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# taz.de -- Nachwuchs-Genossenschaft in Leipzig: Das Gegenteil von eigentlich
> Junge Postakademiker vereinen neue Formen von Kino, Galerie und Café
> unter einem Dach. Die Genossenschaft "Neue Eigentlichkeit" scheut weder
> Basisdemokratie noch Banker.
Bild: Willkommen im neuen Kulturraum: Einheimische, Touristen und Genossen.
Was ist das Gegenteil von "eigentlich"? Die "Neue Eigentlichkeit" natürlich
- so sieht es zumindest Christian Geyler, einer jener jungen Gründungsväter
und Mütter der gleichnamigen Genossenschaft, die der Innenstadt von Leipzig
ein neues Kulturzentrum bescheren wollen. "Leipzig war eine der wichtigsten
Handelsstädte Europas, und jetzt sind hier im Zentrum nur noch
Schuhgeschäfte", erklärt Vorstandsmitglied Geyler.
Wir laufen durch die aufgehübschte Altstadt, sie ist der Ausdruck von
Leipzigs Bürgerstolz, auch Geyler nennt sich einen "Lokalpatrioten". Die
GründerInnen der neuen Genossenschaft, es sind junge Postakademiker um Ende
zwanzig. Und so leidenschaftlich, dass sie zu aller Sachlichkeit bereit
sind. Ihr Kulturzentrum soll Wirklichkeit werden, tatsächlich, nicht
eigentlich.
Am Friedrich-List-Platz wird ihre Idee nun "in Kalkstein geformt". Zwei
Kinosäle, eine Galerie und im Herzen das Café. So viel Fantasie braucht man
nicht mehr, um sich die spätere Atmosphäre vorstellen zu können.
Dennoch ist hier, im Keller eines der ältesten Leipziger Passagenhäuser, im
Moment nur eine feuchtkalte Großbaustelle zu sehen - Genosse Philipp Heino,
zuständig für die AG Plan & Bau, zerbricht sich gerade den Kopf über den
Einbau der Lüftungsanlage, 50.000 Euro kostet der Spaß, und das Geld haben
Sie noch nicht zusammen; so intensiv wie gerade jetzt war die Werbung um
neue Genossen noch nie - aber: Die Hälfte, 25.000 Euro, sind schon da. Der
Rest muss in spätestens eineinhalb Monaten auf dem Konto sein. Die ersten
Veranstaltungen sind trotzdem schon geplant. Ein "Testbetrieb", im Rohbau.
Das Provisorische macht den Jungprofis von der Neuen Eigentlichkeit keine
Angst, schließlich hatte 2004 so alles begonnen: mit dem "DachKino" am
Rande der Leipziger Südvorstadt, studentisch-alternativ. Kurzfilme wurden
dort gezeigt, "wir hatten halt Lust, Filme zu sehen und Bier zu trinken",
erinnern sich Geyler und Heino. Doch im Jahr 2008 wurde aus "jugendlichem
Leichtsinn" Ernst.
Aus der Erfahrung, dass es zwar sehr viele gute Kurzfilme gibt, diese aber
den Weg in den Verleih nicht finden und allzu häufig überhaupt niemals
einem Publikum zugänglich werden, entstand das künstlerische Konzept der
Neuen Eigentlichkeit. Unter einem thematischen Schwerpunkt, zum Beispiel
"Tahrirplatz", werden mehrere Kurzfilme und Beiträge kombiniert: "Wir
gestalten so einen ganzen Abend - die Kurzfilme werden in der Bündelung
emotionsscharf wie ein Spielfilm. Und sogar rezensionsfähig", erklärt
Geyler.
## Prinzip des demokratischen Kuratierens
Alle waren sich einig, "etwas Großes" sollte es werden, in der Innenstadt.
