# taz.de -- Polens erste transsexuelle Abgeordnete: Ania im Schrank | |
> Schon als Kind spürte Anna, die damals noch Krzysztof hieß, dass sie | |
> anders war. Heute sitzt sie als Abgeordnete im polnischen Parlament. | |
Bild: Anna Grodzka während ihrer Vereidigung im polnischen Parlament, November… | |
WARSCHAU taz | Hier wollte sich Anna Grodzka verabreden: im Warschauer | |
Restaurant "Na Rozdrozu" (An der Kreuzung). Ein paar hundert Meter weiter | |
haben Polens Regierung und einige Ministerien ihren Sitz. Ein Szenetreff | |
ist das nicht gerade. Abends ist die Gegend wie ausgestorben. Als sie die | |
Tür öffnet, erstirbt mit einem Schlag das leise Gemurmel der wenigen Gäste. | |
Die Frau, die vor zwei Jahren noch ein Mann war und Krzysztof hieß, kennt | |
in Polen jeder. Grodzka ist die erste Transsexuelle im polnischen | |
Parlament. Alle starren sie an. Mit schwerem Schritt kommt die hünenhafte | |
57-Jährige näher. "Dobry wieczor", sagt sie mit sonorer Stimme, "guten | |
Abend". | |
Sie setzt sich mit dem Rücken zu den Gästen, bestellt einen Café Latte und | |
seufzt. "Wenn einen wirklich alle erkennen, ist das doch etwas nervig. | |
Manchmal wäre ich einfach gern nur unauffällig normal." Andererseits könne | |
man als bekannte Politikerin mehr bewirken. Sie stützt die Ellenbogen auf | |
den Tisch, faltet die mit mehreren Ringen geschmückten kräftigen Hände vor | |
ihrem Gesicht und lächelt: "Es ist schon okay so, wie es ist." Als ich das | |
Mikrofon aus der Tasche ziehe, strafft sie den Rücken: "Erst über mich, | |
dann über die politischen Ziele?", fragt sie. | |
Sie streicht die schulterlangen kastanienbraunen Haare zurück, holt tief | |
Atem und erzählt die Geschichte, die sie seit Monaten immer wieder erzählt. | |
"Dass ich irgendwie anders war, habe ich schon als Kind gemerkt", berichtet | |
sie. "Als Junge hat es mich immer zu den Mädchen gezogen. Ich wollte mit | |
Puppen spielen, bin in die hochhackigen Pumps meiner Mama gestiegen und | |
habe mich als Prinzessin verkleidet." Später, mit elf Jahren, richtete der | |
Junge ein Versteck im Schrankboden ein. Dort lagen alle Utensilien, die aus | |
Krzysztof Ania machen konnten. "Das war mein Heiligstes", schwärmt sie im | |
Rückblick. "Lippenstift, Wimperntusche und Rouge, eine Rüschenbluse, die | |
ich irgendwann einmal meiner Mutter abgetrotzt hatte. Und natürlich meine | |
heiß geliebte Stoffpuppe." Die Eltern versuchten der seltsamen | |
Mädchenhaftigkeit des Jungen mit Verständnis und Appellen an seine Vernunft | |
zu begegnen. "Du bist nun mal ein Junge", sagte die Mutter oft. "Geh zu den | |
anderen und spiel mit ihnen Fußball!" | |
Die Kellnerin kommt an den Tisch: "Darf ich den Damen noch etwas bringen?", | |
fragt sie übertrieben freundlich. Dabei tänzelt sie um Anna Grodzka herum, | |
als sei diese gerade mit einem Ufo gelandet. Die Politikerin winkt bestimmt | |
ab, "wir haben alles". Die anderen Gäste tuscheln. Gesprächsfetzen wie | |
"Geschlechtsumwandlung", "Was mag sie wiegen: ein Zentner?", | |
"Parteikarriere" oder "antiklerikal" dringen durch. | |
Lange habe sie selbst nicht verstanden, warum sie sich in ihrem Körper so | |
unwohl fühlte, warum sie als Junge wie ein Mädchen fühlte und als Mann wie | |
eine Frau. "Ich habe dann geheiratet", sagt sie und macht ein kurze Pause. | |
"Die Ania im Schrank habe ich getötet. Ich hatte mich entschieden, ein Mann | |
