| # taz.de -- Aus "Le Monde diplomatique": Suez, Stadt des Widerstands | |
| > Auch in Suez kam es nach den Toten von Port Said zu Protesten gegen den | |
| > Militärrat. Die Hafenstadt ist bekannt für ihre Kultur des Widerstands. | |
| Bild: Das Militär ist überall. | |
| Wir sitzen in einem Café direkt neben der Einmündung des Suezkanals ins | |
| Rote Meer. Nicht weit entfernt, auf einer Landspitze, sieht man die Lichter | |
| der Raffinerien funkeln. "Ich bin zwar gegen einen islamischen Staat", sagt | |
| Ghehareb Saqr. "Aber mir sind die demokratisch gewählten Muslimbrüder | |
| lieber als die Fortdauer des Militärregimes." Saqr ist beim | |
| Textilunternehmen Misr Iran für die Klimatisierung der Fabrikationsanlagen | |
| zuständig. Und er ist Kommunist. Gerade haben die Arbeiter bei Misr Iran | |
| nach drei Wochen Streik eine zehnprozentige Lohnerhöhung erstritten. | |
| Ahmed Mahmud wurde erst vor Kurzem nach drei Jahren Haft aus dem Gefängnis | |
| entlassen. Bei den Parlamentswahlen ist er der Spitzenkandidat der | |
| Muslimbrüder in Suez. Er trägt einen modischen italienischen Anzug, als er | |
| zu seinen jugendlichen Anhängern spricht. Was er sagt, klingt wie ein Echo | |
| des Kommunisten Saqr: "Ich ziehe demokratisch gewählte Kommunisten der | |
| Aufrechterhaltung des Militärregimes vor. Die Armee muss der Regierung | |
| unterstehen." | |
| Auf die Frage nach dem Wiederaufleben der Proteste seit dem 19. November | |
| bekräftigt der Sechzigjährige die Position, die seine Partei "Freiheit und | |
| Gerechtigkeit" vertritt: "Ich unterstütze die Forderungen der Demonstranten | |
| und verurteile die Menschenrechtsverletzungen, auch wenn ich nicht zur | |
| erneuten Besetzung des Platzes aufrufe. Man muss den Druck auf das | |
| Militärregime aufrechterhalten." | |
| Zu den Streiks hat der „Bruder“ eine eindeutigere Meinung: „Jetzt ist nic… | |
| der beste Moment, weil die Wirtschaft 6,6 Milliarden Dollar verloren hat. | |
| Aber die Forderungen der Arbeiter sind legitim.“ Das wollen die umstehenden | |
| Aktivisten nicht gelten lassen: „Wer für einen Hungerlohn arbeitet, kann | |
| nicht warten.“ Und was sagt Mahmud zur künftigen Verfassung? „Sie muss alle | |
| Ägypter einbeziehen. Wir wollen die breitestmögliche Koalition bilden, | |
| einschließlich der Christen.“ Man fragt sich, ob es echter Wille zum | |
| Kompromiss oder reiner Opportunismus ist. In jedem Fall ist sich Mahmud in | |
| zwei Punkten mit den Kommunisten einig: Er befürwortet den Bruch mit dem | |
| Obersten Militärrat und die Anerkennung der demokratischen Spielregeln. | |
| ## Die Kandidatin wird als Blume abgebildet | |
| Die Hauptverkehrsstraße in Suez ist die „Straße der Armee“. Sie verbindet | |
| das alte Kolonialviertel in Port Taufiq (1) mit dem Arbain-Platz, der | |
| sozusagen der Tahrirplatz von Port Said ist. Der Wahlkampf ist in vollem | |
| Gang; zwischen den Laternen, Palmen und Strommasten hängen Spruchbänder. | |
| Unter den Vordächern halten die Kandidaten ihre Versammlungen ab. Die | |
| Salafisten und die felul (2) plakatieren Farbfotos ihrer Kandidaten: Mit | |
| einer Ausnahme: Das Porträt der einzigen Frau, die auf der Salafisten-Liste | |
| steht – das Gesetz schreibt mindestens eine Kandidatin vor – ist durch eine | |
| Blume ersetzt. | |
