# taz.de -- Aus "Le Monde diplomatique": Suez, Stadt des Widerstands | |
> Auch in Suez kam es nach den Toten von Port Said zu Protesten gegen den | |
> Militärrat. Die Hafenstadt ist bekannt für ihre Kultur des Widerstands. | |
Bild: Das Militär ist überall. | |
Wir sitzen in einem Café direkt neben der Einmündung des Suezkanals ins | |
Rote Meer. Nicht weit entfernt, auf einer Landspitze, sieht man die Lichter | |
der Raffinerien funkeln. "Ich bin zwar gegen einen islamischen Staat", sagt | |
Ghehareb Saqr. "Aber mir sind die demokratisch gewählten Muslimbrüder | |
lieber als die Fortdauer des Militärregimes." Saqr ist beim | |
Textilunternehmen Misr Iran für die Klimatisierung der Fabrikationsanlagen | |
zuständig. Und er ist Kommunist. Gerade haben die Arbeiter bei Misr Iran | |
nach drei Wochen Streik eine zehnprozentige Lohnerhöhung erstritten. | |
Ahmed Mahmud wurde erst vor Kurzem nach drei Jahren Haft aus dem Gefängnis | |
entlassen. Bei den Parlamentswahlen ist er der Spitzenkandidat der | |
Muslimbrüder in Suez. Er trägt einen modischen italienischen Anzug, als er | |
zu seinen jugendlichen Anhängern spricht. Was er sagt, klingt wie ein Echo | |
des Kommunisten Saqr: "Ich ziehe demokratisch gewählte Kommunisten der | |
Aufrechterhaltung des Militärregimes vor. Die Armee muss der Regierung | |
unterstehen." | |
Auf die Frage nach dem Wiederaufleben der Proteste seit dem 19. November | |
bekräftigt der Sechzigjährige die Position, die seine Partei "Freiheit und | |
Gerechtigkeit" vertritt: "Ich unterstütze die Forderungen der Demonstranten | |
und verurteile die Menschenrechtsverletzungen, auch wenn ich nicht zur | |
erneuten Besetzung des Platzes aufrufe. Man muss den Druck auf das | |
Militärregime aufrechterhalten." | |
Zu den Streiks hat der „Bruder“ eine eindeutigere Meinung: „Jetzt ist nic… | |
der beste Moment, weil die Wirtschaft 6,6 Milliarden Dollar verloren hat. | |
Aber die Forderungen der Arbeiter sind legitim.“ Das wollen die umstehenden | |
Aktivisten nicht gelten lassen: „Wer für einen Hungerlohn arbeitet, kann | |
nicht warten.“ Und was sagt Mahmud zur künftigen Verfassung? „Sie muss alle | |
Ägypter einbeziehen. Wir wollen die breitestmögliche Koalition bilden, | |
einschließlich der Christen.“ Man fragt sich, ob es echter Wille zum | |
Kompromiss oder reiner Opportunismus ist. In jedem Fall ist sich Mahmud in | |
zwei Punkten mit den Kommunisten einig: Er befürwortet den Bruch mit dem | |
Obersten Militärrat und die Anerkennung der demokratischen Spielregeln. | |
## Die Kandidatin wird als Blume abgebildet | |
Die Hauptverkehrsstraße in Suez ist die „Straße der Armee“. Sie verbindet | |
das alte Kolonialviertel in Port Taufiq (1) mit dem Arbain-Platz, der | |
sozusagen der Tahrirplatz von Port Said ist. Der Wahlkampf ist in vollem | |
Gang; zwischen den Laternen, Palmen und Strommasten hängen Spruchbänder. | |
Unter den Vordächern halten die Kandidaten ihre Versammlungen ab. Die | |
Salafisten und die felul (2) plakatieren Farbfotos ihrer Kandidaten: Mit | |
einer Ausnahme: Das Porträt der einzigen Frau, die auf der Salafisten-Liste | |
steht – das Gesetz schreibt mindestens eine Kandidatin vor – ist durch eine | |
Blume ersetzt. | |
