# taz.de -- Das Ende der Gewalt: "Kaufen ist billiger als stehlen" | |
> Der kanadische Evolutionspsychologe Steven Pinker behauptet in seinem | |
> Buch "Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit": Die Gewalt in der | |
> Welt ist rückläufig. | |
Bild: "Der Rückgang an Morden lässt sich dem Erstarken von Staaten und Regier… | |
taz: Mr Pinker, in Ihrem Buch "Gewalt" vertreten Sie die These, dass die | |
Gewalt unter den Menschen über die Jahrhunderte insgesamt zurückgegangen | |
ist. Wie friedlich ist die Welt von heute im Vergleich zu früher? | |
Steven Pinker: Die Mordrate ist auf der Welt heute viel geringer als im | |
Mittelalter. In Europa lag sie im Mittelalter bei ungefähr 30 Morden auf | |
100.000 pro Jahr. Heute beträgt sie in den meisten westeuropäischen Ländern | |
1 auf 100.000 pro Jahr, was einem Rückgang um einen Faktor von etwa 30 | |
entspricht, während der Weltdurchschnitt bei etwa 7 liegt. Auf der ganzen | |
Welt geht es uns also im Durchschnitt besser als unseren Vorfahren. | |
Woran machen Sie das noch fest? | |
Die Zahlen der Kriegstoten sind heute auf ihrem tiefsten Stand seit dem | |
Zweiten Weltkrieg. Die Todesraten machen nur noch einen Bruchteil dessen | |
aus, was sie in den frühen Fünfzigern, den Sechzigern oder den Siebzigern | |
während des Vietnamkriegs betrugen. | |
Viele gewaltsame Einrichtungen, die jahrtausendelang zur Gesellschaft | |
gehörten, gibt es nicht mehr, zum Beispiel Tod durch Folterung oder die | |
Hinrichtung für Verbrechen ohne Opfer wie Blasphemie, üble Nachrede oder | |
Ketzerei. Sklaverei ist heute auf der ganzen Welt illegal, früher war sie | |
überall erlaubt. Und es gibt immer mehr Kategorien von Gewalt, gegen die | |
angegangen wird. | |
Als da wären? | |
Häusliche Gewalt - die während der letzten 40 Jahre zurückgegangen ist -, | |
die Prügelstrafe für Kinder - die im Westen rückläufig ist -, | |
Hassverbrechen gegen Homosexuelle, sogar das Tyrannisieren von Kindern auf | |
dem Spielplatz, was vermutlich die jüngste Gewaltkategorie ist, die man | |
jetzt bekämpft. Auf verschiedensten Ebenen - von Krieg über Mord bis zum | |
Verhauen von Kindern - hat es Fortschritte gegeben, die zu weniger Gewalt | |
geführt haben. | |
Was sind die Hauptursachen für diese Entwicklung? | |
Der Rückgang an Morden lässt sich dem Erstarken von Staaten und Regierungen | |
zuschreiben. Wenn es ein Justizsystem und eine Polizei mit Gewaltmonopol | |
gibt, können sie durch Bestrafung abschrecken. | |
Das bedeutet umgekehrt, dass Leute, wenn sie wissen, dass ihre potenziellen | |
Angreifer - und nicht bloß sie selbst - abgeschreckt sind, keinen | |
Präventivschlag zu planen brauchen, um sie zu "beseitigen", bevor die | |
anderen sie "beseitigen". Sie brauchen keine kriegerische Abwehrhaltung | |
mehr und müssen an niemandem mehr Rache nehmen, weil der Staat es für sie | |
tut. Das Erstarken der Regierungen war der Haupteinfluss, durch den die | |
individuelle Gewalt eingehegt wurde. | |
Welche Rolle hat die Kultur dabei gespielt? | |
Die Abschaffung von institutioneller Grausamkeit und Gewalt wurde durch die | |
Ideen im Zeitalter der Aufklärung vorangetrieben. Als die Menschen | |
gebildeter wurden, hörten sie auf, abergläubisch zu sein und an Dinge wie | |
Hexerei zu glauben. Sie begannen, die Perspektive anderer zu | |
berücksichtigen, indem sie Belletristik und journalistische oder | |
historische Texte lasen. Das machte es schwieriger, andere Leute zu | |
dämonisieren, erhöhte das Mitleid und reduzierte Grausamkeit und Sadismus. | |
Und wie sieht es mit der Ökonomie aus? | |
Eine dritte Einflussgröße ist die Verbreitung von Wirtschaft und Handel | |
durch Finanzinstrumente, die den Handel erleichterten, und durch | |
technologische Innovationen, mit denen sich Waren und Ideen einfacher | |
transferieren ließen. Ein Positivsummenspiel durch Wirtschaftskooperation | |
hat das Nullsummenspiel aus Plünderei und Kriegen ersetzt. Es wurde | |
billiger, Dinge zu kaufen, statt sie zu stehlen, und andere Menschen waren | |
lebend plötzlich wertvoller als tot. | |
Sie haben gerade die Wirtschaft und den Handel als einen begünstigenden | |
Faktor beim Rückgang von Gewalt erwähnt. Man könnte aber auch, wie es in | |
der Soziologie geschieht, bestimmte Marktmechanismen oder wirtschaftliche | |
Ausbeutung als "strukturelle Gewalt" bezeichnen. Warum spielen derlei | |
Fragestellungen für Sie keine Rolle? | |
Weil diese Soziologen verwirrt sind. | |
Alle? | |
Nur weil sie verwirrt sind, heißt das nicht, dass ich es auch sein muss. | |
Sie verwenden Gewalt als eine Metapher, um Dinge darunter zu fassen, die | |
sie für falsch halten. Sie wollen damit die allgemeine Ablehnung von Gewalt | |
