Morddrohungen gegen ihn an Häuserwände. | |
| 50.000 Euro pro Stunde, hat sich der Staatsanwalt sagen lassen, zahlen | |
| Firmen an das italienische Verteidigungsministerium, um irgendwelche | |
| Substanzen in den sardischen Himmel aufsteigen, in den Boden und in das | |
| Wasser eindringen zu lassen, die nur sie kennen. | |
| Gelassen wie ein Bär sitzt Fiordalisi in dem hellen Büro mit den | |
| praktischen Ledermöbeln. Auf dem Schreibtisch ist alles geordnet. Nur unter | |
| dem Tisch werden Fiordalisis Füße bei manchen Fragen unruhig. | |
| Der Ort, der ihn doch ein wenig nervös zu machen scheint, liegt in den | |
| Bergen Sardiniens. Der Landstrich wäre eine gute Kulisse für einen | |
| Karl-May-Film. Thymian und Lavendel wachsen zwischen krummen Korkeichen. | |
| Hohe Granitfelsen, steile Schluchten, verfallene Häuser. | |
| ## Größter Nato-Truppenübungsplatz Europas | |
| Auf einem Hügel wölbt sich die riesige Kuppel einer Radaranlage. Hier | |
| versteckt sich ein Teil des größten militärischen Sperrgebiets der Nato, | |
| das bis weit ins Meer reicht. „Kronjuwel“ nennen es italienische Generäle. | |
| Auf dem Gelände befindet sich ein Raketenstartplatz. Die Bundeswehr nutzte | |
| Salto di Quirra in den Achtziger Jahren. Andere europäische Nato-Partner, | |
| die Türkei und Israel testen Waffensysteme. | |
| In Lanusei trägt der Staatsanwalt an diesem Abend einen grau-blauen Anzug | |
| von der Stange. Sein Hemd ist einen Knopf weiter geöffnet, als man es von | |
| einer Amtsperson erwartet – sogar im 595 Meter hoch gelegenen Lanusei ist | |
| es abends um sieben noch 35 Grad warm. | |
| Domenico Fiordalisi weiß, dass er auf einem schmalen Grat wandert. | |
| Staatsanwälte werden in Italien schnell zu Helden stilisiert oder zu | |
| Kommunisten erklärt. Sie machen Karriere in Fernsehen und Politik – wie | |
| Antonio Di Pietro, einst Chefermittler in der Spendenaffäre, die in den | |
| Neunzigern die italienische Parteienlandschaft zerstörte. Heute ist Di | |
| Pietro Vorsitzender der Anti-Berlusconi-Partei „Italien der Werte“. | |
| Einer aktuellen Umfrage zufolge vertraut mehr als die Hälfte der Italiener | |
| der Staatsanwaltschaft. Es gibt jetzt die Facebookseite „Unterstützung für | |
| Domenico Fiordalisi“. Wer so hoch gehoben wird, kann tief fallen. | |
| Fiordalisi ist erst seit drei Jahren in dem Bergdorf Lanusei mit seinen | |
| 6.000 Einwohnern. Es ist wohl nicht der Karrierehöhepunkt, von dem dieser | |
| Mann aus einer renommierten Juristenfamilie geträumt hat. Fiordalisi hat in | |
| den Neunzigern in Kalabrien gegen die Mafia, die 'Ndrangheta, ermittelt. | |
| Auch auf Sardinien hat er seit seinem Amtsantritt im Sommer 2008 Strukturen | |
| organisierter Kriminalität aufgedeckt. Seiner Frau wurden daraufhin die | |
| Autoreifen zerstochen. Jemand legte einen Umschlag mit Kugeln vor sein | |
| Haus. | |
| ## Der Staatsanwalt erhält eine Anzeige der Tierärzte | |
| Die Lokalpresse schreibt, Fiordalisi habe einen Fehler gemacht: die | |
| verstaubten Akten aus den Schränken zu holen und hartnäckig die Fälle | |
| abzuarbeiten. | |
| Domenico Fiordalisi ist seit 1986 im Justizdienst. Er hat in dieser Zeit | |
| einige Disziplinarverfahren überstanden, am Ende wurde er immer vollständig | |
| entlastet. | |
| Wahrscheinlich hat ihn das vorsichtig gemacht, so klingt er jedenfalls: „Im | |
| Januar diesen Jahres erreichte mich eine Anzeige von Tierärzten der | |
| Gesundheitsämter von Lanusei und der Hauptstadt der Region Sardinien, | |
| Cagliari: Veterinäre, die eine Untersuchung zu Missbildungen bei Tieren | |
| gemacht hatten, die auf dem Gelände des militärischen Schieß- und | |