| In Suez bemühten sich 109 Kandidaten um zwei Direktmandate, und 12 Parteien | |
| um vier weitere Sitze. Den Wahlkampf bestritten alle Parteien mit ihren | |
| Listensymbolen: die Muslimbrüder mit der Waage, die salafistische | |
| An-Nour-Partei („das Licht“) mit der fanus (eine Art Ramadan-Laterne); | |
| andere mit einem Mobiltelefon, einem Haus oder einer Wasserflasche. Die | |
| drei islamistischen Parteien erhielten am Ende 78 Prozent der Stimmen, die | |
| vier liberalen Parteien 14 Prozent, die vier Felul-Kandidaten 7 Prozent und | |
| die Nasseristen weniger als 0,1 Prozent. Die Islamisten konnten in Suez | |
| insgesamt also mit vier oder fünf Sitzen rechnen. Von den aus der | |
| Revolution hervorgegangenen Parteien haben es damit nur die Islamisten | |
| geschafft, sich gesellschaftlich zu verankern. Und die älteren | |
| Organisationen sind in den Augen vieler Ägypter ohnehin diskreditiert. Die | |
| politische Linke hat es schwer, sich in der Konkurrenz mit den anderen | |
| politischen Lagern zu behaupten. Sie konnte sich gegen die Rechte kaum | |
| profilieren, weil sich die Programme zu sehr ähneln. | |
| ## Der Taxifahrer unterstützt die Jungen | |
| „Die Leute stimmen für Personen, nicht für Parteien“, erklärt Nahed Marz… | |
| eine von lediglich vier weiblichen Kandidaten, die in Suez antraten. Marzuq | |
| steht der Sozialistischen Volksallianz nahe, die im politischen Spektrum | |
| weit links angesiedelt ist, sie selbst sieht sich aber als Unabhängige. Der | |
| Schlüssel zum Wahlerfolg liegt in einem „ehrwürdigen“ Namen: Um die | |
| Menschen zu überzeugen, die gleichzeitig revolutionär und konservativ sind, | |
| der Arbeitertradition wie dem Islam verhaftet sind, sollte man am besten | |
| aus einer geachteten Familie aus dem Viertel kommen. Von den Frauen und | |
| jungen Leuten, die sich in der Revolution profiliert haben, sind nur wenige | |
| zur Wahl angetreten. Ein alter Taxifahrer meint trotzdem: „Ich wähle die | |
| Jungen, weil nur sie uns vor der Rückkehr des alten Systems bewahren | |
| können!“ | |
| Es gibt zwei entscheidende Trennlinien. Die erste verläuft zwischen den | |
| Felul und den Anhängern der Revolution, zu denen auch die gehören, die | |
| nicht selbst auf die Straße gegangen sind. Ein junger Kandidat der | |
| Nasseristen meint: „Die Felul und die Muslimbrüder verfolgen dieselbe | |
| Politik. Sie sind konservativ und kapitalistisch.“ Die zweite Linie trennt | |
| die Islamisten von allen anderen Gruppierungen. Zwar stellt niemand den 2. | |
| Verfassungsartikel infrage, der die Scharia zur Hauptquelle der | |
| Gesetzgebung bestimmt, aber die Salafisten gehen einen Schritt weiter. „Sie | |
| sind die Einzigen, die zwischen Islam und Staatsbürgerschaft und einem | |
| islamischen und zivilen Staat einen Gegensatz sehen“, erklärt Clément | |
| Steuer, Wissenschaftler am Centre d’études et de documentation économiques, | |
| juridiques et sociales (Cedej) in Kairo. „Es geht bei dieser Debatte also | |
| um die Frage, auf welchem Prinzip das Gesellschaftsleben basieren soll: auf | |
| dem Islam oder der Staatsbürgerschaft.“ | |
| Die größte Überraschung in Suez war der Wahlerfolg der Salafisten: Mit 51 | |
| Prozent der Stimmen – so viel wie nirgends sonst im Land – haben sie auch | |