zu sein. Mit allem, was dazugehört." Lippenstift und Wimperntusche landeten | |
im Müll. Auch die einst so geliebte Stoffpuppe. | |
## "Entweder Ania oder ich!" | |
Das Paar bekam ein Kind. Doch damit geriet die Ehe in die erste Krise. Denn | |
obwohl auch Krzysztof so etwas wie Mutterliebe spürte, durfte er höchstens | |
mal mit dem kleinen Bartek spazieren gehen. Im Schrank entstand ein neues | |
Ania-Versteck. Als seine Frau es entdeckte, drohte sie mit Scheidung: | |
"Entweder Ania oder ich!" Grodzka senkt die Augen: "Ich hatte die Wahl | |
zwischen Liebe und Wahrheit. Ich liebte mein Frau, wollte die Beziehung | |
retten. Und so tötete ich Ania ein zweites Mal." Zwanzig Jahre hielt die | |
Ehe. Dann erkrankte der erfolgreiche Bauunternehmer an Nierenkrebs. Eine | |
Operation rettete ihm das Leben. | |
"Doch danach wurde Ania in mir immer stärker und klagte ihr Recht auf Leben | |
ein. Ich hatte keine Kraft mehr, sie auf Neue zu töten", sagt die | |
Abgeordnete. Krzysztof begann sich die Haare an Armen und Beinen zu | |
rasieren, ging zur Maniküre, kaufte Kosmetik und Kleider. Das Haupthaar | |
ließ er wachsen und band es zu einem Pferdeschwanz zusammen. "Meine Frau | |
hat das nicht verkraftet. Sie fühlte sich betrogen. Schließlich reichte sie | |
die Scheidung ein." Grodzka senkt den Kopf. "Das war der Tiefpunkt in | |
meinem Leben." Sie streicht über die hellrosa lackierten Fingernägel. | |
## Als Baby adoptiert | |
"Ich ging dann aufs Ganze: Geschlechtskorrektur mit Operation und | |
Namensänderung." Die zweijährige Therapie mit der Diagnose | |
"Transsexualität" hatte sie bereits hinter sich. Sie wusste, was sie tun | |
musste, um sich auch rechtlich in eine Frau zu verwandeln. "Doch als ich | |
dann meine Geburtsurkunde genauer betrachtete, stellte ich fest, dass sie | |
erst an meinem 18. Geburtstag ausgestellt worden war." Mir mehr als 50 | |
Jahren erfuhr Krzysztof B. auf diese Weise, dass er als Baby adoptiert | |
worden war. Die Adoptiveltern hatten ihm nie ein Wort gesagt. "Sie sind | |
tot, ich konnte sie nicht einmal mehr befragen." | |
Über einige Umwege fand er Namen und Adresse seiner leiblichen Mutter | |
heraus. Sie lebt in Südpolen. "Ich kaufte 19 rote Rosen, weil sie 19 war, | |
als sie mich zur Welt brachte, und fuhr hin." Im Auto vor dem Haus dachte | |
er, dass es vielleicht besser sei, vorher anzurufen, statt einfach so | |
hereinzuschneien. | |
"Sie freute sich, dass ich sie gefunden hatte, wollte aber nicht, dass ich | |
reinkam. Sie mache gerade Piroggen und sei vollkommen eingemehlt." Grodzka | |
lächelt. "Ich wollte sie nur kurz sehen und ihr die Blumen geben. | |
Schließlich meinte sie, ich solle warten. Sie komme ans Auto." Es dauerte | |
weit über eine Stunde. Schließlich kam sie zusammen mit ihrem Mann raus. | |
Sie hatte ihm das uneheliche Kind nie gebeichtet, das sie zur Adoption | |
freigegeben hatte. "Zur Begrüßung kamen Wodka und Speck auf den Tisch. Wir | |
feierten." | |
## Eine kastanienbraune Perücke | |
Grodzka winkt der Kellnerin: "Bitte noch einen Café Latte und ein Glas | |
Wasser!" Aus der Handtasche kramt sie eine kleine Puderdose, klappt den | |
Spiegel auf und überprüft, ob Frisur und Make-up noch sitzen. Einer | |
plastischen Operation hat sie sich nicht unterzogen. Das wird sie auch | |
nicht mehr. Sie hat Probleme mit dem Herzen und ist zuckerkrank. Zwar | |