In Suez bemühten sich 109 Kandidaten um zwei Direktmandate, und 12 Parteien | |
um vier weitere Sitze. Den Wahlkampf bestritten alle Parteien mit ihren | |
Listensymbolen: die Muslimbrüder mit der Waage, die salafistische | |
An-Nour-Partei („das Licht“) mit der fanus (eine Art Ramadan-Laterne); | |
andere mit einem Mobiltelefon, einem Haus oder einer Wasserflasche. Die | |
drei islamistischen Parteien erhielten am Ende 78 Prozent der Stimmen, die | |
vier liberalen Parteien 14 Prozent, die vier Felul-Kandidaten 7 Prozent und | |
die Nasseristen weniger als 0,1 Prozent. Die Islamisten konnten in Suez | |
insgesamt also mit vier oder fünf Sitzen rechnen. Von den aus der | |
Revolution hervorgegangenen Parteien haben es damit nur die Islamisten | |
geschafft, sich gesellschaftlich zu verankern. Und die älteren | |
Organisationen sind in den Augen vieler Ägypter ohnehin diskreditiert. Die | |
politische Linke hat es schwer, sich in der Konkurrenz mit den anderen | |
politischen Lagern zu behaupten. Sie konnte sich gegen die Rechte kaum | |
profilieren, weil sich die Programme zu sehr ähneln. | |
## Der Taxifahrer unterstützt die Jungen | |
„Die Leute stimmen für Personen, nicht für Parteien“, erklärt Nahed Marz… | |
eine von lediglich vier weiblichen Kandidaten, die in Suez antraten. Marzuq | |
steht der Sozialistischen Volksallianz nahe, die im politischen Spektrum | |
weit links angesiedelt ist, sie selbst sieht sich aber als Unabhängige. Der | |
Schlüssel zum Wahlerfolg liegt in einem „ehrwürdigen“ Namen: Um die | |
Menschen zu überzeugen, die gleichzeitig revolutionär und konservativ sind, | |
der Arbeitertradition wie dem Islam verhaftet sind, sollte man am besten | |
aus einer geachteten Familie aus dem Viertel kommen. Von den Frauen und | |
jungen Leuten, die sich in der Revolution profiliert haben, sind nur wenige | |
zur Wahl angetreten. Ein alter Taxifahrer meint trotzdem: „Ich wähle die | |
Jungen, weil nur sie uns vor der Rückkehr des alten Systems bewahren | |
können!“ | |
Es gibt zwei entscheidende Trennlinien. Die erste verläuft zwischen den | |
Felul und den Anhängern der Revolution, zu denen auch die gehören, die | |
nicht selbst auf die Straße gegangen sind. Ein junger Kandidat der | |
Nasseristen meint: „Die Felul und die Muslimbrüder verfolgen dieselbe | |
Politik. Sie sind konservativ und kapitalistisch.“ Die zweite Linie trennt | |
die Islamisten von allen anderen Gruppierungen. Zwar stellt niemand den 2. | |
Verfassungsartikel infrage, der die Scharia zur Hauptquelle der | |
Gesetzgebung bestimmt, aber die Salafisten gehen einen Schritt weiter. „Sie | |
sind die Einzigen, die zwischen Islam und Staatsbürgerschaft und einem | |
islamischen und zivilen Staat einen Gegensatz sehen“, erklärt Clément | |
Steuer, Wissenschaftler am Centre d’études et de documentation économiques, | |
juridiques et sociales (Cedej) in Kairo. „Es geht bei dieser Debatte also | |
um die Frage, auf welchem Prinzip das Gesellschaftsleben basieren soll: auf | |
dem Islam oder der Staatsbürgerschaft.“ | |
Die größte Überraschung in Suez war der Wahlerfolg der Salafisten: Mit 51 | |
Prozent der Stimmen – so viel wie nirgends sonst im Land – haben sie auch | |