| Übungsgeländes Salto di Quirra weideten“, sagt er. | |
| „Die Zentrale dieses Sperrgebiets befindet sich in der Kommune | |
| Perdasdefogu, die zur Provinz Ogliastra gehört und damit in die | |
| Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft Lanusei fällt. Deshalb bestand für uns | |
| die Notwendigkeit, eine strafrechtliche Untersuchung einzuleiten. | |
| Die Missbildungen waren beträchtlich und ließen an eine mögliche | |
| radioaktive Verseuchung denken – etwa durch Uranmunition, die von der Nato | |
| in Kriegen eingesetzt wurde, allerdings – nach eigener Aussage – nicht von | |
| den italienischen Streitkräften. | |
| ## Auch die Bundeswehr übt auf der Insel | |
| Da in dem Gebiet auch fremde Truppen und Privatfirmen Tests durchführen, | |
| konnte der Verdacht nicht ausgeschlossen werden.“ Zu den fremden Truppen | |
| zählte unter anderem die deutsche Bundeswehr. | |
| Fiordalisi fährt fort: „Uran wurde dann in den Knochen eines Lamms | |
| gefunden, das zu einer Herde gehörte, die auf dem Gelände weidete. Dort | |
| befand sich der zentrale Entsorgungsplatz für die Waffen der gesamten | |
| italienischen Luftwaffe. | |
| Weiter ergaben die Untersuchungen, dass der Sprengplatz von 1984 bis 1989 | |
| intensiv, bis 2008 dann nur noch eingeschränkt genutzt wurde und mit | |
| metallischen Nanopartikeln verseucht war, die nach unseren Informationen | |
| krebserregend sind.“ Der Staatsanwalt trägt das ruhig und sachlich vor, als | |
| hätte er es oft erzählt. „Damit setzen wir uns auseinander, mit nichts | |
| anderem“, sagt er. | |
| Fiordalisi hat mehr als zwanzig Exhumierungen verstorbener Hirten | |
| angeordnet – eine Maßnahme, die für beträchtliche Unruhe sorgt. Tierzücht… | |
| sind mit Schafen vor seinem Büro aufmarschiert, begleitet von | |
| Bauernfunktionären, Bürgermeistern und Exmilitärs. Sie forderten eine | |
| Verlängerung der Räumungsfrist. Anständige Leute, die ihre Rechte | |
| wahrnähmen, sagt Fiordalisi, keine Chaoten. | |
| ## Mariella Cao kämpft seit über zwanzig Jahren gegen die Militärpräsenz | |
| Er ist ein Mann der Ordnung. In Deutschland würde man ihn einen Rechten | |
| nennen. Aber Italien ist anders und Sardinien sowieso. Hier ergeben sich | |
| seltsame Koalitionen – etwa zwischen einem wie Fiordalisi und einer wie | |
| Mariella Cao. | |
| Mariella Cao kämpft seit mehr als zwanzig Jahren gegen das Poligono, den | |
| Übungsplatz. Sie ist 60 Jahre alt, sehr schmal und wirkt fast zerbrechlich. | |
| Mit schlanken Fingern streicht sie eine Haarsträhne aus dem Gesicht und | |
| zündet sich eine Zigarette an. Ihre Stimme ist tief, sie spricht schnell. | |
| Cao kommt kaum dazu, von dem Eistee zu trinken, der in dem Café in Cagliari | |
| vor ihr steht. | |
| 1956 hatte das Militär das Gelände für das militärischen Versuchsgelände | |
| beschlagnahmt, musste den Landbesitzern aber weiter ein Nutzungsrecht | |
| einräumen. Die Gemeinden erhielten Ausgleichszahlungen. Aus dem Armenhaus | |
| Ogliastra wurde damit zwar keine reiche Gegend. | |
| Cao kennt aber Menschen, die vorher nichts zu essen hatten und wegen des | |
| Übungsplatzes nun sogar ihre Kinder zur Schule schicken konnten. Die | |
| Verbundenheit von Militär und Bevölkerung in der Gegend ist stark, auch | |
| wegen zahlreicher Ehen. | |
| Manchmal bitten Militärs die Bauern um Hilfe. Einmal haben sie eine Rakete | |
| mit einem Ochsenkarren bergen lassen. Am Eingang zum Dorf Perdasdefogu | |
| erzählt ein Wandgemälde davon. | |
| ## Die Lehrerin nennt es militärische Versklavung | |
| Seit Mitte der Neunziger arbeitete Cao als Grundschullehrerin in dem Ort | |