mobilisieren, um sie gegen ökonomische Verhältnisse in Stellung zu bringen, | |
die ihnen nicht passen. Ich halte das für unscharfe Terminologie, die zwei | |
völlig verschiedene Phänomene zusammenwirft. | |
Das ist so, als wenn ich ein Krebsforscher wäre und Sie mich fragen würden, | |
warum ich mich nur auf körperliche Formen von Krebs konzentriere und nicht | |
auch die metaphorischen Erscheinungsformen von Krebs in der Gesellschaft | |
wie Korruption berücksichtige. Ist das nicht auch eine Form von Krebs? Ich | |
würde darauf antworten, dass Sie in Metaphern sprechen, und jeder, der sich | |
in seiner wissenschaftlichen Arbeit von Metaphern leiten lässt, ist | |
verwirrt und wird keinerlei Erkenntnisfortschritt erzielen. | |
Wie definieren Sie denn Gewalt? | |
So wie im Wörterbuch: die Anwendung von körperlicher Kraft, um jemanden zu | |
verletzen. Ich würde Mord, Vergewaltigung, Raub, Überfälle und Kidnapping | |
darunter fassen, unabhängig davon, ob sie von Individuen verübt werden oder | |
von Gruppen wie Milizen, Armeen oder Regierungen. | |
Um noch einmal auf den Rückgang bei Mord oder Kriegstoten zu sprechen zu | |
kommen: Sie haben die Entwicklungen über mehrere Jahrhunderte hinweg anhand | |
von Statistiken verglichen. Frühe Statistiken und Chroniken sind im | |
Gegensatz zu heutigen Erhebungen jedoch nicht zuverlässig. | |
Weniger zuverlässig. Doch die historischen Kriminologen, die diese Daten | |
zusammengetragen haben, haben eine Reihe von Überprüfungen vorgenommen, um | |
sicherzugehen, dass sie nicht völlig danebenliegen. | |
Welche? | |
Sie haben etwa die Tatumstände eines Mords heutigen Beobachtern präsentiert | |
und danach gefragt, ob sie dies als Unfall oder als Mord bezeichnen würden. | |
Im Allgemeinen haben zeitgenössische Beobachter die Fälle genauso beurteilt | |
wie die Leute damals. Man kann zudem diverse Konsistenzprüfungen vornehmen. | |
Wenn etwa die Zahlen für verschiedene Länder dem gleichen Muster folgen, | |
kann man zuversichtlich sein, dass man es nicht mit dem statistischen | |
Zufallsergebnis einer einzigen Datenquelle zu tun hat. | |
Und wenn die Zahlen dann auch noch mit den von Historikern gegebenen | |
Alltagsbeschreibungen jener Zeit übereinstimmen, stellt das eine weitere | |
Form von Konsistenzprüfung dar. Wir wissen außerdem aus künstlerischen | |
Darstellungen und zeitgenössischen Berichten, dass Gewalt im Mittelalter | |
zum Alltagsleben dazugehörte. Der Umstand, dass die Zahlen von damals viel | |
höher sind als heute, stimmt daher auch mit den erzählerischen | |
Darstellungen überein. | |
Apropos erzählerische Darstellungen: Eine der ersten Zahlen in Ihrem Buch | |
taucht im Zusammenhang mit der Bibel auf. Sie geben zunächst eine geraffte | |
Fassung der Handlung des Ersten Buchs Mose bis zur Schaffung von Adam und | |
Eva und der Geburt von Kain und Abel. Den Umstand, dass Abel von Kain | |
ermordet wird, interpretieren Sie dann bei einer Weltbevölkerung von vier | |
Menschen als eine Mordquote von 25 Prozent. | |
Das war natürlich ein Witz! | |
Erfüllt die Zahl noch einen weiteren Zweck? Immerhin nimmt die Darstellung | |
nicht wenig Raum ein. | |
Nein. Ich glaube nicht, dass es Adam, Eva, Kain oder Abel gegeben hat. Es | |
war ein Witz, der lediglich nahelegen sollte, wie verbreitet Gewalt in den | |
Erzählungen über die Welt damals war, als die Geschichte aufgeschrieben | |
wurde. | |
Zurück zu ihrer Buchthese: Welche Konsequenzen ziehen Sie aus dem Ergebnis, | |
dass die Gewalt abgenommen hat? | |
Zunächst einmal sind alle Weltbilder falsch, die unterstellen, dass die | |
Gewalt schlimmer geworden ist. Und davon gibt es eine Menge. Die Konsequenz | |
daraus ist, dass wir versuchen sollten zu verstehen, was die Gewalt | |
reduziert hat. Irgendetwas ist dafür verantwortlich, wir haben also | |
irgendetwas richtig gemacht. Es scheint mir daher geboten, herauszufinden, | |
was das ist, sodass wir die Sache in Zukunft noch verstärken können. | |
Im Übrigen ist jede Weltanschauung falsch, derzufolge alles, was in den | |
vergangenen 300 Jahren geschehen ist, ein schrecklicher Fehler war - die | |
Aufklärung, die wissenschaftliche Revolution, Demokratie und Kapitalismus. | |
Wenn die Angriffe auf diese modernen Begriffe auf der Annahme fußen, dass | |
wir gewalttätiger werden, dann sind sie verfehlt, sodass wir sie noch | |
einmal überdenken und die Entwicklungen der Moderne würdigen sollten. Denn | |
zusätzlich dazu, dass sie unser Leben länger und angenehmer machen, haben | |
sie unser Leben auch weniger gewalttätig gemacht. | |
30 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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Beraterin Regine Karrock. |