Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Rücktritt in Hamburg: Niedergang nach Methadontod
> Der SPD-Bezirksamtsleiter Hamburg-Mitte, Markus Schreiber, tritt nach dem
> Methadontod der elfjährigen Chantal zurück. Bürgermeister Olaf Scholz
> zwang ihn dazu.
Bild: Runter und raus: Markus Schreiber verlässt niedergeschlagen das Hamburge…
HAMBURG taz | Markus Schreiber ist nach zehn Jahren und zehn Tagen nicht
mehr Bezirksamtsleiter von Hamburg-Mitte. Das gaben er und Hamburgs
Bürgermeister Olaf Scholz (beide SPD) am Freitagnachmittag im Rathaus
bekannt.
Er übernehme damit "die politische Verantwortung" für das strukturelle
Chaos in seinem Jugendamt, das zum Tod der elfjährigen Chantal mindestens
beigetragen habe, sagte der 51-Jährige. Das Mädchen war in einer
drogenabhängigen Pflegefamilie untergebracht worden und am 16. Januar an
Methadon gestorben. Wie Chantal genau an den Drogenersatzstoff kam, ist
noch immer unklar.
"Der Tod von Chantal belastet mich so sehr, dass ich nicht länger im Amt
bleiben kann", erklärte Schreiber in einem kurzen Statement. Er habe
"Fehler gemacht", räumte er ein, und wolle der notwendigen Aufklärung in
der Sache nicht im Weg stehen. Zugleich gelte es, "Schaden vom Amt, vom
Bürgermeister und von der Partei abzuwenden". Scholz erklärte, es sei seine
Pflicht gewesen, "jetzt zu handeln" und Schreibers Ersuchen nachzukommen:
"Jetzt muss der Prozess der Aufklärung intensiv weitergeführt werden."
## Der Druck auf Scholz
Nach mehreren Gesprächen zwischen Scholz und Schreiber hinter
verschlossenen Türen, zuletzt am Donnerstagnachmittag, hatte der
Bürgermeister zuletzt Schreibers Demission verlangt. In einer Debatte der
Bürgerschaft über den Tod von Chantal am Mittwoch war deutlich geworden,
dass die gesamte Opposition
Schreibers Rücktritt fordert und niemand in der SPD ihn noch offensiv
verteidigt. So groß war der politische Druck geworden, dass der Ruf von
Olaf Scholz als Macher und Führungsfigur ins Wanken geriet. Also stellte
der Partei- und Regierungschef seine Handlungsfähigkeit unter Beweis: Der
ehemalige Mathe- und Chemielehrer wurde seines Amtes verwiesen.
Am Nachmittag teilte auch der Kreisvorsitzende der SPD-Mitte, der
Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs, mit, dass er nach 18 Jahren seine
Funktion als Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses im Bezirk aufgebe.
Beide Personalien sind für das Machtgefüge in der Hanse-SPD, die seit einem
Jahr mit absoluter Mehrheit in Hamburg regiert, von erheblicher Bedeutung.
Denn der 48-jährige Reserveoffizier ist der Frontmann der Parteirechten.
## Das "System Kahrs"
Das "System Kahrs" in der SPD-Mitte weist sektenähnliche Züge auf. Vor
allem rechte Jungsozialisten, die mit Referentenjobs und Mandaten in
Kommunalgremien auf höhere Aufgaben vorbereitet werden, bezeichnen sich
ungeniert als "Kahrsianer". Über den Jugendhilfeausschuss steuert Kahrs
Millionenbeträge für Träger, in denen verdiente oder hoffnungsvolle
Genossen seine Macht im Kreis absichern.
Eine herbe Niederlage musste Kahrs im März 2011 einstecken, als
Bürgermeister Scholz seinen Wunschkandidaten Schreiber nicht zum Bausenator
ernannte. Seitdem schwelt hinter den SPD-Kulissen ein Konflikt, in dem
Schreiber Nadelstiche setzte. Er forcierte im April die Räumung des
Bauwagenplatzes Zomia so lange, bis Scholz intern ein Machtwort sprach.
Im Herbst erlangte Schreiber zweifelhafte bundesweite Bekanntheit durch den
Gitterzaun, mit dem er Obdachlosen unter einer Brücke in St. Pauli die
Schlafplätze nahm. Nach langen Protesten wurde der Zaun im November wieder
entfernt und den Obdachlosen ein Toilettenhäuschen hingestellt. Beides
bestätigte Scholz in seiner Einschätzung, das Schreiber nicht ministrabel
ist.
Seine entscheidenden Fehler beging Schreiber nun im Fall Chantal. Lange
behauptete er, dass es der Elfjährigen "noch kurz vor ihrem Tod körperlich
gut ging". Das war, so Schreiber jetzt, "ein Fehler". Nachdem immer mehr
Einzelheiten über die drogenabhängigen Pflegeeltern bekannt wurden, hatte
er dann die zuständige Leiterin des Jugendamtes suspendiert - ein
Bauernopfer.
Die Kür eines Nachfolgers ist für die SPD, die mit 25 von 51 Sitzen im
Bezirksparlament von der Tolerierung durch zwei Freidemokraten abhängig
ist, kein Selbstgänger. Die CDU versucht, zusammen mit FDP, Grünen, Piraten
und Linken eine All-Parteien-Koalition gegen Kahrs zu installieren. Sie
möchte in einer bundesweiten Ausschreibung nach einem "unabhängigen
Verwaltungsfachmann" suchen.
10 Feb 2012
## AUTOREN
Sven-Michael Veit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Konsequenzen aus dem Fall Chantal: Ärzte sollen Kinder schützen
In Hamburg sollen substituierte Eltern ihre Ärzte von der Schweigepflicht
entbinden, damit sie das Jugendamt informieren können. Es gibt aber keinen
Zwang.
FALL CHANTAL: Schuld auf Träger abgewälzt
Untersuchung bestätigt Hauptschuld des Jugendamtes am Methadon-Tod des
elfjährigen Pflegekindes aus Hamburg-Wilhelmsburg.
Sexuelle Kindesmisshandlung in Hamburg: Wenn die Jugendhilfe nicht hilft
Die Hamburger Jugendhilfe verschloss trotz Hinweisen offenbar seit zwei
Jahren die Augen vor einem Missbrauchsfall. Auch gegen eine FDP-Abgeordnete
wird ermittelt.
Zurückgetretener Bezirkschef Markus Schreiber: Der Ausscherer
Der Hamburger Ex-Bezirkschef Markus Schreiber (SPD) gilt als Hardliner. Er
stritt aber auch für Sozialprojekte und opponierte gegen den Senat. Der
Weggang des Querdenkers ist ein Machtgewinn für Olaf Scholz.
Kommentar SPD Hamburg: Gründlich durchlüften
Nach dem Abgang von Markus Schreiber ist der rechte Flügel geschwächt.
Parteichef und Bürgermeister Olaf Scholz muss diese Chance nutzen, in der
Partei aufzuräumen
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.