| Villaputzu. Hartnäckig hielten sich Gerüchte über seltsame Todesfälle. 1999 | |
| starb ein junger Soldat an Krebs. Er war von einem Nato-Einsatz aus Bosnien | |
| zurückgekehrt. | |
| „Die Leute hörten da zum ersten Mal von Uranmunition, die die Nato-Truppen | |
| auch in Exjugoslawien einsetzten“, erinnert sich Cao. Ein Wehrpflichtiger | |
| starb an Leukämie. Seine Eltern sprachen beim Bürgermeister vor. Niemand | |
| wollte ihre Geschichte hören. | |
| Die Militärführung wiegelte ab, tragische Einzelfälle, verwies wieder auf | |
| die Nato-Einsätze. Obwohl der junge Wehrpflichtige nie außerhalb der Insel | |
| stationiert gewesen war. | |
| Die Waffen, die die Nato in ihren Einsätzen verwendete, seien seit | |
| Jahrzehnten auf der Insel getestet worden, sagt Cao. Sie gründete die | |
| Initiative „Gettiamo le basi“, das heißt „Weg mit den Basen“, aber auch | |
| „die Basis legen für etwas Neues“. | |
| Cao fand Mitstreiter wie die Medizinerin Antonietta Gatti, die seit Jahren | |
| die Folgen militärischer Verschmutzung erforscht. Gatti hatte sich auf die | |
| Verunreinigung durch Nanopartikel spezialisiert, die sich bei | |
| Waffenexplosionen in der Atmosphäre verteilen. Gemeinsam erhöhten sie den | |
| Druck auf die Politik. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss wurde | |
| eingerichtet. | |
| Für manche fügt sich das alles in eine jahrtausendelange Geschichte: die | |
| Karthager, die Römer. Genua, Pisa, die Katalanen. Sie alle hatten die | |
| Sarden kolonisiert. Und dann wurde Sardinien auch noch zur Militärmüllkippe | |
| von Nato und Nationalstaat. Mariella Cao spricht von militärischer | |
| Versklavung. | |
| ## Eine Krankenschwester nennt das missgebildete Baby „Monster“ | |
| Jetzt ermittelt Domenico Fiordalisi, und Cao weiß gar nicht genau, ob sie | |
| glücklich sein soll. Denn erst einmal hat er angeordnet, was das Militär | |
| schon immer gewünscht habe, sagt Cao. Die Hirten und ihre Tiere sollen | |
| verschwinden. Wenn nun ohne Zeugen weitergeballert wird, das Land aber | |
| besetzt bleibt: Was hat Mariella Cao dann gewonnen? | |
| Stefano Artitzu, dessen Tochter fünf Finger fehlen, kann den Radarturm in | |
| Salto di Quirra von seinem Haus aus sehen. Er wohnt in Escalaplano, einem | |
| Dorf mit 2.500 Einwohnern. Artitzu betreibt hier sein kleines Fotogeschäft. | |
| Er ist 50, groß und schlank. Artitzu trägt ein dunkles Hemd und ein | |
| goldenes Armband. Er sieht älter aus, die Zähne müssten gemacht werden. | |
| Artitzu ist nicht grundsätzlich gegen Militär und Basen auf Sardinien. Er | |
| ist kein Pazifist. Er ist nur wütend wegen all der Lügen. Seine Tochter | |
| wurde vor 18 Jahren ohne Finger an der rechten Hand geboren. Damals hat das | |
| ihn und seine Frau nicht weiter gekümmert. Schicksal. Die Tochter sei so | |
| glücklich wie andere Menschen, Daniela heißt sie. | |
| Vereinzelt hörte er Hirten von deformierten Lämmern erzählen. Doch es | |
| dauerte Jahre, bis sie auch von anderen missgebildeten Kindern hörten. Da | |
| hat man sich erstmals zusammengesetzt, sich ausgetauscht. Allein im Jahr | |
| 1988 kamen 14 Neugeborene mit Missbildungen auf die Welt. Artitzu erzählt | |
| vom „Monster“. So bezeichnete die Krankenschwester ein Baby, das sie in der | |
| Klinik auf dem Arm seiner Mutter sah. Sie, die Anwohner, versuchten, die | |
| Ursachen herauszufinden. | |
| Niemand half ihnen. Nicht das Gesundheitsamt, nicht die Verwaltung, nicht | |
| die Kirche. Als immer mehr Missbildungen auftraten, habe man sich an die | |
| Presse gewandt. Der damalige Bürgermeister von Escalaplano beschimpfte die | |