| die Muslimbrüder weit hinter sich gelassen. In Suez sind die Salafisten | |
| seit Langem gut verankert, wobei sie vom Ansehen des berühmten Predigers | |
| Scheich Hafez Salama profitieren. Der Achtzigjährige war eine führende | |
| Kraft im Widerstand gegen die Israelis 1967 und predigte in den 1980er | |
| Jahren den Dschihad gegen den zionistischen Staat. (4) In Suez sind die | |
| jungen Salafisten auf den Zug der Revolution aufgesprungen, beteiligten | |
| sich zahlreich an den letzten Demonstrationen und übernahmen sogar | |
| Ordnerfunktionen. | |
| ## Der Lagerarbeiter Reda streikt und wählt die Salafisten | |
| Reda ist Lagerarbeiter im Hafen von Sokhna, 45 Kilometer südlich von Suez. | |
| Trotz seines gepflegten Äußeren und des glatt rasierten Gesichts macht er | |
| einen stark mitgenommenen Eindruck. Vor einem Jahr war er an vorderster | |
| Front dabei, ein Geschosssplitter verfehlte nur knapp sein rechtes Auge. | |
| Der Streik der Hafenarbeiter hat sein Ziel nicht erreicht, meint Reda: „Man | |
| hat uns gerade mal zwei leere Container überlassen: einen für Sport und | |
| einen zum Beten.“ Er selbst wurde von einem vorgesetzten Ingenieur | |
| gedemütigt, der ihm Knochenarbeiten zuteilte, die nicht zu seinem | |
| Aufgabenbereich gehören. Im Hafen gilt das alte hierarchische | |
| Herrschaftssystem – trotz Revolution. | |
| Ein salafistischer Kollege hat Reda zu seinem Schwiegersohn gemacht, bietet | |
| ihm Unterkunft und knöpft ihm sein Gehalt ab. Trotz seiner revolutionären | |
| Ansichten hat Reda bei den Wahlen für Mohammed Abdel Khaled, einen anderen | |
| Scheich der Salafisten gestimmt. „Der gefällt allen in meinem Viertel“, | |
| rechtfertigt er sich. Es ist fast paradox: In Suez, der revolutionärsten | |
| Stadt des Landes, triumphieren die Salafisten, obwohl sie sich anfangs an | |
| der sozialen und antiautoritären Revolte gar nicht beteiligt haben. | |
| Mohammed Abdel Khaled, der Listenführer der An-Nour-Partei, ausgebildeter | |
| Chemiker und Manager einer Ölfirma, ist auch Prediger und trägt einen | |
| streng ausrasierten Bart. Abdel Khaled sitzt im Fonds einer teuren | |
| Limousine und klopft konservative Sprüche: „Ich will die Scharia | |
| uneingeschränkt anwenden und nach allen Regeln des Islam unterrichten. | |
| Politik und Religion sind ein und dieselbe Sache.“ Und der Tourismus? „Wir | |
| befürworten eher religiösen, wissenschaftlichen oder Wellnesstourismus.“ | |
| ## Ahmed will eine U-Bahn bauen | |
| Und wie soll die darniederliegende Wirtschaft wieder in Gang kommen, wie | |
| die massive Arbeitslosigkeit abgebaut werden? „Wir sollten die | |
| Arbeitsemigration und am besten kleine Investitionsprojekte im | |
| Dienstleistungs- statt im Konsumgüterbereich fördern, aber auch größere | |
| Infrastrukturprojekte sind wichtig: Zum Beispiel eine U-Bahn von Sokhna | |
| nach Arbain.“ Der Frage nach der Finanzierung weicht Khaled aus. Und wie | |
| denkt er über die Streiks? „Die sind vor allem das Resultat eines | |
| mangelnden Dialogs zwischen den Beteiligten, da kann das Gebet | |
| weiterhelfen. Die Meinungsfreiheit muss respektiert werden, aber die | |
| Produktion darf nicht darunter leiden. Auch die Freiheit hat ihre Grenzen.“ | |
| Was die christlichen Kopten betrifft, so sollen sie „gemäß ihrer Religion | |
