# taz.de -- Buch und Symposium zu Religion in Städten: Wer sät, wird ernten | |
> Spiritualität, Selbstorganisation und Erlösung: Das Projekt "Urban | |
> Prayers" widmet sich religiösen Bewegungen in den Städten Afrikas, Asiens | |
> und Lateinamerikas. | |
Bild: Für die Erlösung des Unglücks in der Armut beten. | |
Auf der Schnellstraße von Lagos nach Ibadan kommt es vermehrt zu | |
Verkehrsunfällen. Evangelikale Kirchen haben entlang der Route religiöse | |
Zentren errichtet. Sie ziehen in Massen Menschen an, die gerettet und | |
geheilt werden wollen. Der größte dieser sakralen Orte ist das Redemption | |
Camp der Redeemed Christian Church of God. Sein Auditorium umfasst zwei | |
Quadratkilometer Grundfläche. | |
Das Camp selbst ist zu einer Stadt angewachsen, die sich als gottgefälliger | |
Gegenentwurf zum 20-Millionen-Einwohner-Moloch Lagos versteht, in dem | |
Korruption, Armut, Rechtlosigkeit und Gewalt, kurz apokalyptische Zustände | |
herrschen, wie Asonzeh Ukah in seinem Beitrag in "Urban Prayers" schreibt. | |
Der Sammelband, der vom Verein metroZones herausgegeben wurde, unternimmt | |
eine kursorische Bestandsaufnahme der "neuen religiösen Bewegungen in der | |
globalen Stadt". Die an Aktivismus wie an Theorie gleichermaßen | |
interessierte Urbanistik der metroZones-Gruppe hat sich eine Warnung des | |
Soziologen Peter L. Berger zu Herzen genommen: "Wer auch immer die Religion | |
in seinen Analysen der gegenwärtigen Herausforderungen missachtet, tut dies | |
unter großem Risiko." | |
Arroganz gegenüber den vielfältigen religiösen Bewegungen in den | |
Megastädten der Welt ist nicht angebracht. Am Beispiel von | |
Basisorganisationen in informellen Siedlungen in Südafrika und Kenia zeigt | |
Klaus Teschner, dass sich Spiritualität, Selbstorganisation und der Kampf | |
für soziale Gerechtigkeit keineswegs ausschließen, sondern sich häufig | |
bedingen oder zumindest befruchten. | |
Max Webers These vom Verschwinden der Religion als Folge der Modernisierung | |
erweist sich im "globalen Süden", und nicht nur dort, als unzutreffend. Die | |
Marginalisierten sind weder apathisch, noch ist die Religion ihr Opium. | |
## Ersatz für den Staat | |
Das soziale Engagement religiöser Organisationen ist deswegen nicht per se | |
unproblematisch. Sie springen ein, wo der Staat seinen Aufgaben nicht | |
nachkommt. Für die Bedürftigen bedeutet das aber, sich als Teil der | |
jeweiligen Religionsgemeinschaft definieren zu müssen, um in den Genuss | |
sozialer Leistungen zu kommen. | |
In Beirut etwa kontrollieren Hisbollah und die maronitische Kirche die | |
jeweiligen Wohnungsmärkte ihrer Communitys. Yasmeen Arif beschreibt, dass | |
in den so segregierten Vierteln der Pluralismus der Traditionen, Religionen | |
und Lebensstile zurückgedrängt wird. | |
Dass die Angebote der Religion oft darin bestehen, eine Minderung von | |
Leidensdruck durch individuelle Strategien zu erreichen, zeigt Patricia | |
Birman in ihrer faszinierenden Analyse pfingstkirchlicher Expansion in den | |
Favelas von Rio de Janeiro, deren Bevölkerung vom organisierten | |
Drogenhandel und der brutalen Repression durch Sonderkommandos der Polizei | |
gleichermaßen bedroht ist. | |
Die theologischen Angebote der Kirchen erfüllen die Bedürfnisse der Mütter, | |
die ihre Söhne vor der Sünde und ganz praktisch vor dem Tod zu retten | |
versuchen. Wenn Letztere aber zu Partys gehen, um zum Baile Funk zu tanzen, | |
begeben sie sich in eine Welt, die von den Drogenkartellen kontrolliert und | |
von pfingstlerischen Priestern segnend am Mikrofon begleitet wird. | |
## Arrangiert mit den Verhältnissen | |
In Nigeria hat sich die Redeemed Christian Church of God nicht minder | |
erfolgreich mit den Verhältnissen arrangiert. Sie ist reich und verfügt | |
über enge Kontakte zu Politik und Wirtschaft Nigerias. Oberhaupt Enoch | |
Adejare Adeboye liefert den prosperitätstheologischen Überbau dazu. | |
Daddy, so nennt Adeboye seinen Gott, mache die Menschen nicht arm: "Wenn | |
die Menschen arm sind, dann liegt das an ihrer eigenen Einstellung | |
bestimmten Grundsätzen gegenüber. Du säst, du erntest. Säst du nicht, | |
erntest du nicht. Jeder, der sät, wird auch ernten, ganz gleich, ob er | |
Christ ist oder nicht." | |
Pointierter könnte Adeboye das Klischee nicht bestätigen, demzufolge die | |
Expansion evangelikaler Kirchen darauf beruht, die herrschende | |
"neoliberale" Erfolgsideologie individuellen Unternehmertums in die Sprache | |
des Heiligen zu übersetzen, also die deregulierte Herrschaft der | |
Partikularinteressen zu rechtfertigen. Das ist zwar so, aber eben nicht | |
alles, meint dazu Enrique Dussel, maßgeblicher Denker der | |
Befreiungstheologie. | |
## Erlösung aus dem Unglück in der Armut | |
Das Versprechen der Evangelikalen, die "Glück inmitten dieser furchtbaren | |
Zivilisationskrise" in Aussicht stellten, "ohne die Strukturen | |
grundsätzlich zu ändern", sei höchst problematisch, sagt Dussel. Indem | |
diese Gruppen die Leute "aus dem Unglück in der Armut" erlösen wollten, | |
kämen sie der Verpflichtung eines authentischen Christentums aber sehr | |
nahe. Immerhin habe ein Protestant, der Presbyterianer Rubem Alves, Ende | |
der Sechziger die Befreiungstheologie mitbegründet. | |
Diese wiederum sei mit der linken Wende in Lateinamerika seit Ende der | |
Neunziger zu einer "historischen Tatsache" geworden. Religion führt zu | |
vermehrten Verkehrsunfällen, sie ist aber auch ein Modus der Teilhabe am | |
Sozialen und ein Motor der Umgestaltung der Welt: "Den Verstoß gegen das | |
Gesetz als Ausgangspunkt zu nehmen", sagt Dussel, "das ist die Theologie | |
der Befreiung." | |
23 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
Ulrich Gutmair | |
## TAGS | |
Nachruf | |
Kirchentag 2023 | |
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