| kleine Aktivistengruppe, sie würde seinen Ort mit Dreck bewerfen. | |
| ## Arbeit schlägt Gesundheit auf Sardinien | |
| Artitzu sagt, es sei die Angst vor der Politik, die das Poligono schützt. | |
| Hundert Leute aus Escalaplano lebten von der Basis. Arbeit schlägt | |
| Gesundheit. „Meine Schwester ist mit neun Jahren an einem Hodgkin-Lymphom | |
| gestorben“, sagt Artitzu und blickt in die Ferne. Krebs. | |
| Und dann kam Domenico Fiordalisi, der neue Staatsanwalt. Artitzu hat eine | |
| Aussage gemacht. Er hat den Behörden Material übergeben, Zeitungsartikel. | |
| Und ein missgebildetes Lamm. „Das hatte ich bei mir ein Jahr im Keller, in | |
| Formalin eingelegt.“ Artitzu lächelt stolz wie ein kleiner Junge. Alle | |
| seine Hoffnung setzt er jetzt auf die Ermittlungen von Domenico Fiordalisi. | |
| „Wir haben da unsere Wege.“ Der Staatsanwalt lächelt selbstbewusst. Seine | |
| Institution, die „Magistratura“, hat Kontakt aufgenommen nach Deutschland, | |
| um mehr herauszufinden über die Kormoran-Raketen der deutschen | |
| Rüstungsschmiede Messerschmitt-Bölkow-Blom, kurz MBB, die von Tornados der | |
| deutschen Luftwaffe abgeschossen wurden. | |
| Fiordalisi ist zwar noch ein wenig beleidigt, dass Giancarlo Carrusci | |
| zuerst mit der Presse sprach, nicht mit ihm, dem Staatsanwalt. Die Presse | |
| hat Carrusci gleich zum „Superzeugen“ erhoben. „Aber natürlich“, sagt | |
| Fiordalisi, er halte den Zeugen für „sehr glaubwürdig“. | |
| ## MBB testete Kormoran-Raketen für die Bundeswehr | |
| Der ehemalige Hauptmann Giancarlo Carrusci sitzt an seinem Schreibtisch, im | |
| Keller seines Hauses in einem Vorort von Cagliari: „Stahlbeton“, er lacht, | |
| „kein Handyempfang.“ Und abhörsicher. Carrusci, 60 Jahre alt, trägt | |
| Poloshirt, Segelschuhe und einen akkurat gestutzten Schnurrbart. | |
| Er ist Energiesparberater. Von 1976 bis 1992 war er in Quirra | |
| verantwortlich für die operativen Aktivitäten. „Sämtliche Raketenabschüsse | |
| müssen minutiös geplant werden, um sicherzugehen, dass die Bevölkerung | |
| nicht gefährdet wird.“ | |
| Carrusci sagt, dass auch die Rüstungsfirma MBB Waffen auf dem Poligono | |
| getestet habe. Heute gehört MBB zu EADS, der European Aeronautic Defence | |
| and Space Company, Europas zweitgrößtem Rüstungskonzern. Für die Bundeswehr | |
| entwickelte MBB seit 1962 die Kormoran, eine luftgestützte | |
| Antischiffsrakete. Anfang der Achtziger Jahre begannen die Tests für die | |
| Version „Kormoran 2“. | |
| „Geplant waren drei Raketenabschüsse“, erinnert sich Carrusci. Bei dem | |
| Briefing seien Ingenieure von MBB und vier Tornado-Piloten der deutschen | |
| Luftwaffe gewesen. Man habe die Durchschlagskraft der Raketen in ein | |
| stahlverstärktes Schiff analysieren wollen. Dafür feuerte ein | |
| Bundeswehr-Tornado die Rakete auf das Ziel, der zweite Kampfjet flog | |
| hinterher, um den Abschuss zu dokumentieren. | |
| ## Das abgeschossene Schiff ist jetzt verschwunden | |
| „Die Raketen hatten Gefechtsköpfe mit Uranmunition“, sagt Carrusci. Er habe | |
| das an der Rauchentwicklung der Explosion erkannt. Normalerweise sei der | |
| Rauch grau. Je heißer die Temperaturen, desto heller werde er jedoch. „Bei | |
| diesen zwei Abschüssen war der Rauch sehr weiß, es muss 2.000 bis 3.000 | |
| Grad heiß geworden sein.“ | |
| Temperaturen, die keine normale Rakete entwickeln kann. Der erste Versuch | |
| im Herbst 1988 sei fehlgeschlagen, die Rakete landete im Wasser. Die | |
| Einschlagstelle vierzig Kilometer weit im Meer vor Porto Corallo heißt | |
| seitdem „secca dei tedeschi“, „Untiefe der Deutschen“. | |