die Muslimbrüder weit hinter sich gelassen. In Suez sind die Salafisten | |
seit Langem gut verankert, wobei sie vom Ansehen des berühmten Predigers | |
Scheich Hafez Salama profitieren. Der Achtzigjährige war eine führende | |
Kraft im Widerstand gegen die Israelis 1967 und predigte in den 1980er | |
Jahren den Dschihad gegen den zionistischen Staat. (4) In Suez sind die | |
jungen Salafisten auf den Zug der Revolution aufgesprungen, beteiligten | |
sich zahlreich an den letzten Demonstrationen und übernahmen sogar | |
Ordnerfunktionen. | |
## Der Lagerarbeiter Reda streikt und wählt die Salafisten | |
Reda ist Lagerarbeiter im Hafen von Sokhna, 45 Kilometer südlich von Suez. | |
Trotz seines gepflegten Äußeren und des glatt rasierten Gesichts macht er | |
einen stark mitgenommenen Eindruck. Vor einem Jahr war er an vorderster | |
Front dabei, ein Geschosssplitter verfehlte nur knapp sein rechtes Auge. | |
Der Streik der Hafenarbeiter hat sein Ziel nicht erreicht, meint Reda: „Man | |
hat uns gerade mal zwei leere Container überlassen: einen für Sport und | |
einen zum Beten.“ Er selbst wurde von einem vorgesetzten Ingenieur | |
gedemütigt, der ihm Knochenarbeiten zuteilte, die nicht zu seinem | |
Aufgabenbereich gehören. Im Hafen gilt das alte hierarchische | |
Herrschaftssystem – trotz Revolution. | |
Ein salafistischer Kollege hat Reda zu seinem Schwiegersohn gemacht, bietet | |
ihm Unterkunft und knöpft ihm sein Gehalt ab. Trotz seiner revolutionären | |
Ansichten hat Reda bei den Wahlen für Mohammed Abdel Khaled, einen anderen | |
Scheich der Salafisten gestimmt. „Der gefällt allen in meinem Viertel“, | |
rechtfertigt er sich. Es ist fast paradox: In Suez, der revolutionärsten | |
Stadt des Landes, triumphieren die Salafisten, obwohl sie sich anfangs an | |
der sozialen und antiautoritären Revolte gar nicht beteiligt haben. | |
Mohammed Abdel Khaled, der Listenführer der An-Nour-Partei, ausgebildeter | |
Chemiker und Manager einer Ölfirma, ist auch Prediger und trägt einen | |
streng ausrasierten Bart. Abdel Khaled sitzt im Fonds einer teuren | |
Limousine und klopft konservative Sprüche: „Ich will die Scharia | |
uneingeschränkt anwenden und nach allen Regeln des Islam unterrichten. | |
Politik und Religion sind ein und dieselbe Sache.“ Und der Tourismus? „Wir | |
befürworten eher religiösen, wissenschaftlichen oder Wellnesstourismus.“ | |
## Ahmed will eine U-Bahn bauen | |
Und wie soll die darniederliegende Wirtschaft wieder in Gang kommen, wie | |
die massive Arbeitslosigkeit abgebaut werden? „Wir sollten die | |
Arbeitsemigration und am besten kleine Investitionsprojekte im | |
Dienstleistungs- statt im Konsumgüterbereich fördern, aber auch größere | |
Infrastrukturprojekte sind wichtig: Zum Beispiel eine U-Bahn von Sokhna | |
nach Arbain.“ Der Frage nach der Finanzierung weicht Khaled aus. Und wie | |
denkt er über die Streiks? „Die sind vor allem das Resultat eines | |
mangelnden Dialogs zwischen den Beteiligten, da kann das Gebet | |
weiterhelfen. Die Meinungsfreiheit muss respektiert werden, aber die | |
Produktion darf nicht darunter leiden. Auch die Freiheit hat ihre Grenzen.“ | |
Was die christlichen Kopten betrifft, so sollen sie „gemäß ihrer Religion | |
