# taz.de -- Debatte Wahlen in Russland: Der geplünderte Staat | |
> Eine neue Generation der Zivilgesellschaft ist Russlands letzte Hoffnung. | |
> Doch der Kreml ist mächtig – und das Vorbild Europa schwach. | |
Bild: Protest mit Putin-Kondomplakat: Wird er zurückschlagen? | |
Denke ich an Russland, fällt mir Europa ein. In der Krise des Finanzsystems | |
trat auch jene der europäischen Demokratie und der Glaubwürdigkeit ihrer | |
Werte zutage. In Griechenland ist der Staat von Klans und ihren Klientelen | |
privatisiert. Korrupt, ohne funktionierenden Rechtsstaat und lebendige | |
Zivilgesellschaft sind auch manch andere EU-Mitglieder und -Anwärter. Und | |
in Ungarn ist eine per Zweidrittelmehrheit legitimierte Art des Putinismus | |
entstanden. | |
Wer einen Victor Orban als EU-Präsidenten gewähren ließ, soll über die | |
Wertegemeinschaft schweigen. Die Zerfallsprozesse in Europa schärfen | |
allerdings auch den Blick auf die Systemkrise in Russland. Dort hat der | |
Missbrauch von Institutionen unter Wladimir Putin den Höhepunkt erreicht. | |
Russland ist ein geplünderter Staat. Im internationalen Vergleich rangiert | |
das Land bei Verbrechen und Korruption zwischen Venezuela und Nigeria. Die | |
Mordrate ist 40-mal höher als in der EU. Der aus den Geheimdiensten | |
kommende „neue Adel“ hat den öffentlichen Besitz unter sich aufgeteilt und | |
die Oligarchen an die Kandare genommen. | |
Gerichte, Polizei, Straflager, Hochschulen, jede Amtsstube dienen einer | |
Minderheit dazu, sich zu bereichern. Wer sich als Geschäftsmann gegen eine | |
feindliche Übernahme wehrt, wird mithilfe von Staatsanwälten und Gerichten | |
hinter Gitter gebracht, besonders oft in der Provinz. Verbrechen werden | |
nicht aufgeklärt oder Unschuldigen in die Schuhe geschoben. Auf dem flachen | |
Land herrschen bisweilen Zustände, die an die Rechtlosigkeit der „Zeit der | |
Wirren“ im 17. Jahrhundert erinnern. | |
## Neuer Versuch der Neugründung | |
In Russland steht deshalb heute nicht weniger auf der Tagesordnung als eine | |
Neugründung des gesamten Gemeinwesens, eine Neugründung, die nach dem Ende | |
der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre misslungen war. | |
Die letzte Hoffnung vieler richtet sich dabei auf eine neue Generation der | |
russischen Zivilgesellschaft. Der Jurist und Blogger Alexej Navalny zum | |
Beispiel kämpft gegen Korruption. Sein Portal „Russland zersägen“ ist ein | |
Wikileaks der staatlichen Schattenwirtschaft. Mit der Bezeichnung der | |
Kremlpartei Einiges Russland als „Partei der Diebe und Ganoven“ hat er die | |
Handlanger Putins dem Volksspott preisgegeben. | |
Navalny, der sich auch nationalistischer Rhetorik bedient, ist ein | |
Charismatiker – im Internet wurde er zum Präsidenten gewählt. Jewgenija | |
Tschirikowa kämpfte gegen die Vernichtung des Naturschutzgebiets | |
Chimki-Wald, die Putins Freunden einen lukrativen Autobahnbau ermöglichen | |
soll. Die Journalistin Olga Romanowa, einst Millionärin, gründete die | |
Vereinigung „Russland, das sitzt“. Ihr Ehemann wurde von einem mächtigen | |
Geschäftspartner ins Gefängnis gesteckt, der es auf Romanows Firmenanteil | |
abgesehen hatte. Seine Frau kämpft nun gegen Justizwillkür und für die | |
Freilassung unrechtmäßig verurteilter Geschäftsleute. | |
Jewgenij Rojsmans Stiftung „Russland ohne Drogen“ engagiert sich gegen das | |
