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# taz.de -- Resümee der Oscar-Verleihung: Es war so schön nostalgisch
> Preise für Filme, die zurückblicken, und eine Hommage ans Autorenkino:
> Was die diesjährige Oscar-Verleihung über Hollywood und seine Bedeutung
> in der Welt aussagt.
Bild: Bühnenbild mit Retroflair: Ein Riesenoscar unterm roten Vorhang.
Eine Lektion in Filmgeschichte ist nicht unbedingt das, was man in einer
Dankesrede für einen Oscar erwarten würde. Doch der französische Star Jean
Dujardin, der in der Nacht auf Montag einen Oscar für die beste Hauptrolle
in dem Stummfilm "The Artist" in Empfang nehmen konnte, wollte sich einen
kleinen historischen Exkurs nicht verkneifen.
Er verwies auf das Jahr 1929, in dem die Oscars zum ersten Mal vergeben
wurden, in einer Zeremonie, die gerade einmal eine Viertelstunden lang war,
und die von einem Mann moderiert wurde, der als sein großes Vorbild gilt:
Douglas Fairbanks jr., Held zahlreicher Fecht- und Schmacht-Epen.
Die Erinnerung daran war durchaus passend in diesem Jahr, in dem der Oscar
zum 84. Mal vergeben wurde. Konkret bedeutet das, dass bald niemand mehr
sich persönlich an dieses Jahr 1929 erinnern können wird, in dem eine der
großen Erfolgsgeschichten der Unterhaltungsindustrie begann. Christopher
Plummer, in diesem Jahr als bester Nebendarsteller (in dem Drama
"Beginners" von Mike Mills) ausgezeichnet, brachte dies auf den Punkt,
indem er auf sein eigenes Alter verwies: Mit 82 ist er "zwei Jahre jünger"
als der Oscar. Für ihn persönlich also höchste Zeit, einen zu gewinnen.
Die Feinheiten der Chronologie sind deswegen von besonderem Interesse, weil
eine besondere Form von Nostalgie der wichtigste Generalnenner bei der
diesjährigen Verleihung der Academy Awards war: Elf der Auszeichnungen
gingen an Filme, die sich mit einer verklärten (Kino-)Vergangenheit
beschäftigen. Je fünf Mal wurden "The Artist" von Michel Hazanavicius und
"Hugo" von Martin Scorsese aufgerufen, den Preis für das beste
Originaldrehbuch gewann Woody Allen für "Midnight in Paris", eine
Liebeserklärung an die idealisierte Vergangenheit der französischen
Hauptstadt.
Zwischen "The Artist" und "Hugo" gab es aber ein bezeichnendes
Missverhältnis: der eine gewann die zentralen Kategorien bester Film, beste
Regie, bester Hauptdarsteller, dazu Musik und Kostümdesign; der andere
setzte sich ausschließlich in technischen Belangen durch (Kamera, Ton,
Tonschnitt, Szenenbild, Spezialeffekte).
Dahinter lässt sich ein bezeichnendes Schema erkennen, das viel über den
gegenwärtigen Status des amerikanischen Kinos erkennen lässt. Denn "The
Artist" hält Hollywood im Grunde den Spiegel seiner großen Zeit Mitte des
20. Jahrhunderts vor, während "Hugo" (in Deutschland läuft der Film unter
"Hugo Cabret") zugleich nach weit hinten und nach weit vorn schaut, in die
Zeit des französischen Filmpioniers Méliès und in die Ära künftiger
3-D-Spektakel. Man könnte auch sagen: "The Artist" überzeugt mit einer
genial-einfachen Idee von Kino, während "Hugo" den ganzen
Blockbusteraufwand betreibt.
## Öffentliche Mythenbildung
Als globales Medienereignis betreiben die Oscars schon seit vielen Jahren
öffentliche Mythenbildung. Der eine Mythos, der bisher unangefochten
schien, war die weltweite Dominanz des amerikanischen Kinos. Wer auch immer
in einem Winkel der Welt eine wirklich gute Idee für einen Film hat, wird
irgendwann in Los Angeles über den roten Teppich schreiten und bei den
Oscars auf die endgültige Anerkennung hoffen.
