# taz.de -- Festival "Trans Musicales" in Rennes: Renitente Raver | |
> "Trans Musicales" - Nirvana oder Naughty By Nature traten hier erstmals | |
> in Europa auf. Das Festival ist eine Börse für junge Bands und DJs aus | |
> Frankreich und Übersee. | |
Bild: Melancholische Emphase: Sallie Ford. | |
Die Welt ist meine Auster. Zumindest, wenn es nach den Franzosen geht. Pro | |
Jahr schlürfen unsere Nachbarn im Westen durchschnittlich 1,75 Kilogramm | |
Austern. Dass beim Empfang für die Gäste des Musikfestivals "Trans | |
Musicales" in der bretonischen Stadt Rennes Austern gereicht werden, | |
versteht sich da von selbst. | |
Der Ertrag ganzer Austernbänke ist auf Eiswannen drapiert, und der | |
Bürgermeister und der Festivalleiter machen den Gästen vor, wie man das | |
labbrige Innere in die Gaumen gleiten lässt, als seien es Erdnussflips. | |
Savoir-vivre für alle. | |
Das Austern-Ambiente setzt sich bei den Veranstaltungsorten fort: Entweder | |
steigen die "Trans Musicales"-Konzerte in der verwinkelten, aus | |
Fachwerkbauten bestehenden Altstadt in nussschalenkleinen Bars oder in | |
brutalistischen Kongressbauten und Messehallen. Kulinarisch kann es | |
Jean-Louis Brossard allemal mit Dieter Kosslick aufnehmen. | |
Seit 1978 verantwortet Brossard zusammen mit seiner Frau Béatrice Macé, die | |
die finanziellen Geschicke regelt, das "Trans Musicales". Er lässt es sich | |
nicht nehmen, Künstler, die ihm am Herz liegen, persönlich anzusagen. Und | |
Brossard hat seit 33 Jahren einen Riecher für kommende Stars: Ob Gun Club | |
oder Nirvana, Naughty By Nature oder Deelite, ihre ersten Konzerte auf | |
europäischem Boden fanden jeweils in der Bretagne statt. | |
Man könnte sich Brossard und seine Frau auch auf einer Yacht vorstellen: | |
Ein properes Paar in den Sechzigern, selbstbewusst, verhandlungssicher, | |
aber ihr Herz schlägt für Popmusik. Und ihr Festival steigert längst den | |
Standortfaktor von Rennes. | |
Der starken Zuschauernachfrage wegen musste - auch dieses Jahr kommen | |
Zehntausende Zuschauer - ein Teil der Festivalveranstaltungen auf das | |
Expo-Gelände vor die Stadtgrenzen umziehen. Es hat die Größe eines | |
Flughafens, aber selbst dort gelingt es den Bretonen, zwischen Stellwänden, | |
Metallzäunen und Betontribünen ein Mindestmaß von Charme zu bewahren. | |
Mitten im größten Rave wird im Salon du Thé Pfefferminztee serviert, was | |
die renitenten bretonischen Raver für kurze Zeit beruhigt. In einer anderen | |
Halle erheischt eine Ausstellung mit Konzertfotografien der alten | |
"Transmusicales"-Jahrgänge, deren Abbildungen über den Eingang projiziert | |
werden, die Aufmerksamkeit der Masse. In Scharen ziehen die Bretonen von | |
Konzert zu Konzert. | |
## Headliner gibt es keine | |
Headliner gibt es übrigens nicht, wenn während dreier Tage und Nächte | |
durchgehend Bands und Künstler auftreten. Bis vor wenigen Jahren hatte es | |
Brossard nicht mal nötig, prominente Überraschungsgäste ins Programmheft | |
aufzunehmen: Plötzlich stand eine Beth Gibbons einfach auf der Bühne. | |
Dieses Jahr geht es darum, ob sich HipHop und Dubstep auf den großen Bühnen | |
durchsetzen könnten. Aus Seattle kommt das HipHop-Duo Shabazz Palaces, aus | |
London der Dubstep-Produzent Zomby. Und beide schaffen es nicht, ihre | |
tollen Debütalben live adäquat umzusetzen. | |
Shabazz Palaces fehlt es an Präsenz und Willen, die kopfstarken Raps | |
durchzuziehen. Und Zomby verbirgt sich hinter einer Maske und feuert die | |
Tracks von "Dedication" etwas zu schnell ab. Stimmung kommt erst auf, als | |
er Oldschool-Jungle untermischt und die Leute anfeuert. | |
Das "Trans Musicales" ist ein Publikumsfestival, zusätzlich trifft sich | |
hier alljährlich aber die französische Musikbranche, und | |
Konzertveranstalter und Booking-Agenten kommen aus ganz Europa, um den | |
Nachwuchs zu sondieren. | |
Allein aus Deutschland sind dieses Jahr um die 20 Tourveranstalter | |