| beurteilt werden“. Es soll also offenbar gesonderte koptische Gerichte | |
| geben. | |
| Tatsächlich leben die etwa 6 000 Kopten von Suez sehr zurückgezogen, und | |
| sie fühlen sich auch im Stich gelassen. „Wir werden zwar täglich von | |
| Salafisten beleidigt“, erzählt Pater Serafin von der Kirche der Jungfrau | |
| Maria, „aber unsere Kirchen werden nicht angegriffen, es gibt keine Gewalt. | |
| Wir haben keine Angst, und wir werden bleiben.“ | |
| Der Wahlkampf der Salafisten ging von den Moscheen aus. Dort haben sie das | |
| Sagen, weil sie stärker präsent sind als die Muslimbrüder. Nach dem | |
| Freitagsgebet hört man Ansichten wie diese: „Seit Jahrzehnten wurden wir | |
| unterdrückt. Deshalb müssen wir für die Kandidaten stimmen, die unsere | |
| Religion, unsere Arbeit, unsere Familien und unseren Lebensstandard | |
| schützen.“ Geld kommt aus Saudi-Arabien, und zwar nicht zu knapp. Am 14. | |
| Dezember 2011, dem ersten Wahltag, betrieben die Salafisten verbotenerweise | |
| noch weiter Werbung vor den Wahllokalen, indem sie allerlei versprachen, | |
| zum Beispiel Nahrungsmittel. | |
| ## Ehmad dreht Dokumentarfilme | |
| Dass die Salafisten insbesondere die arme Bevölkerung in den | |
| vernachlässigten Stadtvierteln und auf dem flachen Land begeistern können, | |
| liegt vor allem daran, dass sie sich häufiger als die Muslimbrüder auf die | |
| islamische Identität berufen. „Auch wenn sie politisch nicht auf die | |
| gleiche Weise agieren, gibt es zwischen beiden Gruppierungen dennoch | |
| gewisse Schnittmengen. Viele führende Muslimbrüder wurden in einer | |
| salafistischen Schule ausgebildet und haben in den 1980er Jahren dieselben | |
| Predigten in denselben Moscheen gehört. Die Folge war eine gewisse | |
| ’Salafisierung‘ “, erklärt Alaa al-Din Arafat, ein Forscherkollege von | |
| Clément Steuer am Cedej. | |
| Das neue ägyptische Parlament wird – wenn der Militärrat es nicht | |
| verhindert – eine Kommission ernennen, die eine neue Verfassung ausarbeiten | |
| soll, über die dann in einem Referendum entschieden werden muss. Wie weit | |
| die legislativen Kompetenzen dieser Kommission reichen, ist genauso offen | |
| wie das Verfahren, nach dem die Regierung bestellt werden soll. All diese | |
| Fragen hängen stets vom Obersten Militärrat ab, den immer mehr Ägypter mit | |
| dem alten Regime gleichsetzen. Sie sehen die früheren Kräfte an der Macht, | |
| nur eben hinter einer anderen Maske. Bestätigt werden sie durch die | |
| Tatsache, dass viele Kandidaten erklären, die Revolution sei beendet. | |
| Sollte der lange Wahlprozess, deren letzter Akt die Senatswahl vom 11. März | |
| 2012 sein wird, am Ende nur dazu dienen, das revolutionäre Kapitel | |
| endgültig abzuschließen? | |
| Mehr als die Hälfte der 600 000 Einwohner von Suez leben im ärmsten Viertel | |
| der Stadt: Arbain. Hier nahm die Revolution ihren Ausgang, hier liegen ihre | |
| Wurzeln, und hier hat sie ihr größtes Reservoir an Mitstreitern. In Arbain | |
| ist das Leben hart. Die Sandstraßen sind gesäumt von heruntergekommenen | |
| Marktständen und halb fertigen oder verfallenen Häusern. Überall türmt sich | |
| der Müll. Selten gibt es Wasser, das ohnehin kaum genießbar ist. Wegen der | |
| hohen Nachfrage sind die Mieten in Arbain teuer. Dabei gibt es praktisch | |