beurteilt werden“. Es soll also offenbar gesonderte koptische Gerichte | |
geben. | |
Tatsächlich leben die etwa 6 000 Kopten von Suez sehr zurückgezogen, und | |
sie fühlen sich auch im Stich gelassen. „Wir werden zwar täglich von | |
Salafisten beleidigt“, erzählt Pater Serafin von der Kirche der Jungfrau | |
Maria, „aber unsere Kirchen werden nicht angegriffen, es gibt keine Gewalt. | |
Wir haben keine Angst, und wir werden bleiben.“ | |
Der Wahlkampf der Salafisten ging von den Moscheen aus. Dort haben sie das | |
Sagen, weil sie stärker präsent sind als die Muslimbrüder. Nach dem | |
Freitagsgebet hört man Ansichten wie diese: „Seit Jahrzehnten wurden wir | |
unterdrückt. Deshalb müssen wir für die Kandidaten stimmen, die unsere | |
Religion, unsere Arbeit, unsere Familien und unseren Lebensstandard | |
schützen.“ Geld kommt aus Saudi-Arabien, und zwar nicht zu knapp. Am 14. | |
Dezember 2011, dem ersten Wahltag, betrieben die Salafisten verbotenerweise | |
noch weiter Werbung vor den Wahllokalen, indem sie allerlei versprachen, | |
zum Beispiel Nahrungsmittel. | |
## Ehmad dreht Dokumentarfilme | |
Dass die Salafisten insbesondere die arme Bevölkerung in den | |
vernachlässigten Stadtvierteln und auf dem flachen Land begeistern können, | |
liegt vor allem daran, dass sie sich häufiger als die Muslimbrüder auf die | |
islamische Identität berufen. „Auch wenn sie politisch nicht auf die | |
gleiche Weise agieren, gibt es zwischen beiden Gruppierungen dennoch | |
gewisse Schnittmengen. Viele führende Muslimbrüder wurden in einer | |
salafistischen Schule ausgebildet und haben in den 1980er Jahren dieselben | |
Predigten in denselben Moscheen gehört. Die Folge war eine gewisse | |
’Salafisierung‘ “, erklärt Alaa al-Din Arafat, ein Forscherkollege von | |
Clément Steuer am Cedej. | |
Das neue ägyptische Parlament wird – wenn der Militärrat es nicht | |
verhindert – eine Kommission ernennen, die eine neue Verfassung ausarbeiten | |
soll, über die dann in einem Referendum entschieden werden muss. Wie weit | |
die legislativen Kompetenzen dieser Kommission reichen, ist genauso offen | |
wie das Verfahren, nach dem die Regierung bestellt werden soll. All diese | |
Fragen hängen stets vom Obersten Militärrat ab, den immer mehr Ägypter mit | |
dem alten Regime gleichsetzen. Sie sehen die früheren Kräfte an der Macht, | |
nur eben hinter einer anderen Maske. Bestätigt werden sie durch die | |
Tatsache, dass viele Kandidaten erklären, die Revolution sei beendet. | |
Sollte der lange Wahlprozess, deren letzter Akt die Senatswahl vom 11. März | |
2012 sein wird, am Ende nur dazu dienen, das revolutionäre Kapitel | |
endgültig abzuschließen? | |
Mehr als die Hälfte der 600 000 Einwohner von Suez leben im ärmsten Viertel | |
der Stadt: Arbain. Hier nahm die Revolution ihren Ausgang, hier liegen ihre | |
Wurzeln, und hier hat sie ihr größtes Reservoir an Mitstreitern. In Arbain | |
ist das Leben hart. Die Sandstraßen sind gesäumt von heruntergekommenen | |
Marktständen und halb fertigen oder verfallenen Häusern. Überall türmt sich | |
der Müll. Selten gibt es Wasser, das ohnehin kaum genießbar ist. Wegen der | |
hohen Nachfrage sind die Mieten in Arbain teuer. Dabei gibt es praktisch | |
