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# taz.de -- Wellness statt Eisbaden: Selbstkasteiung ist Nazikram
> Gerade zu Beginn des Jahres quälen sich die Menschen gern mit eiskaltem
> Wasser, Sport oder Darmspülungen. Haben die einen Sockenschuss?!?
Bild: Grenzt an Selbstmord: Sprung ins Eiswasser.
Mögen Hunde auch am meisten unter dem Silvesterfeuerwerk gelitten haben -
noch schlimmer dran sind die inneren Schweinehunde, die zu Beginn des neuen
Jahres massenhaft bekämpft und misshandelt werden. So sieht man schon zu
Neujahr an windumtosten deutschen Stränden zumeist ältere Damen und Herren
sich entkleiden, um sich in eiskalte Fluten zu stürzen. Sie nennen sich
Eis- oder Winterbader. Und haben womöglich einen Sockenschuss?
Solche Gedanken kreisen zumindest im Kopf, wenn man sich zu Jahresbeginn an
einen Ort begibt, der so weit von einer Eisbadestelle entfernt liegt wie
der Nord- vom Südpol: in einen windelweich-lauen Whirlpool in einer
Schwulensauna.
Hoh, hoh: warme Brüder! Sitzen alle still im Becken, haben die letzten Tage
durchgefeiert und blicken trotzdem noch wie auf Beute lauernde Krokodile -
die Schwulensauna ist schließlich nicht nur zum Saunieren da.
##
Vielmehr bietet sie eine Infrastruktur, die allen körperlich-menschlichen
Bedürfnissen entspricht: Es gibt Aufgüsse mit Sliwowitz, eine
Darkroom-Dampfsauna, Orgienräume und Kämmerchen, Raucher-Lounge, Bier und
Pizza. Hier an diesem Ort hat es der innere Schweinehund so richtig gut.
Auslauf hat er, gestreichelt wird er! Dies ist ein Ort, der Gesundheit
durch Schwitzen befördert und zugleich dem Lustvollen gewidmet ist.
Wellness im besten Sinne also.
Zugegeben: Auch hier gibt es genügend Menschen, die ansprechend danach
aussehen, als hätten sie sich viel gequält in letzter Zeit. Trizeps, Bizeps
und so weiter. Durch Abwesenheit glänzt aber jene gezielt asexuelle, vor
Reinheit und Gesundheit strotzende Atmosphäre, die man ansonsten in
öffentlich zugänglichen Nassbereichen antrifft.
Asketische Leiber, die mit ernster Miene Ganzheitlichkeit verkörpern - und
einen Aufenthalt in der Sauna nur als Nachgang zu einer vorhergehenden
Anstrengung denken wollen, sei sie beruflicher oder sportlicher Natur.
Wellness? Hah, hah: ist was für Weicheier, Versager und natürlich
Warmduscher.
Solche Menschen also, die ihren inneren Schweinehund nicht im Griff haben.
Dieser Schweinehund ist eine Allegorie der Willensschwäche. Er verkörpert
mit kalter Schnauze das schlechte Gewissen, nicht gegen die eigenen
Widerstände angekommen zu sein, und ist das deutsche Synonym für das
beliebt gewordene Fremdwort Prokrastination.
## Mit Schweinehund bis Stalingrad
Der innere Schweinehund, er ist nicht übersetzbar. Im Gegenteil ist er so
deutsch, dass man mit ihm locker bis nach Stalingrad marschieren kann: Er
gehörte zum Standardvokabular des Landsers und wurde nach dem Zweiten
Weltkrieg von Turnlehrern im deutschen Sprachgedächtnis erhalten, die auch
an Begriffen wie "Stahl im Bauch" Gefallen fanden und ihre Schüler auf
späteren Handgranatenweitwurf vorbereiteten.
Hey, hey: Wer es von Neujahr bis zum Zeitpunkt der Lektüre dieses Artikels
noch nicht zum Joggen, Gewichtestemmen oder sonstigem Sporteln im neuen
Jahr gebracht hat, kann sich jetzt erst mal entspannt zurücklehnen:
Disziplinierte Kasteiung zu Jahresbeginn ist Nazikram!
Trotzdem ein schlechtes Gewissen? Da wird es dann religiös. Der
rheinisch-lebenslustige Manfred Lütz, Chefarzt eines psychiatrischen
Krankenhauses sowie gelernter Theologe, geißelte schon vor Jahren in seinem
Werk "Lebenslust - Wider die Diätsadisten, den Gesundheitswahn und den
Fitnesskult" die "Gesundheitsreligion" unserer Tage: "Über Jesus Christus
kann man die albernsten Scherze machen, doch bei der Gesundheit, da hört
der Spaß auf."
## Selbstmordversuch im Eiswasser
Ist sie doch das Wichtigste! Und nachdem genau dieser Gemeinplatz zu Anfang
des Jahres mit Millionen SMS ("Gesundes neues!") in die Hirne von entweder
betrunkenen oder verkaterten Menschen penetriert wurde, marschierte sofort
das Heer der Flagellanten los. Eisbader, Jogger in Neoprenanzügen,
Bahnenzieher, Liegestützler. Hinzu kommen die Darmspüler, Heilfaster,
Abstinenzler und Detox-Fetischisten. Am Anfang des Jahres soll der Mensch
um Gottes willen nicht ruhen!
Aber warum denn eigentlich nicht? War das letzte Jahr nicht anstrengend
genug?
Anstatt sich mit einem Sprung ins Eiswasser fast umzubringen, wäre eine
gepflegte Langzeithypothermie sinnvoller, aber leider nicht möglich. Dieser
"Winterschlaf" für Menschen wird nur bei Notfallpatienten nach einem
Herz-Kreislauf-Stillstand empfohlen.
Die Körpertemperatur wird um 5 Grad gesenkt, allerdings höchstens 24
Stunden lang. Dabei wäre der Winterschlaf für Menschen im Zeitraum zwischen
Januar (spätestens) und März schlicht genial: Ähnlich der Zeitumstellung
würde er helfen, Unmengen von Energie zu sparen - sowohl individuell als
auch global. Schließlich ist verbissene Verbrennung von menschlichem Fett
im Namen der Gesundheit ein ziemlicher CO2-Produzent, also Klimakiller.
Okay, okay: Stundenlang im Whirlpool herumsitzen auch. Und jetzt steigt
auch noch ein Herr dazu, dessen innere Schweinehunde offenbar so viel
Auslauf haben, dass das Becken überzulaufen droht. Zeit für eine Dusche.
7 Jan 2012
## AUTOREN
Martin Reichert
Martin Reichert
## TAGS
Leben mit Behinderung
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