# taz.de -- Europäische Vorgaben: Gift für die Kitas | |
> Verschärfte EU-Auflagen schränken Bauprojekte in der Umgebung von | |
> Industriebetrieben ein. Erstes Opfer: eine Kreuzberger Kita. Heute | |
> diskutiert darüber das Bezirksparlament. | |
Bild: Auch Kita-Bauprojekte sind bedroht | |
Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs bedroht Bauprojekte an 33 | |
Standorten in Berlin. Hintergrund sind verschärfte Auflagen der | |
Europäischen Union (EU) für Tank- und Gaslager, Galvanikbetriebe und | |
Feuerungsanlagen. In deren Umkreis unterliegen Genehmigungen besonders | |
strengen Regeln. Erstes Opfer der Regelung: eine geplante Kindertagesstätte | |
in Kreuzberg. | |
24 Plätze sollte die neu gegründete und frisch renovierte Kita in der | |
Schönleinstraße haben. "Alles war von der Kita-Aufsicht abgesegnet", | |
berichtet Annika Mrosko, eine Erzieherin aus dem Vorstand der | |
Elterninitiativ-Kita. "Auch wurde uns vom Bezirksamt deutlich signalisiert, | |
dass die Genehmigung kein Problem sei." Doch dann legte das Urteil des | |
Europäischen Gerichtshofs vom 15. September 2011 zur Handhabung von | |
Immissionsschutzauflagen "alles auf Eis", so Mrosko. Erst sei die | |
Initiative immer wieder mündlich vertröstet worden. "Nun heißt es, es gibt | |
keine Erlaubnis für eine Kita an diesem Standort." | |
Grund ist ein Galvanikbetrieb - eine Firma, die Metalle beschichtet und | |
veredelt - in der Boppstraße, knapp 200 Meter Luftlinie entfernt. Der | |
Betrieb unterliegt der sogenannten Seveso-II-Richtlinie. Der Name Seveso | |
erinnert an ein schweres Chemieunglück 1976 in der Nähe von Mailand, die | |
europaweit geltende Richtlinie setzt Normen "zur Verhütung schwerer | |
Betriebsunfälle mit gefährlichen Stoffen und zur Begrenzung der | |
Unfallfolgen". | |
In dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs wird nun festgeschrieben, dass | |
der Schutz vor Schadstoffen nicht nur bei großflächigen Neubauplänen, | |
sondern bei jeder einzelnen Baugenehmigung zu berücksichtigen ist. Darunter | |
fällt auch ein Umnutzungsantrag etwa für eine Kita, einen einzelnen Neubau | |
oder einen Dachbodenausbau. (EuGH, Urteil vom 15.09.2011 - C -53/2010) | |
Direkt neben dem Galvanikbetrieb in der Boppstraße befinden sich bereits | |
mehrere Kitas, vor dem Haus ist ein großer Spielplatz. Diese Einrichtungen | |
hätten keine Probleme, weil für sie Bestandsschutz gelte, so Mrosko - | |
anders als für ihre neue Kita. Franz Schulz (Grüne), Bezirksbürgermeister | |
von Friedrichshain-Kreuzberg, würde die Kita sofort erlauben: "Aber die | |
immissionsrechtliche Prüfung durch die Umweltbehörden des Senats war | |
negativ." In einem Radius von 150 bis 250 Metern müsse nun bei allen | |
Bauanträgen oder Umwidmungen, insbesondere bei solchen sensiblen | |
Einrichtungen wie Kitas, eine Einzelfallabwägung vorgenommen werden. | |
## Dramatische Folgen | |
Schulz befürchtet, dass der Bescheid der Senatsverwaltung faktisch einen | |
Baustopp an 33 Orten in der Stadt mit einem Radius von bis zu 250 Metern | |
bedeutet, weil "erst mal alles nicht zulässig ist". Was dies für die | |
Menschen einer Großstadt und ihre Wirtschaft bedeutet, möchte er gar nicht | |
ausmalen | |
Für Paula Riester, Sprecherin der Grünen in der Kreuzberger | |
Bezirksverordnetenversammlung (BVV), lässt der Europäische Gerichtshof | |
allerdings "vieles im Unklaren". So spreche das Urteil nicht von einem | |
Verbot, vielmehr betone es auch "sozioökonomische Faktoren", die bei jeder | |
Einzelfallprüfung berücksichtigt werden können. Bürgermeister Schulz findet | |
deshalb die Stellungnahme der Senatsverwaltung zur Kita in der | |
Schönleinstraße "nicht sachgerecht", da sie keine Abwägung vornehme. Er | |
fordert eine Stellungnahme der Umweltverwaltung, "in der klar definiert | |
wird, welche Faktoren mit welcher Gewichtung berücksichtigt werden und mit | |
der alle zwölf Bezirke arbeiten können". | |
Genau andersherum sieht es die zuständige Senatsverwaltung für | |
Stadtentwicklung und Umweltschutz. Deren Sprecherin, Petra Roland, betonte | |
gegenüber der taz, dass für Baugenehmigungen generell der Bezirk zuständig | |
sei. Ihre Verwaltung habe dem Bezirk nur bestätigt, dass das "Gebot der | |
Achtungsabstände anzuwenden ist". Gegebenenfalls müsse ein Gutachten dazu | |
erstellt werden. Für Roland hat ihre Verwaltung lediglich "Vorsicht!" | |
gesagt, die Entscheidung über den Bauantrag sei "ergebnisoffen", und der | |
Bezirk könne die Kita, wenn er wolle, genehmigen. | |
Wegen dieser widersprüchlichen Aussagen fühlen sich die Eltern der Kita | |
zwischen den verschiedenen Behörden zerrieben. Annika Mrosko will "endlich | |
die ursprünglich zugesagte Genehmigung für ihre dringend benötigte Kita | |
oder einen schriftlichen Bescheid, gegen den man vorgehen kann und aus dem | |
endlich klar wird, wer zuständig ist". Am heutigen Mittwoch werden die Kita | |
und Seveso II eines der Themen in der BVV Friedrichshain-Kreuzberg sein. | |
24 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Christoph Villinger | |
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