keine öffentlichen Dienstleistungen. Fast ein Drittel der Bewohner dieses | |
vernachlässigten Viertels ist arbeitslos. Bei den am Suezkanal tätigen | |
Unternehmen gelten die Bewohner von Arbain als zu aufsässig. Sie stellen | |
lieber Leute ein, die aus dem Süden, aus der Nildelta-Region oder dem | |
Ausland stammen. Rund 40 Prozent der Bevölkerung von Suez sind zugezogene | |
Arbeitskräfte. | |
Für Emad Ernest, der einige Dokumentarfilme über die Städte am Kanal | |
gedreht hat (5), ist die Wasserfrage die Ursache allen Übels: „Die Freunde | |
des Mubarak-Sohns Gamal haben die Menschen vertrieben, um neue Industrien | |
aufzubauen: Die Randbezirke versinken in den Abwassern der riesigen | |
Hotelanlage von Ain Sokhna, die Fischer leiden unter dem Hafenverkehr und | |
der zunehmenden Verschmutzung des Roten Meers, die umliegenden Dörfer unter | |
der Austrocknung ihrer Bewässerungskanäle.“ Auf diese Weise bestrafte die | |
einstige Einheitspartei das rebellische Suez. | |
## Ali war schon viermal im Gefängnis | |
Wie überall in Ägypten ist auch in Suez alles käuflich, vom Führerschein | |
oder Diplom bis zum Job. Doch die Revolte richtete sich vor allem gegen die | |
polizeiliche Willkür. Der Mechanikstudent Ali, heute 20 Jahre alt, war in | |
sechs Jahren viermal im Gefängnis: „Nie habe ich gewusst, warum. Um mich | |
politisch zu engagieren, hatte ich viel zu viel Angst. Ich wurde andauernd | |
grundlos verhaftet, überall, am Strand, im Café, egal wo, dabei hatte ich | |
immer meinen Ausweis dabei. Meiner Meinung nach haben die mehr Geld | |
bekommen, wenn sie mehr Leute ins Kittchen gebracht haben.“ | |
Der Golf von Suez ist eines der wichtigsten Industriezentren Ägyptens. 79 | |
Prozent der Raffinerieproduktion, der Petrochemie und andere | |
Schwerindustrien sind am Kanal angesiedelt, begünstigt durch die vielen | |
Häfen und den Schiffsverkehr. Die Zement- und Textilfabriken konzentrieren | |
sich in einem 15 Kilometer langen Küstenstreifen zwischen Rotem Meer und | |
Wüste. Der Suezkanal ist Ägyptens drittgrößte Devisenquelle, nach dem | |
Tourismus und den Auslandsüberweisungen der Migranten. Die Kanaleinnahmen | |
steigen stetig an, 2011 auf einen Rekordwert von 4,5 Milliarden US-Dollar. | |
Das ganze letzte Jahr über erlebte Ägypten die größte Streikwelle seit | |
1946. Doch das Ganze hat bereits vor sieben Jahren in den Textilfabriken | |
von Mahalla al-Kubra begonnen. (6) Neu angefacht wurde die Streikbewegung | |
durch die Proteste vom 6. April 2008. (7) Das war keine Überraschung | |
angesichts der Privatisierungen, der Liberalisierung des Arbeitsmarkts, der | |
Prekarisierung, der steigenden Inflationsrate – alles Entwicklungen, die | |
auf Kosten der Arbeiterschaft gingen.(8) | |
Als der Stahlmagnat Ahmed Ezz Ende 2010 4 000 Leute entlassen und durch | |
billigere Arbeitskräfte aus Asien ersetzen wollte, brach in Suez die | |
Revolte aus. Ahmed Ezz, Abgeordneter der Partei von Expräsident Husni | |
Mubarak und enger Freund der Präsidentenfamilie, gehörte zu den ersten | |
Verhafteten nach dem Sturz Mubaraks. Der Streik im Hafen von Suez begann am | |
8. Februar und richtete sich vor allem gegen die Kanalgesellschaft. Am 19. | |
