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# taz.de -- Europa-Dokumentarfilm "Abendland": Alles hängt mit allem zusammen
> Nikolaus Geyrhalters Film "Abendland" streift durch das nächtliche
> Europa, an vielen Sehenswürdigkeiten vorbei. Er ist stets auf dem Sprung
> zur nächsten Attraktion.
Bild: Ein Ausschuss im EU-Parlament: Szene aus "Abendland".
Wenn es Nacht wird, wächst im Abendland das Bedürfnis nach Sicherheit.
Bildtechnologisch gestützte Praktiken der Raumkontrolle kommen zum Einsatz,
die auch dann etwas sehen, wenn das menschliche Auge nicht mehr
durchblickt.
Nachtsichtgeräte scannen die slowakisch-ukrainische Grenzlinie nach
falschen Bewegungen ab. Am spanisch-marokkanischen Grenzzaun in Melilla
patrouilliert ein einsames Polizeiauto. Per Funk wird von einem ausgelösten
Alarm berichtet. Der Diensttuende reagiert eher apathisch. Er gehört zu
einem Mensch-Maschine-System, das das Außen draußen halten soll.
Innen ist in Nikolaus Geyrhalters Film "Abendland" gleichbedeutend mit
Europa. Die Liste der aufgesuchten Drehorte ergibt eine filmische
Kartografie, die Sobrance mit Hengeloo, Arnheim mit dem Wendland verbindet.
Innen ist zudem: das Europäische Parlament in Brüssel, das Münchner
Oktoberfest, ein reibungslos funktionierendes Krematorium in
Dresden-Tolkewitz, der scheußlich möblierte Big Sisters Erotik Club in
Prag, eine pompöse Papst-Performance in Rom, das Sky News Studio in
Langley. Innen ist aber auch: die dokumentarisch gemeinte Kamera von
Geyrhalter, die einen Außenblick simuliert.
## Überwachungsblick des Webcam-Regimes
Zumeist in starren Totalen, mit der ausgestellten Gewissheit eines ein für
alle Mal gefundenen Optimalstandortes der Beobachtung, zeigt diese Kamera
eine Nacht wie jede andere. Eine Normalnacht, in der Europäer zu früh
geboren werden und andere sterben. Die Neonatologie in Graz und ein
Seniorenheim in Berlin-Köpenick sind die Schauplätze dieser etwas
willkürlich eingeflochtenen Leben-als-Kreislauf-Metapher.
Konkreter wird es in Großbritannien. Migranten stehen hier am Fließband
einer Briefsortieranlage, die seltsamerweise darauf angewiesen scheint,
dass ihr eine menschliche Stimme zu jedem Versandgut das Land des
Adressaten vorspricht. In Tschechien wiederum wird im Überwachungsblick des
Webcam-Regimes mechanisch gevögelt.
Zwei Mal gibt die Geyrhalter-Kamera ihre gefühlte Überlegenheit auf und
stürzt sich entschlossen ins Gewimmel. Dann folgt sie mit offener
Perspektive einer Kellnerin durch eine besinnungslos saufende
Bierzeltgemeinde und bahnt sich den Weg durch eine schwitzende
Technomassenparty in Arnheim. Der Zuschauer kann in viele ziemlich
entgleiste Gesichter blicken und soll wohl angesichts dieser Schwundstufen
gelingender Vergemeinschaftung ganz nachdenklich werden. So derangiert und
irgendwie ahnungslos sieht der satte Okzident also am Vorabend seiner
Schuldenkrisen-Morgendämmerung aus.
## Kameras filmen Kameras
"Abendland" ist ein Montagefilm, der vorgibt, kritische Ansichten
miteinander in Beziehung zu setzen. Kameras, die Kameras filmen, kommen
sich oft medienskeptisch vor. Die konkrete Sinnhaftigkeit der einzelnen
Verknüpfung zu erkennen, wird komplett ins Feld der Rezeption delegiert.
Ich zeige doch nur, sagt uns dieser Film, mach mal selbst was draus, wenn
auf die Geburtsklinik eine sprachverwirrte Sitzung des Europäischen
Parlamentes folgt. Alles hängt mit allem zusammen, schon klar, die Frage
ist nur: Wie?
Je länger "Abendland" dauert, desto deutlicher zeichnet sich ab, dass hier
im Grunde nur motivisch an kritische Topoi wie "innere Sicherheit",
"Überwachungsstaat", "Ausbeutung", "kompensatorischer Hedonismus" etc.,
angedockt wird. Das ist wohlfeil, auch wenn es interessante Momente gibt.
Aufschlussreich ist in jedem Fall, dass "Abendland" unfreiwillig jenen
Punkt markiert, an dem eine progressive Grundrichtung des
Dokumentarfilmgenres ins Leere zu laufen beginnt.
Die Zurückweisung von Erklärungsprothesen (Voice-Over-Einsatz,
zurechtgeskriptete "Protagonisten"), die Überzeugung, dass Zeigen über
Erklären geht, verwandeln sich hier tendenziell in pittoreske Beliebigkeit,
die wenig mehr als den eigenen Gestus dokumentiert. Die prinzipiell ja
nicht unbegründete Sorge vor einer didaktischen Überformung komplexer
Wirklichkeiten, schlägt hier in schön säuberlich kadrierte Doppelung
vorgefundener Oberflächenrealität um.
Heraus kommt eine touristische Kritik, die an vielen Sehenswürdigkeiten
vorbeikommt, dann aber lieber zur nächsten Attraktion weiterreist, statt
sich zum Beispiel die Schweizer "Rückführungspraxis" für abgelehnte
Asylfälle etwas genauer anzusehen. Mal wieder typisch selbstgefälliges
Abendland: Zu wenig Zeit für zu wenig teilnehmende Beobachtungen.
"Abendland". Regie: Nikolaus Geyrhalter. Dokumentarfilm, Österreich 2011,
94 Min.
22 Dec 2011
## AUTOREN
Simon Rothöhler
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