Kartell aus organisierter Kriminalität und Polizei, das in seiner Stadt | |
Jekaterinburg Drogenhandel betreibt. Sergej Udalzow, ein linksradikaler | |
Oppositioneller, der Vorsitzender der Partei Rotfront ist, wurde unzählige | |
Male festgenommen, hat einen Hungerstreik hinter sich und wird als | |
Nachfolger von KP-Chef Gennadij Sjuganow gehandelt. | |
## Persönliche Integrität für den Aufbruch | |
Navalny, Tschirikowa, Romanowa, Rojsman, Udalzow – das sind Namen und | |
Gesichter des neuen Aufbruchs. Ihr wichtigstes Kapital sind transparentes | |
Handeln und ihre persönliche Integrität. Selbst noch im äußeren | |
Erscheinungsbild verkörpern sie das Gegenteil jenes Glamours und | |
Playboy-Draufgängertums der alternden Oppositionellen aus den 1990er | |
Jahren. Auch ihnen misstraut die junge Generation. | |
Vor allem aber demonstrieren die „neuen Menschen“ dem Kandidaten Putin, | |
dass seine Zeit abgelaufen ist. Wenn der Kandidat auf einer Wahlkundgebung | |
die Rhetorik von Navalny nachzuahmen suchte, zeigt das die Verunsicherung | |
des Kremls. Allerdings verfügen der Kreml und die Profiteure des Systems | |
über ein gewaltiges Mobilisierungspotenzial: Geheimdienste, Militärs und | |
hörige Medien. | |
Dieselben Politiker, die Offshorekonten und Villen im Ausland besitzen, | |
denunzieren die Opposition in Russland als Handlanger der USA. Putin zieht | |
durch das Land, hetzt Arbeiter gegen die „Verräter“ auf, schürt Hass und | |
macht ungedeckte Versprechen. Seine aggressive Wahlkampagne wird von der | |
bewährten Methoder der Zersetzung von Opposition und Bürgeraktivisten | |
begleitet: Da tauchen Pornovideos und gefälschte E-Mails auf, werden | |
Familienmitglieder eingeschüchtert und Konten gesperrt – wie zuletzt bei | |
der kritischen Zeitung Nowaja Gaseta. | |
Ob Putin bereits im ersten Wahlgang am Sonntag gewinnt oder nicht – das | |
Land scheint in eine politische Krise, in Instabilität zu gleiten. Lässt | |
sich der Kreml angesichts der eigenen Schwäche und der unkontrollierbaren | |
Zerfallsprozesse im Lande auf die Opposition ein? Oder wird er | |
zurückschlagen? Ist ein friedlicher Wandel des kleptokratischen | |
Willkürsystems möglich – oder blüht dem Land vorübergehend der | |
Polizeistaat? | |
## Die Demokraten verlassen das Land | |
Denke ich an Europa, scheinen die Voraussetzungen für einen Neuanfang in | |
Russland heute schlechter zu sein als vor dem Kollaps des Sowjetsystems. | |
Während der Diktatur mussten Gegeneliten dem repressiven Druck des | |
autoritären Staates trotzen. Heute wollen selbst die Standhaftesten die | |
Zukunft ihre Kinder nicht in einen aussichtslosen Kampf schicken. | |
Der mobile, demokratisch orientierte Nachwuchs verlässt das Land, die | |
Abwanderung schwächt den oppositionellen Druck auf das System. Die Macht | |
wird immer zynischer, korrupter und nationalistischer. Dann schlägt in | |
einem ausgebluteten, um seine Besten gebrachten Staat die Stunde jener, die | |
nichts zu verlieren haben: der Nationalisten, Altkommunisten, Kriminellen. | |
Die Krise der europäischen Demokratie wirft eine Frage auf: Wenn Europa es | |
nicht schafft, über seinen Schatten zu springen, warum sollte es dann | |
ausgerechnet Russland gelingen? | |
2 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Sonja Margolina | |
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