| Der zweite Versuch im Oktober 1989 habe besser geklappt. Die Rakete traf | |
| das Ziel. Das Schiff sei sichergestellt und die Rakete in der | |
| eingeschlagenen Position fixiert worden. Dann sei das Schiff in den Hafen | |
| von Cagliari geschleppt worden, in den militärisch abgesperrten Bereich. | |
| Dort verliert sich die Spur – Rakete und Schiff sind verschwunden. | |
| Eine Tatsache, die auch den Staatsanwalt beschäftigt. Doch mehr als zwanzig | |
| Jahre später ist es schwer, noch brauchbare Beweise zu finden. Deshalb hat | |
| Fiordalisi die deutsche Justiz um Amtshilfe gebeten. | |
| Es ist ein Morgen Ende Juni. Im historischen Ratssaal der Provinzregierung | |
| an der Piazza Palazzo in Cagliari, hat der italienische Naturschutzbund | |
| Legambiente eine Versammlung zum „Fall Quirra“ einberufen. An die sechzig | |
| Zuhörer sind gekommen. Bilder aus der sardischen Geschichte schmücken die | |
| Wände. | |
| ## Welches Spiel spielen die Lokalpolitiker? | |
| Bürgermeister, Wissenschaftler und Abgeordnete sollen die Bürger aufklären. | |
| Ist der Boden, das Wasser tatsächlich radioaktiv verseucht? Muss das | |
| Poligono geschlossen werden? | |
| Die Politiker weichen aus. Was ist Heuchelei, was Hilflosigkeit? Glaubt der | |
| Bürgermeister von Villaputzu wirklich, in einem halben Jahr könne das | |
| Poligono gesäubert sein? Weiß hier niemand, dass in Deutschland und den USA | |
| ähnliche Anlagen jahrzehntelang hinter Stacheldraht ruhen, bis man anfängt, | |
| über eine Nachnutzung nachzudenken? | |
| Im Publikum sitzt Mariella Cao auf einer Holzbank und ruft immer wieder | |
| dazwischen. „Cao, was willst du schon wieder“, antwortet jemand vom Podium. | |
| Man spürt in diesem historischen Ratssaal, was die Schwierigkeiten bei | |
| Domenico Fiordalisis Ermittlungen sind. Noch härter könnte es in | |
| Deutschland werden. | |
| Ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums sagt, man äußere sich | |
| nicht „zu angeblichen Ermittlungen einer ausländischen Behörde“. | |
| Der Konzern EADS bestätigt zwar, dass MBB die Kormoran-Raketen für die | |
| Bundeswehr entwickelt hat. Der Sprecher sagt aber: „Ich kann definitiv | |
| ausschließen, dass MBB beziehungsweise EADS jemals Uranmunition verwendet | |
| haben.“ Dann verweist er auf die Luftwaffe. | |
| ## Die Bundeswehr verweist auf das Verteidigungsministerium | |
| Nein, sagt der Sprecher des Presse- und Informationszentrums, man wolle | |
| sich nicht äußern. Nein, ein Besuch auf dem Luftwaffenstützpunkt | |
| Decimomannu auf Sardinien sei nicht möglich. Dann bleibt er in der Leitung. | |
| Man erzählt ihm ein wenig, was gerade so passiert auf der Insel. | |
| Der Sprecher schweigt, legt aber nicht auf. Ist er sicher, dass die | |
| Bundeswehr nicht von den Toten und Missbildungen rund um Quirra wisse? | |
| Schließlich sind ja deutsche Soldaten samt Familien dort stationiert. | |
| Damit, beschließt der Sprecher dann irgendwann doch das Gespräch, solle | |
| sich das Verteidigungsministerium beschäftigen. | |
| Im Büro von Domenico Fiordalisi ist es halb neun geworden. Das Abendlicht | |
| fällt immer milder durch die großen Fenster. Am besten, man behandle die | |
| Kormoran-Sache in Deutschland ganz nüchtern, sagt der Staatsanwalt. Das sei | |
| doch immer am wirkungsvollsten. | |
| Pitzente Bianco, 48, hat die Recherchen maßgeblich unterstützt. | |
| 22 Nov 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| M.-C. Bianco | |
| A. Waibel | |
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| Recherchefonds Ausland | |
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