| keine öffentlichen Dienstleistungen. Fast ein Drittel der Bewohner dieses | |
| vernachlässigten Viertels ist arbeitslos. Bei den am Suezkanal tätigen | |
| Unternehmen gelten die Bewohner von Arbain als zu aufsässig. Sie stellen | |
| lieber Leute ein, die aus dem Süden, aus der Nildelta-Region oder dem | |
| Ausland stammen. Rund 40 Prozent der Bevölkerung von Suez sind zugezogene | |
| Arbeitskräfte. | |
| Für Emad Ernest, der einige Dokumentarfilme über die Städte am Kanal | |
| gedreht hat (5), ist die Wasserfrage die Ursache allen Übels: „Die Freunde | |
| des Mubarak-Sohns Gamal haben die Menschen vertrieben, um neue Industrien | |
| aufzubauen: Die Randbezirke versinken in den Abwassern der riesigen | |
| Hotelanlage von Ain Sokhna, die Fischer leiden unter dem Hafenverkehr und | |
| der zunehmenden Verschmutzung des Roten Meers, die umliegenden Dörfer unter | |
| der Austrocknung ihrer Bewässerungskanäle.“ Auf diese Weise bestrafte die | |
| einstige Einheitspartei das rebellische Suez. | |
| ## Ali war schon viermal im Gefängnis | |
| Wie überall in Ägypten ist auch in Suez alles käuflich, vom Führerschein | |
| oder Diplom bis zum Job. Doch die Revolte richtete sich vor allem gegen die | |
| polizeiliche Willkür. Der Mechanikstudent Ali, heute 20 Jahre alt, war in | |
| sechs Jahren viermal im Gefängnis: „Nie habe ich gewusst, warum. Um mich | |
| politisch zu engagieren, hatte ich viel zu viel Angst. Ich wurde andauernd | |
| grundlos verhaftet, überall, am Strand, im Café, egal wo, dabei hatte ich | |
| immer meinen Ausweis dabei. Meiner Meinung nach haben die mehr Geld | |
| bekommen, wenn sie mehr Leute ins Kittchen gebracht haben.“ | |
| Der Golf von Suez ist eines der wichtigsten Industriezentren Ägyptens. 79 | |
| Prozent der Raffinerieproduktion, der Petrochemie und andere | |
| Schwerindustrien sind am Kanal angesiedelt, begünstigt durch die vielen | |
| Häfen und den Schiffsverkehr. Die Zement- und Textilfabriken konzentrieren | |
| sich in einem 15 Kilometer langen Küstenstreifen zwischen Rotem Meer und | |
| Wüste. Der Suezkanal ist Ägyptens drittgrößte Devisenquelle, nach dem | |
| Tourismus und den Auslandsüberweisungen der Migranten. Die Kanaleinnahmen | |
| steigen stetig an, 2011 auf einen Rekordwert von 4,5 Milliarden US-Dollar. | |
| Das ganze letzte Jahr über erlebte Ägypten die größte Streikwelle seit | |
| 1946. Doch das Ganze hat bereits vor sieben Jahren in den Textilfabriken | |
| von Mahalla al-Kubra begonnen. (6) Neu angefacht wurde die Streikbewegung | |
| durch die Proteste vom 6. April 2008. (7) Das war keine Überraschung | |
| angesichts der Privatisierungen, der Liberalisierung des Arbeitsmarkts, der | |
| Prekarisierung, der steigenden Inflationsrate – alles Entwicklungen, die | |
| auf Kosten der Arbeiterschaft gingen.(8) | |
| Als der Stahlmagnat Ahmed Ezz Ende 2010 4 000 Leute entlassen und durch | |
| billigere Arbeitskräfte aus Asien ersetzen wollte, brach in Suez die | |
| Revolte aus. Ahmed Ezz, Abgeordneter der Partei von Expräsident Husni | |
| Mubarak und enger Freund der Präsidentenfamilie, gehörte zu den ersten | |
| Verhafteten nach dem Sturz Mubaraks. Der Streik im Hafen von Suez begann am | |
| 8. Februar und richtete sich vor allem gegen die Kanalgesellschaft. Am 19. | |
| Februar unterzeichneten die neuen unabhängigen Gewerkschaften eine | |