Februar unterzeichneten die neuen unabhängigen Gewerkschaften eine | |
gemeinsame Erklärung. (9) | |
Saud Omar koordiniert diese beispiellose Bewegung mit der in Kairo | |
entstandenen Gewerkschaftsorganisation. Der leitende Angestellte der | |
Kanalgesellschaft hat auch als unabhängiger Kandidat bei den Wahlen | |
kandidiert. „Die Löhne schwankten bisher zwischen 100 und 4 000 Euro im | |
Monat“, erklärt Omar, „und die Prämien zwischen 0,13 und 10 000 Euro.“ … | |
Durchschnittseinkommen in Suez liegt unter 100 Euro, aber die Forderungen | |
der Gewerkschaften betreffen auch das Streikrecht, einen besseren Schutz | |
vor Arbeitsunfällen, die Wiederverstaatlichung von Betrieben und die | |
Einführung eines Mindest- und Maximallohns, erzählt Omar weiter: „Zuerst im | |
Februar, dann im April und zuletzt im Juli hat die Verwaltung höhere Löhne | |
und bessere Arbeitsbedingungen versprochen. Aber passiert ist nie etwas. | |
Und jetzt mobilisieren die Arbeiter wieder. Es ist wie damals bei der Rede | |
von Mubarak: ,Ich habe euch verstanden, aber ich bleibe!‘ “ | |
Die Protestbewegung agiert mit wechselnden Methoden: Arbeitsniederlegungen, | |
Sit-ins, turnusmäßige Streikposten. Die Repression hingegen ist immer | |
gleich. Die Übergangsregierung hat im März und Juni 2011 zwei wichtige | |
Gesetze erlassen: Das erste drohte jedem streikenden Arbeiter | |
Gefängnisstrafen an, das zweite erlaubt Streiks, allerdings nur „ohne eine | |
Aussetzung der Arbeit“. In Suez ist die Streikbewegung jedoch stark genug, | |
um Verhaftungen und Entlassungen zu verhindern. Ende Juli setzte sie mit | |
Unterstützung der Revolutionäre eine Anhebung der Löhne um 40 Prozent und | |
bessere Prämien durch. (10) | |
## Der Student Mohammed will heiraten | |
Die Bewegung griff auch auf andere Sektoren über. Ihre Erfolge verdankt sie | |
entweder der lokalen und nationalen Verankerung einer unabhängigen | |
Gewerkschaftsorganisation oder aber der Tatsache, dass die bestreikten | |
Unternehmen für die Sicherung der strategisch wichtigen Passage durch den | |
Kanal unentbehrlich sind. Die Arbeiter haben jedoch nie versucht den Kanal | |
selbst zu blockieren. Aus Angst vor der Armee, die den Kanal bewacht? Weil | |
er „unser Augapfel“ ist, sagt Wahid al-Sirgani, Lotse zwischen Port Said | |
und Suez. Die Arbeiter bestehen zwar auf ihren Rechten, betrachten sich | |
aber auch als Bürgen der Nation. | |
Andere Errungenschaften der Revolution sind naturgemäß schwerer zu | |
quantifizieren. Das gilt etwa für die neu gewonnene Meinungs-, | |
Organisations-, und Bewegungsfreiheit, aber auch für das Recht der | |
Straßenhändler, ihre Tätigkeit ohne eine hinderliche „Gebühr“ ausüben … | |
dürfen. Die Polizei wurde in Suez am 28. Januar von den Straßen vertrieben | |
und ist seitdem verschwunden. Niemand scheint mehr Angst vor einer | |
Verhaftung zu haben, auch wenn die Organe der Staatssicherheit wachsam | |
bleiben. | |
Viele Probleme bleiben ungelöst: die hohen Preise, die steigende | |
Arbeitslosigkeit und die mangelnden Jobaussichten für junge Leute, selbst | |
wenn sie ein Diplom besitzen. Mohammed, ein zwanzigjähriger Student der | |
Betriebswirtschaftslehre, hat es satt: „Die Revolution ist vorbei. Jetzt | |