angereist. Junge, wie die Berlinerin Annika Weyhrich, die gerade versucht, | |
eine Clubnacht in Berlin aus der Taufe zu heben. Und alte Hasen, wie | |
Berthold Seliger, der sich als Kulturvermittler bezeichnet und in Rennes | |
mit Bandmanagern über ausgedehnte Gastspiele verhandelt. | |
Beim "Trans Musicales" werden die Durchsetzungsmöglichkeiten junger | |
angloamerikanischer Künstler ausgelotet. Import/Export ist ein knallhartes | |
Geschäft. Damit keine Viehbörse entsteht, wird eine Menge getan. Namhafte | |
französische Musikjournalisten halten in der städtischen Bibliothek | |
Vorträge: Bei "Americana - Wiederentdeckung einer Kultur und Reise zu den | |
Quellen des Rock" ist der Saal ausverkauft. Auch, weil hinterher die junge | |
amerikanische Musikerin Sallie Ford spielt. | |
In ihrem Heimatland hat sie noch gar keine zusammenhängende Tour | |
absolviert, hier steht sie auf dem Sprung für eine Europatournee kommendes | |
Jahr. Ihr Debütalbum "Dirty Radio" weiß ganz genau, was es will: Der | |
Hinterwäldler-Charme von Rockabilly ist für Ford Basis eine | |
Verweigerungsgeste. Als Musikerin von der Westküste wirft sie auf | |
Rockabilly aus den Südstaaten den Blick einer Außenseiterin. | |
## Backfisch mit Haaren auf den Zähnen | |
In den Texten drückt sie etwa ihr Unbehagen über die aktuelle | |
Radiolandschaft aus, kokettiert ein bisschen mit ihrem Backfisch-Image, | |
singt aber mit reichlich Haaren auf den Zähnen. Ihre Musik würde auch in | |
die US-Fernsehserie "Madmen" passen. Im Unterschied zu den am Reißbrett | |
komponierten Brillbuilding-Pop der frühen Sechziger, wie er tatsächlich im | |
Abspann von "Madmen" läuft, ist die Musik von Sallie Ford aber noch durch | |
keine Instanz gegangen. | |
Künstlerische Freiheit ist heute für Musiker von kleinen Plattenfirmen | |
gewährleistet, professionalisiert hat sich die Vermarktungskette von Pop, | |
selbst im Independent-Bereich wird nichts dem Zufall überlassen. | |
Das kann man auch am "Trans Musicales" beobachten, wo jede französische | |
Newcomer-Band scheinbar von Visagisten beraten und mit einem | |
Up-to-date-Instrumentenpark ausgestattet ist. Man würde sich nicht wundern, | |
gäbe es bald auch Consultants für Bandnamen. In Rennes bekämen sie eine | |
Menge Arbeit. | |
Im Ubu, einem kleinen, nach Alfred Jarrys "Pere Ubu" benannten Saal des | |
bretonischen Nationaltheaters, spielen den Nachmittag über | |
Nachwuchskünstler. Darunter Juveniles, eine Band, die in der aktuellen | |
Ausgabe des renommierten französischen Popmagazins Les Inrocktibles | |
immerhin die Titelgeschichte hat: ein nichts sagender Bandname, aber drei | |
gut aussehende Jünglinge mit Oberlippenbärten und Poppertollen. Alles ist | |
stimmig - bis auf ihre Songs, die Discopunk- und New-Wave-Kälte kein Iota | |
Neues abgewinnen und trantütig vor sich hin schaukeln. | |
Auf dem Expogelände hat der Pariser Jugendradiosender Le Mouve einen | |
Sendecontainer errichtet und schleust auf einer kleinen Bühne im | |
Viertelstundentakt den Nachwuchs durch, bevor er vor das Mikrofon gezerrt | |
wird. Wieder fallen die entsetzlichen Bandnamen auf. Aber wenigstens haben | |
sie musikalisch Hummeln im Arsch. | |
Sie heißen Kim Novak oder 50 Miles from Vancouver, sind jeweils zu viert, | |
sehen gut aus, tragen Preppy-Klamotten und wollen ihren prominenten | |
Vorbildern Phoenix Ehre machen. Dazu müssten sie allerdings zum | |
Superphoenix werden. | |
Schmerzbefreiter, komischer und letztendlich exportfähiger sind | |
französische Dancefloor-Künstler. Etwa die beiden jungen DJs Don Rimini und | |
Baadman, die den Krawallsound von Ed Banger Records um einige Härtegrade | |
weiterführen und mit ein paar selbst gebrannten CDs und smart geklauten | |
Samples alter Italodiscohits die Bretonen in den Wahnsinn treiben. | |
6 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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