konnten die Hormone, die sie seit Jahren einnimmt, den Bartwuchs stoppen. | |
Doch ihre Gesichtszüge werden männlich bleiben. Da ihr eigenes Haar bereits | |
schütter ist, trägt sie eine kastanienbraune Perücke mit schulterlangem | |
Haar und Pony. Die Politikerin packt die Puderdose wieder ein. | |
"Bei unserem ersten Treffen nahm mich meine Mutter zur Seite und sagte: | |
,Ich habe noch drei Töchter bekommen. Wie bin ich froh, dass ich nun einen | |
Sohn habe!" Krzysztof schluckte. Zwar war er als Mann und im eleganten | |
Anzug nach Südpolen gefahren, doch er nahm Hormone, die Brust-OP in | |
Thailand war gebucht. Wie sollte er das der über 70-jährigen Mutter und dem | |
Stiefvater sagen? "Ich hatte das ewige Versteckspielen satt." Zum Glück | |
verhaspelte sich irgendwann eine der Schwestern und erzählte der Mutter von | |
Krzysztofs Problem. "Heute ist alles im Lot", sagt Grodzka. "Meine Mutter | |
freut sich über eine vierte Tochter und sagt Ania zu mir." | |
## Überraschender Erfolg | |
"Natürlich will ich mich im Parlament vor allem für die Belange von | |
Transsexuellen einsetzen, aber auch für die Interessen von Minderheiten, | |
die sonst keine Stimme haben", erklärt sie. Die linksliberale und zugleich | |
antiklerikale "Palikot-Bewegung" sei genau die richtige Partei, um diese | |
Ziele durchzusetzen. Früher ist sie Mitglied im Bündnis der demokratischen | |
Linken (SLD) gewesen. Aber die Partei habe immer nur Versprechen gemacht, | |
sich später aber weder für sexuelle noch soziale Minderheiten stark | |
gemacht. | |
Viele von der SLD Enttäuschte sind dann fast geschlossen in die | |
Palikot-Bewegung eingetreten, bekamen gute Listenplätze und Unterstützung | |
im Wahlkampf. "Ehrlich gesagt, hatte ich gar nicht mit so einem großen | |
Erfolg gerechnet", bekennt Grodzka. Aber die Idee, fast ausschließlich auf | |
die Minderheiten zu setzen, sei voll aufgegangen. "Palikot ist auf Anhieb | |
drittstärkste Kraft geworden!" | |
## Kein Happy-End in Sicht | |
Ob sie glücklich sei? Für einen Moment scheint sie dies für eine ungehörige | |
Frage zu halten, fängt sich aber schnell und antwortet routiniert: "Ja, | |
natürlich. Alle akzeptieren mich als Frau, auch mein Sohn hält zu mir, | |
nennt mich heute nicht mehr Papa, sondern Ania." In der Politik gelte sie | |
als Shootingstar, seit sie in der konservativen Stadt Krakau fast 20.000 | |
Stimmen einsammeln konnte. "Das zeigt, wie rasant sich unsere Gesellschaft | |
verändert, immer offener und toleranter wird." Außerdem hat sie die | |
Stiftung Trans-Fuzja gegründet. Hier können sich Transsexuelle in Polen zum | |
ersten Mal offen austauschen und Rat bei Experten einholen. | |
Ein Happy-End sei allerdings noch nicht in Sicht. Sie steht auf, legt sich | |
den Mantel um die Schultern. "Die große Liebe - das war meine Frau. Und die | |
habe ich verloren." Sie schweigt: "Ich wusste das von Anfang an. Im Kampf | |
zwischen Liebe und Wahrheit habe ich mich lange für die Liebe entschieden. | |
Bis ich das ewige Versteckspielen nicht mehr aushielt." Sie sieht nach | |
draußen ins Schneetreiben, zurrt den Gürtel fest und sagt: "Wenn ich jetzt | |
nach Hause fahre, wartet dort niemand auf mich. Vielleicht gibt es ja | |
irgendwann eine zweite Liebe." | |
13 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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