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# taz.de -- Kolumne Der Notfall: Navigieren leicht gemacht
> In Gottes Hand: Bald darf ich mit einem Motorboot übers Meer fahren,
> obwohl ich es nur auf dem Neckar lernte.
Heute Abend werde ich wieder im Hörsaal 1 sitzen, meinen Schreibblock auf
dem Klapptisch liegend, und der Mann an der Tafel wird wilde Kreise malen
und mit dem Projektor merkwürdige Zeichen an die Wand werfen: Fast zwanzig
Jahre ist es her, dass ich zuletzt an der Uni saß. Aber wer in Tübingen den
"Sportbootführerschein See" machen möchte, der macht das in der
Universitätsstadt selbstredend an der Alma Mater. So sitzen rund vierzig
Personen in der Neuen Aula und hören Vorlesungen mit so interessanten
Titeln wie "Bestimmung des Schiffsortes", "Verfahren zur Erstellung einer
Ablenkungstabelle" oder auch nur: "Peilung".
Bald naht der Termin der theoretischen Führerscheinprüfung und ich träume
wieder die alten Träume, dass ich durchfallen werde. Immerhin kann ich
schon auf einer Seekarte die Untiefen von tiefer See unterscheiden.
Tiefenlinien, so steht es in meinem Lehrbuch der Navigation, "sind Orte
gleicher Wassertiefe". Den Felsen, den die Costa Concordia rammte, kann man
allerdings sogar bei Google Earth aus der Luft erkennen. Ich weiß nicht, wo
Kapitän Francesco Schettino die theoretische Ausbildung zu seinem
Sportbootführerschein machte. In Tübingen kann es nicht gewesen sein.
Was mir viel mehr Kopfzerbrechen macht als der näher rückende
Prüfungstermin in "Theorie", ist die praktische Seite meiner Ausbildung.
Sie findet auf dem Neckar statt. Ich darf also bald mit einem richtigen
Motorboot über die Weltmeere fahren, obwohl ich möglicherweise das Meer
davor noch gar nie gesehen habe. Man muss lediglich fünf Doppelstunden auf
dem Neckar schippern und anschließend die Übung "Mann über Bord" fehlerfrei
absolvieren, dann ist man Hochseekapitän. So sind sie, die Schwaben, dachte
ich: In ihrer grenzenlosen Selbstüberschätzung ("wir können alles außer
Hochdeutsch") halten sie sogar ihren größten Fluss für das Meer.
Immerhin das Boot zum Führerschein habe ich schon. Ich hatte es im
vergangenen Jahr in einer lauen Herbstnacht nach einer Flasche Chianti sehr
günstig bei Ebay ersteigert. In der Kajüte fand ich neben anderem Geraffel
noch eine Leuchtrakete für den Seenotfall, die ich an Silvester zündete, um
mir und meinen Nachbarn damit eine kleine Freude zu machen. Laut Aufschrift
sollte die abgeschossene Rakete an einem Fallschirm zurück zur Erde sinken
und dabei 40 Sekunden lang ein grelles, rotes Magnesiumlicht verstrahlen.
Mit einem lauten Knall flog sie auch tatsächlich in den Tübinger
Nachthimmel, nur ein Licht war nirgendwo zu sehen.
Auf dem Meer, dachte ich, ist man verdammt alleine und in Gottes Hand.
In einer der letzten Vorlesungen, ich glaube, es ging um "Peilung", war ich
nach einem harten Arbeitstag in der Bank eingeschlafen. Als ich aufwachte,
hörte ich den Begriffe "Magnetkompassfehlweisung", der mir sofort wieder
einfiel, als ich jetzt die Bilder der "Costa Concordia" sah. Fehlweisung -
Fehlzündung der Notfallrakete - Mann über Bord auf den Neckar … irgendwie
ist mir die Vorfreude darauf, dass ich demnächst mit meinem Boot von
Grosseto aus in Richtung Giglio in See stechen wollte, etwas
abhandengekommen.
18 Jan 2012
## AUTOREN
Philipp Mausshardt
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