# taz.de -- "Empire"-Autor über Globalisierung: "Nicht alle linken Perspektive… | |
> Globalisierungskritiker Michael Hardt über Aufstände gegen Diktaturen, | |
> Bewegungen gegen den Finanzkapitalismus und Optimismus in einem Zyklus | |
> der Kämpfe. | |
Bild: Occupy-Demonstrant in London: Viele Menschen sehen die Politik unter dem … | |
sonntaz: Herr Hardt, die Europäische Union steht nun nicht mehr bloß vor | |
einer Währungs- und Finanzkrise, sondern auch vor einer politischen Krise. | |
Wie sehen Sie das, was gerade in der EU passiert, von den USA aus? | |
Michael Hardt: Die Regierungen tun so, als säßen wir alle auf der "Titanic" | |
und als hätten wir keine andere Chance, als das technokratische Diktat zu | |
befolgen. | |
Technokratie bedeutet, dass auch die repräsentative Demokratie in die Krise | |
geraten ist? | |
Ja. Aus der Perspektive der Bewegungen hingegen scheint das eine exzellente | |
Zeit für Aktivismus. | |
Viele Menschen sehen die Politik unter dem Diktat des Finanzkapitals. Die | |
Finanzwirtschaft wird oft als das schlechthin Böse imaginiert. | |
Es ist schon beinahe zu einem Klischee geworden, die fiktive Ökonomie in | |
Verteidigung einer realen Ökonomie zu kritisieren. Diese Trennung verkennt, | |
dass gegenwärtig die sogenannte Realökonomie bereits in großen Teilen aus | |
immaterieller Produktion besteht. Es ist falsch zu glauben, wir könnten | |
eine Realökonomie von einer fiktiven Ökonomie trennen und zu einem Typus | |
der Realökonomie aus der Mitte des 20. Jahrhunderts zurückkehren. So | |
funktioniert Kapitalismus nicht. Diese Unterscheidung ist illusorisch und | |
mystifizierend. | |
Inwiefern? | |
Sie unterstellt eine quasikriminelle Deformierung des Kapitalismus durch | |
das Finanzkapital. Aber der Zustand, zu dem man zurückkehren will, den gibt | |
es nicht mehr. | |
Einige linke Intellektuelle, etwa Slavoj Zizek, sprechen von einem Ende der | |
Ehe zwischen Kapitalismus und Demokratie. | |
Eine Sache, die mich an dem Zyklus der Kämpfe von 2011, sei es in Tunesien, | |
Ägypten, Spanien, Griechenland oder den USA, am meisten interessiert, ist | |
die Kritik an den gegenwärtigen Regierungen und das daraus resultierende | |
Verlangen nach wirklicher Demokratie. Als der Slogan "Wahre Demokratie | |
jetzt!" in der Bewegung des 15. Mai in Spanien erklang, schien das vielen | |
zunächst sehr naiv. Ich glaube, diese Naivität wurde gefördert durch den | |
Ruf nach Demokratie in Tunesien und Ägypten. Aber jetzt, im Laufe des | |
Jahres, stellt sich heraus, dass die Rehabilitierung des Demokratiekonzepts | |
und das Verlangen nach einer wirklichen Bewegung etwas Neues an dem | |
gegenwärtigen Zyklus der Kämpfe ist. | |
Sie sprechen von einem Zyklus der Kämpfe, das heißt, Sie vergleichen | |
Ägypten mit New York - eine antidiktatorische Revolte mit einem | |
metropolitanen Protest? | |
Natürlich sind die Voraussetzungen sehr unterschiedlich. Auf der einen | |
Seite. Auf der anderen Seite jedoch ist nicht zu leugnen, dass die | |
Demonstranten in Spanien und Griechenland sich immer wieder direkt auf das, | |
was sich auf dem Tahrirplatz ereignet hatte, bezogen haben. Von der Puerta | |
del Sol schaute man auf den Tahrirplatz, und bei Occupy Wall Street schaute | |
man auf die Puerta del Sol. Ich denke, dass trotz der sehr | |
unterschiedlichen sozialen, ökonomischen und politischen Voraussetzungen in | |
den jeweiligen Gesellschaften es einen echten Einschnitt entlang dieser | |
Kämpfe gibt. | |
Was ist das Neue an ihnen, was unterscheidet sie beispielsweise von der | |
bisherigen Antiglobalisierungsbewegung? | |
Die Anti- oder alternative Globalisierungsbewegung war nomadisch. Sie zog | |
von Ort zu Ort, zeigte sich in Seattle, Genua, Göteborg etc. Jetzt sehen | |
wir etwas völlig anderes. Die Occupy-Bewegung campiert, sie will sichtbar | |
sein und fordert die Plätze zurück. | |
Viele linke Kritiker sagen, die Leute bei Occupy demonstrierten für einen | |
saubereren und humanistischen Kapitalismus, aber nicht gegen ihn. | |
Ich glaube nicht, dass diese Kämpfe in der Art verallgemeinerbar sind. | |
Aber was hält sie dann im Innersten zusammen? | |
Was sie verbindet, ist die Kritik an sozialer Ungleichheit und an der | |
Schuldengesellschaft. Das Wichtigste jedoch ist ihre Kritik an | |
Repräsentation. Repräsentation verbindet und trennt gleichermaßen von der | |