| gemeinsame Erklärung. (9) | |
| Saud Omar koordiniert diese beispiellose Bewegung mit der in Kairo | |
| entstandenen Gewerkschaftsorganisation. Der leitende Angestellte der | |
| Kanalgesellschaft hat auch als unabhängiger Kandidat bei den Wahlen | |
| kandidiert. „Die Löhne schwankten bisher zwischen 100 und 4 000 Euro im | |
| Monat“, erklärt Omar, „und die Prämien zwischen 0,13 und 10 000 Euro.“ … | |
| Durchschnittseinkommen in Suez liegt unter 100 Euro, aber die Forderungen | |
| der Gewerkschaften betreffen auch das Streikrecht, einen besseren Schutz | |
| vor Arbeitsunfällen, die Wiederverstaatlichung von Betrieben und die | |
| Einführung eines Mindest- und Maximallohns, erzählt Omar weiter: „Zuerst im | |
| Februar, dann im April und zuletzt im Juli hat die Verwaltung höhere Löhne | |
| und bessere Arbeitsbedingungen versprochen. Aber passiert ist nie etwas. | |
| Und jetzt mobilisieren die Arbeiter wieder. Es ist wie damals bei der Rede | |
| von Mubarak: ,Ich habe euch verstanden, aber ich bleibe!‘ “ | |
| Die Protestbewegung agiert mit wechselnden Methoden: Arbeitsniederlegungen, | |
| Sit-ins, turnusmäßige Streikposten. Die Repression hingegen ist immer | |
| gleich. Die Übergangsregierung hat im März und Juni 2011 zwei wichtige | |
| Gesetze erlassen: Das erste drohte jedem streikenden Arbeiter | |
| Gefängnisstrafen an, das zweite erlaubt Streiks, allerdings nur „ohne eine | |
| Aussetzung der Arbeit“. In Suez ist die Streikbewegung jedoch stark genug, | |
| um Verhaftungen und Entlassungen zu verhindern. Ende Juli setzte sie mit | |
| Unterstützung der Revolutionäre eine Anhebung der Löhne um 40 Prozent und | |
| bessere Prämien durch. (10) | |
| ## Der Student Mohammed will heiraten | |
| Die Bewegung griff auch auf andere Sektoren über. Ihre Erfolge verdankt sie | |
| entweder der lokalen und nationalen Verankerung einer unabhängigen | |
| Gewerkschaftsorganisation oder aber der Tatsache, dass die bestreikten | |
| Unternehmen für die Sicherung der strategisch wichtigen Passage durch den | |
| Kanal unentbehrlich sind. Die Arbeiter haben jedoch nie versucht den Kanal | |
| selbst zu blockieren. Aus Angst vor der Armee, die den Kanal bewacht? Weil | |
| er „unser Augapfel“ ist, sagt Wahid al-Sirgani, Lotse zwischen Port Said | |
| und Suez. Die Arbeiter bestehen zwar auf ihren Rechten, betrachten sich | |
| aber auch als Bürgen der Nation. | |
| Andere Errungenschaften der Revolution sind naturgemäß schwerer zu | |
| quantifizieren. Das gilt etwa für die neu gewonnene Meinungs-, | |
| Organisations-, und Bewegungsfreiheit, aber auch für das Recht der | |
| Straßenhändler, ihre Tätigkeit ohne eine hinderliche „Gebühr“ ausüben … | |
| dürfen. Die Polizei wurde in Suez am 28. Januar von den Straßen vertrieben | |
| und ist seitdem verschwunden. Niemand scheint mehr Angst vor einer | |
| Verhaftung zu haben, auch wenn die Organe der Staatssicherheit wachsam | |
| bleiben. | |
| Viele Probleme bleiben ungelöst: die hohen Preise, die steigende | |
| Arbeitslosigkeit und die mangelnden Jobaussichten für junge Leute, selbst | |
| wenn sie ein Diplom besitzen. Mohammed, ein zwanzigjähriger Student der | |
| Betriebswirtschaftslehre, hat es satt: „Die Revolution ist vorbei. Jetzt | |
| würde ich gern eine richtige Arbeit haben, eine eigene Wohnung und | |