würde ich gern eine richtige Arbeit haben, eine eigene Wohnung und | |
heiraten. Ich will, dass man mich anständig behandelt. Und ich will mir | |
meinen Lebensunterhalt nicht mehr mit Putzen verdienen müssen.“ | |
## Der Journalist Medhat ist wütend | |
Am 28. November 2011 legte der Fernsehmoderator Medhat Eissa unter großem | |
Mediengetöse an der Landzunge von Suez auf einem Schiff an. Eissa | |
kandidierte für die zentristische Partei „Gerechtigkeit“ und ist ein enger | |
Vertrauter von Mohammed al-Baradei, dem Exgeneraldirektor der | |
Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO). Eissa war wütend und | |
empört, weil Mitarbeiter der Kanalgesellschaft gerade eine Ladung | |
US-amerikanisches Tränengas abgefangen hatten – derselbe chemische Stoff, | |
der im November auf dem Tahrirplatz den Tod mehrerer Demonstranten | |
verursacht haben soll. Die Frachterbesatzung wurde festgenommen. Nachdem | |
sich das Ereignis herumgesprochen hatte, kam es zu Demonstrationen am | |
Hafen. | |
Das Ereignis wurde von Eissa sarkastisch kommentiert: „Im Februar hat uns | |
die Armee gesagt: ’Erhebe dein Haupt, du bist Ägypter!‘ Heute heißt es: | |
’Erhebe dein Haupt, damit ich auf dich schießen kann!‘ Nur 10 Prozent | |
unserer Forderungen sind erfüllt worden. Diese Revolution ist ein Prozess, | |
für den wir noch fünf oder sogar zehn Jahre brauchen werden. Klein beigeben | |
ist ausgeschlossen, solange dieses Regime noch an der Macht ist.“ | |
Im Zentrum der Proteste steht die Forderung, diejenigen Offiziere zu | |
verurteilen, die für den Tod so vieler junger Ägypter verantwortlich sind. | |
„Kein einziger der wegen Mordes angeklagten Offiziere wurde verurteilt“, | |
erzählt Amin Dashur, der die Angehörigen als Sprecher vertritt, „schlimmer | |
noch: Viele sollen sogar auf ihre früheren Posten zurückgekehrt sein. Nach | |
Ansicht der Gerichte hätten sie sich lediglich selbst verteidigt: Die | |
Revolution erstrecke sich nicht auf das Gesetz, das auf keinen Fall | |
rückwirkend gelten dürfe.“ Die betroffenen Familien haben alle angebotenen | |
Entschädigungszahlungen zurückgewiesen. Sie sind wütend, und wenn es bei | |
der Entscheidung bleibt, ist nicht ausgeschlossen, dass manche zur | |
Selbstjustiz greifen könnten. | |
„Die Revolution zieht ihre Kraft aus den Märtyrern, die das Volk wieder auf | |
die Straße treiben“, sagt ein Anwalt, der den Muslimbrüdern nahesteht. Und | |
wurde die zweite Revolutionswelle nicht dadurch ausgelöst, dass am 20. Juni | |
2011 die Polizisten wieder freigelassen wurden, denen vorgeworfen wurde, in | |
Suez Demonstranten getötet zu haben? Die Wiederbesetzung des Tahrirplatzes | |
im Juli und der Aufschwung des Gewerkschaftskampfs wurden auch begleitet | |
von der Forderung nach der Anerkennung der Märtyrer. | |
Die revolutionären Kräfte von Kairo, Suez und Alexandria sind zwar offenbar | |
immer besser organisiert und koordiniert, aber sie bilden in Ägypten | |
keineswegs die Mehrheit. „Revolutionen wurden immer von Minderheiten | |
gemacht“, meint der 33-jährige Mohammed Mahmud, ein Mitglied der Bewegung | |
des 6. April und der Gerechtigkeitspartei. „20 Millionen Ägypter sind auf | |
die Straße gegangen, aber 60 Millionen sind zu Hause geblieben.“(11) Und | |
