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# taz.de -- Identität im Internet: Eingefangene Lebewesen
> Das Internet wird als weit verzweigt, dezentriert und deterritorialisiert
> beschrieben. Bei näherer Betrachtung kehren sich die positiven
> Eigenschaften ins Gegenteil um.
Bild: Auf Affirmation getrimmte Netzsubjekte?
Bis heute ist es in manchen Milieus gängig, dem Internet oder den darin
sich entspinnenden sozialen Netzwerken utopische Eigenschaften
zuzuschreiben. Gewöhnlich beschreibt man das Netz dann als weit verzweigt,
dezentriert und deterritorialisiert - womit ein antihierarchischer und
demokratischer Aspekt des Internets betont werden soll.
Das ist aber nicht nur deshalb unsinnig, weil Kommunikationsmedien
möglichst hinsichtlich ihrer Funktionstüchtigkeit und -logik und nicht
ihrer utopischen Qualitäten betrachtet werden sollten. Auch sieht man den
Aspekt der vorgeblich dezentralen Verwurzelung tagtäglich in der eigenen
Praxis widerlegt: Wir rufen in der Regel immer die gleiche Suchmaschine
auf. Um zu erfahren, was die Freunde vorgeben zu tun, loggen wir uns immer
in dasselbe soziale Netzwerk ein.
Längst haben sich Hauptverkehrsstraßen im Netz etabliert. Der
Medienkünstler und -wissenschaftler Aras Özgün spricht von einer
"Haussmanisierung" des Internets: soziale Netzwerke als Boulevards - ganz
so, wie sie der oberste Stadtplaner von Paris, Georges-Eugène Haussmann im
19. Jahrhundert zur Kontrolle der Massen entwarf.
Es ist erstaunlich, wie hartnäckig sich positive Assoziationen an das
Netzwerk knüpfen. Wir erinnern uns: Mit Netzen lassen sich Lebewesen
einfangen. Trotzdem spricht man emphatisch von Netzwerken, um das Offene an
sozialen, geschäftlichen und kulturellen Beziehungen zu beschreiben. Auch
in der Kunstwelt bediene man sich der Metapher des Netzwerks, sagt der
Kunstsoziologe Ulf Wuggering.
## Eine Verschleierung
In einem Interview mit Pascal Jurt in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift
Springerin. Hefte für Gegenwartskunst erklärt Wuggering, dass dies aufgrund
der geläufigen positiven Konnotationen des Begriffs nicht selten als
Verschleierung harter ökonomischer Bandagen geschehe: "Das künstlerische
Feld weist eine feudale Struktur auf und nicht die eines entfeudalisierten
Netzes", denn die Inklusion von KünstlerInnen werde durch Gatekeepers
streng kontrolliert.
Das Titelthema von Springerin lautet "Ware Freundschaft", womit die
Stoßrichtung schon angedeutet ist: eine Kritik an virtuellen und realen
sozialen Beziehungen. Die Beiträge erfreuen durch ihre Distanz zur
geläufigen Idiotie, die eine Kritik an sozialen Netzwerken auf das Ende der
Freundschaft, wie wir sie kannten, reduziert.
Im Mittelpunkt eines weiteren Interviews, in dem Vera Tollmann mit dem
Philosophen Byung Chul Han spricht, steht der Begriff der Positivität. Han
schreibt der Positivität einen hegemonialen Status in unserer gegenwärtigen
Gesellschaft zu und sieht sie im "I like"-Button auf Facebook
institutionalisiert: Wenn man als User allein die Möglichkeit habe, sich
affirmativ zur Welt in Beziehung zu setzen, komme es zu einem Verlust an
Negativität - der virtuelle Raum werde zur "Hölle des Gleichen". Weder
Freundschaft noch Freundlichkeit seien so möglich, da beides die Erfahrung
von Differenz voraussetze.
Auch Jan Verwoert nähert sich dem Thema ungewohnt und bürstet die gängige
Argumentation gegen den Strich: Für ihn sind weniger die wahren Werte
bedroht als vielmehr die "falschen". Er vermisst die "halbtransparenten
Formen von Kommunikation", etwa jene Art von Lüge, wie man sie aus der
Diplomatie kennt. Die vorherrschende Doktrin der Transparenz etwa von
WikiLeaks schade mit ihren ins Offene gezerrten Dokumenten vor allem der
Diplomatie, die für eine "die unauflöslichen Widersprüche des Sozialen
sensibilisierte Form des politischen Austauschs" stehe.
Dass auch das Individuum dem Diktum der Transparenz unterworfen ist, zeigt
Alessandro Ludovico. Wie die Vorliebe moderner Architekten für Glas, die
Lust der Modedesigner an transparenten Geweben, so eifere auch das Selbst
der Transparenz nach. Ob der Sichtbarkeit seiner Vorlieben unternehme das
"aufgewertete Selbst" permanent Updates, was zu einer Erosion von Identität
in sozialen Netzwerken führe.
27 Dec 2011
## AUTOREN
Philipp Goll
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