| heiraten. Ich will, dass man mich anständig behandelt. Und ich will mir | |
| meinen Lebensunterhalt nicht mehr mit Putzen verdienen müssen.“ | |
| ## Der Journalist Medhat ist wütend | |
| Am 28. November 2011 legte der Fernsehmoderator Medhat Eissa unter großem | |
| Mediengetöse an der Landzunge von Suez auf einem Schiff an. Eissa | |
| kandidierte für die zentristische Partei „Gerechtigkeit“ und ist ein enger | |
| Vertrauter von Mohammed al-Baradei, dem Exgeneraldirektor der | |
| Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO). Eissa war wütend und | |
| empört, weil Mitarbeiter der Kanalgesellschaft gerade eine Ladung | |
| US-amerikanisches Tränengas abgefangen hatten – derselbe chemische Stoff, | |
| der im November auf dem Tahrirplatz den Tod mehrerer Demonstranten | |
| verursacht haben soll. Die Frachterbesatzung wurde festgenommen. Nachdem | |
| sich das Ereignis herumgesprochen hatte, kam es zu Demonstrationen am | |
| Hafen. | |
| Das Ereignis wurde von Eissa sarkastisch kommentiert: „Im Februar hat uns | |
| die Armee gesagt: ’Erhebe dein Haupt, du bist Ägypter!‘ Heute heißt es: | |
| ’Erhebe dein Haupt, damit ich auf dich schießen kann!‘ Nur 10 Prozent | |
| unserer Forderungen sind erfüllt worden. Diese Revolution ist ein Prozess, | |
| für den wir noch fünf oder sogar zehn Jahre brauchen werden. Klein beigeben | |
| ist ausgeschlossen, solange dieses Regime noch an der Macht ist.“ | |
| Im Zentrum der Proteste steht die Forderung, diejenigen Offiziere zu | |
| verurteilen, die für den Tod so vieler junger Ägypter verantwortlich sind. | |
| „Kein einziger der wegen Mordes angeklagten Offiziere wurde verurteilt“, | |
| erzählt Amin Dashur, der die Angehörigen als Sprecher vertritt, „schlimmer | |
| noch: Viele sollen sogar auf ihre früheren Posten zurückgekehrt sein. Nach | |
| Ansicht der Gerichte hätten sie sich lediglich selbst verteidigt: Die | |
| Revolution erstrecke sich nicht auf das Gesetz, das auf keinen Fall | |
| rückwirkend gelten dürfe.“ Die betroffenen Familien haben alle angebotenen | |
| Entschädigungszahlungen zurückgewiesen. Sie sind wütend, und wenn es bei | |
| der Entscheidung bleibt, ist nicht ausgeschlossen, dass manche zur | |
| Selbstjustiz greifen könnten. | |
| „Die Revolution zieht ihre Kraft aus den Märtyrern, die das Volk wieder auf | |
| die Straße treiben“, sagt ein Anwalt, der den Muslimbrüdern nahesteht. Und | |
| wurde die zweite Revolutionswelle nicht dadurch ausgelöst, dass am 20. Juni | |
| 2011 die Polizisten wieder freigelassen wurden, denen vorgeworfen wurde, in | |
| Suez Demonstranten getötet zu haben? Die Wiederbesetzung des Tahrirplatzes | |
| im Juli und der Aufschwung des Gewerkschaftskampfs wurden auch begleitet | |
| von der Forderung nach der Anerkennung der Märtyrer. | |
| Die revolutionären Kräfte von Kairo, Suez und Alexandria sind zwar offenbar | |
| immer besser organisiert und koordiniert, aber sie bilden in Ägypten | |
| keineswegs die Mehrheit. „Revolutionen wurden immer von Minderheiten | |
| gemacht“, meint der 33-jährige Mohammed Mahmud, ein Mitglied der Bewegung | |
| des 6. April und der Gerechtigkeitspartei. „20 Millionen Ägypter sind auf | |
| die Straße gegangen, aber 60 Millionen sind zu Hause geblieben.“(11) Und | |