Herrschaft. Sie schafft die Illusion einer Verbindung. Dagegen steht die | |
Forderung nach echter Demokratie. Die Kritik an der Repräsentation wurde in | |
der spanischen Bewegung des 15. Mai am deutlichsten, sie wurde von Occupy | |
Wall Street teilweise übernommen. | |
In nahezu allen europäischen Ländern gibt es starke rechte Bewegungen. | |
Immer größere Teile der Mittelschicht rutschen in Richtung Proletariat, und | |
in den Metropolen erleben wir eine Gentrifizierung auf der einen und eine | |
zunehmende Prekarisierung auf der anderen Seite. Ein Leichtes, dem | |
apokalyptischen Denken anheimzufallen. Woraus beziehen Sie den Optimismus | |
gegenüber der Entwicklung der Kämpfe? | |
Es stimmt sicher, dass sich in Europa mehr und mehr, beinahe so wie in den | |
USA, eine Aufteilung und Zementierung in Arm und Reich vollzieht. Die | |
soziale Ungleichheit wächst extrem. Optimistisch oder pessimistisch bin ich | |
jedoch immer nur bezogen auf den Stand der Kämpfe. Und dieses Jahr war in | |
dieser Hinsicht ein sehr inspirierendes Jahr. Es fällt mir schwer, | |
pessimistisch zu sein, wenn neue und wichtige Dinge passieren. Es kommt auf | |
den Standpunkt an. | |
Aufseiten der Rechten setzt man zunehmend auf antikapitalistische Parolen | |
gegen das internationalistische Kapital. Der gegenwärtige Kapitalismus | |
hingegen kann sich Rassismus kaum noch leisten, Mobilität und Offenheit | |
gehören zu den propagierten Eigenschaften. Auch viele Linke träumen noch | |
den Traum von einem nationalen Refugium. | |
Der Feind unseres Feindes ist nicht zwangsläufig unser Freund. Ich erinnere | |
mich an die Aussage eines Journalisten nach 9/11, der sagte: "Du bist gegen | |
die Wall Street, al-Qaida ist gegen die Wall Street, also bist du ein | |
Freund von al-Qaida." Nein, natürlich nicht. Es sollte uns zum Nachdenken | |
bringen, aber dass zwei einander opponente Standpunkte das Gleiche | |
kritisieren, schließt sich nun mal nicht natürlicherweise aus. Aber es gibt | |
so etwas wie einen linken Konservatismus. | |
Wie funktioniert er? | |
Nicht alle linken Perspektiven sind gut und progressiv. Aber das bedeutet | |
nur, dass wir umso mehr Kämpfe kämpfen müssen. Eine progressive oder gar | |
kommunistische Agenda muss nicht alles zurückweisen, was der Kapitalismus | |
produziert. Es gibt zwei Arten, Antikapitalist zu sein. Die eine ist die | |
des Boxers, sie besteht darin, alles abzulehnen. Die andere Art besteht | |
darin, sich nicht gänzlich außerhalb zu imaginieren. Marx selbst dachte, | |
dass vieles, was die kapitalistische Gesellschaft hervorbringt, dazu | |
benutzt werden kann, neue und bessere Gesellschaften zu etablieren. Darauf | |
bezieht sich auch die oft zitierte Passage aus dem Kommunistischen | |
Manifest, dass die Bourgeoisie ihre eigenen Totengräber schaffe. Aber es | |
ist mehr, auch bei Marx, der Kapitalismus schafft nicht nur seine eigenen | |
Totengräber, er schafft auch die Basis für eine neue, demokratischere | |
Gesellschaft. | |
Hat der Kapitalismus in diesem Sinne ein utopisches Potenzial? | |
So würde ich das nicht nennen. | |
Das klingt zu stark? | |
Der Kapitalismus beruht auf Ungleichheit und Ausbeutung. Aber vielleicht | |
gibt es eine Utopie, die aus der kapitalistischen Gesellschaft kommen kann. | |
So würde ich das sagen. | |
Jürgen Habermas sogenannte realistische Utopie besteht in der | |
Konstituierung eines Weltparlaments. | |
Mir geht es eher darum, einen Konstituierungsprozess wirklicher Demokratie | |
einzuleiten, die über die republikanische Figur der Repräsentation | |
hinausgeht. Die Frage ist, wie diese Miniaturexperimente, das Ausprobieren | |
von Demokratie auf den Plätzen in Madrid und anderswo, in die Gesellschaft | |
zu übertragen wären. | |
Wie kann ein solcher Konstituierungsprozess auf den Weg gebracht werden? | |
Die Krise manifestiert sich auch als gesellschaftliche in den Subjekten. | |
Wir müssen den Formen, in denen wir als Verschuldete, Mediatisierte oder | |
Repräsentierte subjektiviert sind, wirkliche Beziehungen entgegensetzen, | |
wirkliche Kommunikation und kollektive Intelligenz statt mediatisierter | |
Kommunikation ermöglichen und aus der Gemeinsamkeit eine Sicherheit gegen | |
die Mechanismen des Sicherheitsregimes gewinnen. | |
16 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Tania Martini | |
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