was wird aus dem Militärrat? „Wenn die Ruhe erst einmal wiederhergestellt | |
ist, wird er in sich zusammenbrechen!“, meint Mahmud. „Wir sind gegen | |
Mubarak aufgestanden und haben gesiegt. Wir sind gegen den Premierminister | |
aufgestanden und haben gesiegt. Jedes Mal, wenn wir uns dem Militärrat | |
entgegenstellen, weicht er zurück. Eines Tages werden wir ihn stürzen.“ | |
Aber ist das Parlament mit seiner islamistischen Mehrheit nach der Wahl | |
nicht eher legitimiert, im Namen des Volkes zu sprechen als die Straße? Die | |
Antwort des Anwalts lautet: „Die ’Brüder‘ hätten ohne die Ereignisse auf | |
dem Tahrirplatz niemals antreten können. Ihre Legitimation ziehen sie aus | |
der Revolution, außerdem sind sie gespalten zwischen den jungen Aktivisten | |
und dem alten Apparat, der Bruderschaft und der Partei. Wenn sich das Volk | |
betrogen fühlt, wird es wieder auf den Platz zurückkehren.“ | |
Hier in Suez haben die Aktivisten vor gar nichts Angst. Ihr Optimismus und | |
ihr taktisches Gespür sind bemerkenswert. In Suez geht die Revolution | |
weiter. | |
Fußnoten: | |
(1) Claudine Piaton (Hg.), „Suez, histoire et architecture“, Institut | |
français d’archéologie orientale (IFAO), Kairo, 2011. | |
(2) Name für die Konterrevolutionäre, die für ein Militärregime eintreten | |
und oft aus der Partei des Expräsidenten Husni Mubarak kommen. | |
(3) In anderen Landesteilen kamen sie höchstens auf 25 Prozent. | |
(4) Siehe Gilles Kepel, „Les groupes islamistes en Egypte. Flux et reflux, | |
1981–1986“, Politique étrangère, Nr. 2, 1986, S. 429–446. | |
(5) Zum Beispiel „Karassi Dschalid“ („Ledersessel“), Regie: Emad Ernest, | |
Ägypten 2011. | |
(6) Siehe Marie Dubosc, „La contestation sociale en Egypte depuis 2004. | |
Précarisation et mobilisation locale des ouvriers de l’industrie textile“, | |
"Revue Tiers-Monde, April 2011. | |
(7) Siehe Raphaël Kempf, „Vor der großen Revolte“, und Alain Gresh, | |
„Jenseits von Tahrir“, "Le Monde diplomatique, März und August 2011. | |
(8) Siehe Françoise Clément, „Le nouveau marché du travail, les conflits | |
sociaux et la pauvreté“, in: Vincent Battesti und François Ireton (Hg.), | |
„L’Egypte au présent“, Arles (Sindbad – Actes Sud) 2011. | |
(9) Siehe „Egyptian independent trade unionists’ declaration“: | |
[1][www.arabawy.org/2011/02/21/jan25-egyworkers-egyptian-independent-trade- | |
unionists%E2%80%99-declaration/]. | |
(10) Joël Beinin, „What have workers gained from Egypt’s revolution?“, | |
"Foreign Policy, Washington, 20. Juli 2011. | |
(11 )Siehe dazu Adam Shatz, „Mubarak am Ende“, "Le Monde diplomatique, Juli | |
2010. | |
Aus dem Französischen von Jakob Horst | |
[2][Hinweis: Eine Kultur des Widerstands] | |
[3][Hinweis: Was wann geschah] | |
[4][Le Monde diplomatique] vom 13.1.2012 | |
3 Feb 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://www.arabawy.org/2011/02/21/jan25-egyworkers-egyptian-independent-tra… | |
[2] http://www.monde-diplomatique.de/index.php?id=archivseite&dig=/2012/01/… | |
[3] http://www.monde-diplomatique.de/index.php?id=archivseite&dig=/2012/01/… | |
[4] http://www.monde-diplomatique.de | |
## AUTOREN | |
François Pradal | |
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