| was wird aus dem Militärrat? „Wenn die Ruhe erst einmal wiederhergestellt | |
| ist, wird er in sich zusammenbrechen!“, meint Mahmud. „Wir sind gegen | |
| Mubarak aufgestanden und haben gesiegt. Wir sind gegen den Premierminister | |
| aufgestanden und haben gesiegt. Jedes Mal, wenn wir uns dem Militärrat | |
| entgegenstellen, weicht er zurück. Eines Tages werden wir ihn stürzen.“ | |
| Aber ist das Parlament mit seiner islamistischen Mehrheit nach der Wahl | |
| nicht eher legitimiert, im Namen des Volkes zu sprechen als die Straße? Die | |
| Antwort des Anwalts lautet: „Die ’Brüder‘ hätten ohne die Ereignisse auf | |
| dem Tahrirplatz niemals antreten können. Ihre Legitimation ziehen sie aus | |
| der Revolution, außerdem sind sie gespalten zwischen den jungen Aktivisten | |
| und dem alten Apparat, der Bruderschaft und der Partei. Wenn sich das Volk | |
| betrogen fühlt, wird es wieder auf den Platz zurückkehren.“ | |
| Hier in Suez haben die Aktivisten vor gar nichts Angst. Ihr Optimismus und | |
| ihr taktisches Gespür sind bemerkenswert. In Suez geht die Revolution | |
| weiter. | |
| Fußnoten: | |
| (1) Claudine Piaton (Hg.), „Suez, histoire et architecture“, Institut | |
| français d’archéologie orientale (IFAO), Kairo, 2011. | |
| (2) Name für die Konterrevolutionäre, die für ein Militärregime eintreten | |
| und oft aus der Partei des Expräsidenten Husni Mubarak kommen. | |
| (3) In anderen Landesteilen kamen sie höchstens auf 25 Prozent. | |
| (4) Siehe Gilles Kepel, „Les groupes islamistes en Egypte. Flux et reflux, | |
| 1981–1986“, Politique étrangère, Nr. 2, 1986, S. 429–446. | |
| (5) Zum Beispiel „Karassi Dschalid“ („Ledersessel“), Regie: Emad Ernest, | |
| Ägypten 2011. | |
| (6) Siehe Marie Dubosc, „La contestation sociale en Egypte depuis 2004. | |
| Précarisation et mobilisation locale des ouvriers de l’industrie textile“, | |
| "Revue Tiers-Monde, April 2011. | |
| (7) Siehe Raphaël Kempf, „Vor der großen Revolte“, und Alain Gresh, | |
| „Jenseits von Tahrir“, "Le Monde diplomatique, März und August 2011. | |
| (8) Siehe Françoise Clément, „Le nouveau marché du travail, les conflits | |
| sociaux et la pauvreté“, in: Vincent Battesti und François Ireton (Hg.), | |
| „L’Egypte au présent“, Arles (Sindbad – Actes Sud) 2011. | |
| (9) Siehe „Egyptian independent trade unionists’ declaration“: | |
| [1][www.arabawy.org/2011/02/21/jan25-egyworkers-egyptian-independent-trade- | |
| unionists%E2%80%99-declaration/]. | |
| (10) Joël Beinin, „What have workers gained from Egypt’s revolution?“, | |
| "Foreign Policy, Washington, 20. Juli 2011. | |
| (11 )Siehe dazu Adam Shatz, „Mubarak am Ende“, "Le Monde diplomatique, Juli | |
| 2010. | |
| Aus dem Französischen von Jakob Horst | |
| [2][Hinweis: Eine Kultur des Widerstands] | |
| [3][Hinweis: Was wann geschah] | |
| [4][Le Monde diplomatique] vom 13.1.2012 | |
| 3 Feb 2012 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.arabawy.org/2011/02/21/jan25-egyworkers-egyptian-independent-tra… | |
| [2] http://www.monde-diplomatique.de/index.php?id=archivseite&dig=/2012/01/… | |
| [3] http://www.monde-diplomatique.de/index.php?id=archivseite&dig=/2012/01/… | |
| [4] http://www.monde-diplomatique.de | |
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| François Pradal | |
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