Und auch nicht einfach nur ein neues Programmkino - eine Galerie ergänzt
das Konzept, Vorstandsmitglied Almut Wiedenmann, gelernte
Kunsthistorikerin, wird für sie als Ressortleiterin verantwortlich sein:
"Wie bei den Kinoveranstaltungen auch gilt bei der Galerie das Prinzip des
demokratischen Kuratierens; die Genossen können mitreden, zu jeder
Ausstellung gibt es eine Ausschreibung", erklärt sie.
Die Genossen: Zurzeit sind es bereits 70; schon 40.000 Euro Kapital sind
zusammengekommen. Die benötigte Investitionssumme beträgt jedoch 140.000
Euro. Und nun? "Entstaffelung" heißt das Stichwort, die MacherInnen der
Neuen Eigentlichkeit haben sich kundig gemacht und bekommen professionellen
Rat von Unterstützern wie der Volksbank und Leipziger Unternehmen.
Die Filmförderungsanstalt Berlin gibt im Rahmen der Förderung des Kurzfilms
ein Drittel dazu - von der Stadt gibt es nichts: "Dort denkt man: Wer in
die Innenstadt geht, hat ja Geld. Und überhaupt ist es ganz schön verrückt:
Für die Stadt sind wir linke Spinner, für die alternative Szene
Kapitalisten", sagt Geyler lachend.
"Genosse" - dieser Begriff weckt im Osten Deutschlands bei manchen
BürgerInnen ungute Assoziationen, doch im Zuge der Finanzkrise etabliert
sich allmählich ein neues Bewusstsein, von dem die Neue Eigentlichkeit
profitiert. Bürgerschaftliches Engagement hat in Leipzig eine lange
Tradition - bedingt durch die Mangelwirtschaft auch zu Zeiten der DDR.
Längerfristig sollen es also mindestens 300 Genossen werden, das
Eigenkapital soll eine Höhe von 160.000 Euro erreichen.
## Nix Milchkaffee
Aber worum geht es den jungen Genossen eigentlich? Es geht nicht um
Arbeitsplatzbeschaffung - gerade mal drei Stellen werden maximal entstehen
- und auch nicht um Geld. "Ich gönne mir was", sagt Almut Wiedemann, "in
meinem Brotberuf verdiene ich Geld, und hier kann ich mich verwirklichen.
Das ganze Projekt kann nur mithilfe von ehrenamtlichen Mitarbeitern
funktionieren - und es gibt genug Menschen, die das Bedürfnis haben, neben
ihrer Tätigkeit im Callcenter etwas Sinnvolles zu tun."
Philipp Heino ergänzt: "Von unserer Generation hieß es immer, dass sie nur
mit Umhängetaschen herumsitzt, Milchkaffee trinkt in Bars, die eigentlich
aussehen wie Wohnzimmer, und darüber nachdenkt, was man eigentlich machen
könnte. Wir hatten uns in diesen Zuschreibungen durchaus wiedererkannt -
und wollten etwas Konkretes schaffen, das unsere Biografie beeinflusst. So
ist die Neue Eigentlichkeit entstanden."
Ein Wohnzimmer wird es nun aber doch - für die Genossen und Freunde der
Neuen Eigentlichkeit solle das Projekt am Friedrich-List-Platz ein Zuhause
in der Innenstadt werden, die so manchem Leipziger etwas fremd geworden
ist: "Es gibt natürlich längst einen Hype um Kulturflächen, Stichwort Neo
Rauch. Die Alte Baumwollspinnerei - kennt jeder.
Aber in der Innenstadt ist nichts", sagt Geyler. Eine Bar ist daher
unverzichtbar, hochwertige Produkte aus der Region sollen angeboten werden.
Die Neue Eigentlichkeit, unweit des als Touri-Falle verschrienen
Barfußgässchens, wird mit einem Hostel im selben Haus sein. Willkommen
sollen alle sein: Einheimische, Touristen und Genossen. Ganz konkret.
19 Feb 2012
## AUTOREN
Martin Reichert
## TAGS
tazlab 2012: „Das gute Leben“
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