Dieses Versprechen wurde auch in diesem Jahr wieder eingelöst, als es Jean
Dujardin entfuhr: "Ich liebe dieses Land." Nichts dürfte dem amerikanischen
Publikum mehr Freude bereitet haben als dieser spontane Ausruf, der noch
einmal die alten Machtverhältnisse im Kino bestätigt. Dabei ist der
weltweite Erfolg von "The Artist" eigentlich ein Indiz dafür, dass die USA
ihre Alleinstellung verloren hat: Heutzutage kann man überall einen
Hollywood-Film machen.
Das Besondere an Michel Hazanavicius, Regisseur von "The Artist", ist, dass
er beim Stichwort Traumfabrik nicht an Steven Spielberg denkt oder an
George Lucas, sondern an Billy Wilder, den österreichisch-deutschen
jüdischen Exilanten, der mit "Boulevard der Dämmerung" eines der
klassischen Vorbilder für "The Artist" gemacht hat.
## Witz und Tragik menschlicher Existenz
Der Name Billy Wilder, den Hazanavicius emphatisch in die Menge rief, ist
ebenfalls eine filmhistorische Lektion. Er verweist auf eine Form des
Geschichtenerzählens, die ohne Spezialeffekte auskam, und bei der alles auf
den Witz und die Tragik menschlicher Existenz hinausläuft. Dass dieses
Potenzial in Hollywood nach wie vor wirksam ist, dafür sind die Oscars eine
jährliche Rückversicherung.
Denn hier rücken Figuren wie Meryl Streep wieder ins Zentrum, die für ihre
Darstellung der "Eisernen Lady" Margaret Thatcher einen Oscar bekam (ihren
insgesamt dritten!). Und hier kann die bis vor einem Jahr noch weitgehend
unbekannte afroamerikanische Darstellerin Octavia Spencer ein euphorisches
"Ich danke dir, Welt!" in das vormalige Kodak Theater rufen.
Dass Spencer in dem Rassismusdrama "The Help" nur als Nebenrolle geführt
wird, ist zwar ein Indiz für die nach wie vor latent rassistischen
Starkriterien in Hollywood – darüber wollte an einem Abend, an dem
"Millionäre einander goldenen Statuen überreichen" (so Moderator Billy
Crystal scharfzüngig) aber niemand mäkeln.
Den beeindruckendsten Moment erreichte die diesjährige Preisverleihung, als
es um den besten nicht-englischsprachigen Film ging. Hier wurde von Beginn
an der iranische Beitrag "Nader und Simin – eine Trennung" von Asghar
Farhadi favorisiert, auch wenn diese Geschichte einer Familie, die an den
gesellschaftlichen Verhältnissen im Gottesstaat zerbricht, das ziemlich
genaue Gegenteil von Hollywood darstellt.
Regisseur Farhadi, der 2011 für den Film schon einen Goldenen Bären gewann,
nutzte seinen Auftritt vor dem größtmöglichen Publikum zu einer souveränen
Differenzierung. Er berief sich auf die jahrtausendealte persische
Hochkultur, deren Verdienste neben den aktuellen politischen Problemen
zwischen dem Iran und dem Westen nicht vergessen werden sollten. Er konnte
sich umso ehrlicher als über diesen Dingen stehend präsentieren, als sein
Film eine dezidierte Parteinahme für das iranische Volk ist, mit allen
seinen sozialen und religiösen Problemen.
## Ohne falsche Kompromisse
Das Regime in Teheran wird den Erfolg von Farhadi nicht für sich
reklamieren können, es wird ihn aber auch nicht ignorieren dürfen, und so
bildet dieser Moment die vielleicht wichtigste filmhistorische Lektion an
diesem Abend. Denn "Nader und Simin" zeigt, dass eine beliebige Geschichte
aus einem Land dieser Welt allgemeine Relevanz gewinnen kann, wenn sie nur
ohne falsche Kompromisse und ohne schales Kalkül erzählt wird.
Nie sind die Oscars deutlicher auf ein globales Alternativmodell zugelassen
als in diesem Moment, in dem im Grunde das internationale Festival- und
Autorenkino seinen großen Auftritt bei der Konkurrenz hatte. Daran werden
die künftigen Oscar-Zeremonien zu messen sein. 2012 aber wird man als das
Jahr in Erinnerung behalten, im dem die künstlerische Freiheit triumphiert
hat.
27 Feb 2012
## AUTOREN
Bert Rebhandl
## TAGS
Kino
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