# taz.de -- Landflucht: "Eine lautlose Katastrophe" | |
> Die Gemeinde Tiftlingerode im Harz hat alles getan, um für mehr Kinder zu | |
> sorgen. Die Einwohnerzahl ist dennoch gefallen. Nun hofft man auf Hilfe | |
> von oben. | |
Bild: Gerd Goebel versucht als Bürgermeister die Abwanderung aus Tiftlingerode… | |
taz: Herr Goebel, die Einwohnerzahl von Tiftlingerode liegt wieder unter | |
1.000 - ist der Versuch gescheitert, die Babyquote im Ort zu erhöhen? | |
Gerd Goebel: Nein, es ist ein großer Erfolg gewesen. Wir haben unsere | |
Grundschule auf zehn Jahre retten können. Die Schülerzahl lag schon unter | |
50 und wir haben durch diese Aktion die Schülerquote auf 95 heraufsetzen | |
können. | |
Aber die magischen 1.000 Einwohner hat Ihre Gemeinde jetzt wieder | |
unterschritten. | |
Das stimmt. Aber wir hatten eine super Resonanz weltweit, das koreanische | |
Fernsehen war da, eine argentinische Zeitung, sogar auf der Insel Djerba | |
wurde darüber berichtet, wie wir versucht haben, auf die demografische | |
Entwicklung hinzuweisen. Wir haben in kurzer Zeit 35 junge Familien | |
ansiedeln können. | |
Warum sinkt die Einwohnerzahl trotzdem? | |
Weil wir keine Arbeitsplätze haben und weil junge Leute nach dem Abitur in | |
Hamburg, Hannover oder München studieren. Dann haben sie eine tolle | |
Ausbildung und kommen nicht wieder. | |
Manche Forscher bezweifeln, dass Politik einen maßgeblichen Einfluss auf | |
Familienplanung hat. | |
Man muss das anders sehen. In Tiftlingerode haben wir ein super Umfeld: Die | |
Kinder werden in Krabbelgruppen betreut, sie lernen schon mit fünf Jahren | |
Tennisspielen, es gibt Fußball, Tischtennis, Kultureinrichtungen. Es hat | |
jahrelang Ferienfreizeiten gegeben, Schnuppernachmittage bei der Feuerwehr. | |
Aber so etwas kann man dauerhaft nur aufrechterhalten, wenn man es | |
professionell macht, und wir leisten unsere Arbeit ehrenamtlich. | |
Sie selbst haben zweimal pro Monat Ihre Dienste als Babysitter angeboten. | |
Ich bin gelegentlich zum Einsatz gekommen, aber relativ wenig. Die meisten | |
Familien haben das selbst organisiert und wir haben mehrere junge Damen, | |
die das gegen eine kleine Gebühr gemacht haben. | |
Eigentlich heißt es, dass - wenn überhaupt - verlässliche | |
Betreuungsangebote familienförderlich sind. | |
Die gibt es ja. In der Schule werden die Kinder auch nachmittags betreut, | |
einen Hort gibt es einen Kilometer weiter in Duderstadt. Und für den | |
Kindergarten werden die Kinder morgens früh von einem Bus vor der Haustür | |
abgeholt und nachmittags wieder nach Hause gebracht. Aber junge Leute | |
finden hier keinen Job, und wenn sie in andere Städte gehen, gründen sie | |
dort ihre Familien. Das ist nicht nur hier so. Im Harzvorland haben Dörfer | |
schon die Hälfte ihrer Einwohner verloren. Die Geburtenrate ist im | |
Landkreis seit den 70er-Jahren um die Hälfte gesunken. | |
Hat die Aufbruchsstimmung Tiftlingerode wieder verlassen? | |
So kann man es nicht sagen. Die Aufbruchsstimmung hält noch an, aber wir | |
bräuchten jetzt eine neue Aufbruchsstimmung, wir bräuchten jetzt richtige | |
Unterstützung von Behörden und der Landesregierung, damit wir Arbeitsplätze | |
bekommen. | |
Haben Sie selbst Ideen? | |
Wir sind ja in der Nähe von Göttingen, da gibt es Arbeitsplätze, aber nicht | |
genügend. Wenn von einem Abiturjahrgang von 120 am Ende 110 weg sind, | |
merken Sie das über die Jahre. Das ist eine Spirale, die weh tut. | |
Waren die ganzen Anstrengungen um Geburten umsonst, wenn es eigentlich an | |
den Arbeitsplätzen hängt? | |
Nein. Wir haben jetzt den niedersächsischen Ministerpräsidenten, David | |
McAllister, eingeladen, der am 13. April zu uns kommt. Alle großen | |
Parteien, SPD, CDU, auch die Grünen haben wenig Verständnis für die | |
Situation, wir haben eine lautlose Katastrophe auf dem flachen Land, wenn | |
Dörfer sterben, wenn die Natur nicht mehr gepflegt werden kann. | |
Tiftlingerode ist ein Ort, der sich gegen diese Entwicklung stemmt. Und wir | |
hoffen auf Hilfe von oben. | |
Haben Sie konkrete Vorstellungen? | |
Wir möchten, dass Behörden nicht nur in den Ballungszentren sitzen, sondern | |
auch in kleine Städte versetzt werden, um dort Arbeitsplätze zu schaffen. | |
Dass Forschungsmittel nicht nur in die Universitätsstädte gegeben werden, | |
sondern dass auch auf dem flachen Land geforscht werden kann. Die | |
Universitäten könnten hier, wo Grund und Boden günstig ist, Außenstellen | |
einrichten. Sie bekommen hier einen erschlossenen Quadratmeter für 40 Euro, | |
in Hamburg zahlen Sie 800. | |
Stehen Sie im Austausch mit anderen Kommunen mit ähnlichen Problemen? | |
Viele Leute aus dem Harzvorland kommen zu uns und bitten um Ratschläge, wie | |
wir das Problem gelöst haben. Es gab verschiedene Treffen und wir haben | |
vermittelt, dass man die weichen Faktoren wie Kinderbetreuung fördern muss. | |
Unsere Kommune ist durch die Aktion gestärkt worden. | |
Aber letzten Endes haben Sie auch keine Antworten. | |
Wir haben wenig Antworten. Außer: Macht etwas für die Kinder. Aber die | |
anderen haben auch keine Arbeitsplätze. | |
13 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |